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Zentralasien bewahrt angesichts der Machtübernahme der Taliban die Ruhe

Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan sehen sich nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan mit einer neuen Realität konfrontiert. Das neue afghanische Regime hat seinen Nachbarn versprochen, dass es weder Terrorgruppen beherbergen noch seinen Einfluss nach Norden ausdehnen werde. Die zentralasiatischen Staaten bewahren derweil die Ruhe. Wie gehen die einzelnen Staaten mit der neuen Situation um? Unsere Kolleg:innen von Novastan France haben in ihrer kostenpflichtigen Rubrik décryptage (dt.: Entschlüsselung) eine Analyse vorgenommen, die wir mit freundlicher Genehmigung übersetzen.

Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan sehen sich nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan mit einer neuen Realität konfrontiert. Das neue afghanische Regime hat seinen Nachbarn versprochen, dass es weder Terrorgruppen beherbergen noch seinen Einfluss nach Norden ausdehnen werde. Die zentralasiatischen Staaten bewahren derweil die Ruhe. Wie gehen die einzelnen Staaten mit der neuen Situation um? Unsere Kolleg:innen von Novastan France haben in ihrer kostenpflichtigen Rubrik décryptage (dt.: Entschlüsselung) eine Analyse vorgenommen, die wir mit freundlicher Genehmigung übersetzen.

Die rasche Machtübernahme der Taliban sorgte auch in den Nachbarländern Afghanistans für Aufsehen. Nachdem die radikalislamische Bewegung am 15. August Kabul eingenommen hatte, beobachteten die Staaten Zentralasiens die Ereignisse im Nachbarland umso aufmerksamer. Auch wenn US-Geheimdienste erwarteten, dass Kabul innerhalb von sechs Monaten nach dem Rückzug der USA fallen würde, geschah dies bereits einen Monat früher.

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Wie Voice of America berichtet, stehen die Länder der Region nun einer neuen Realität in Afghanistan gegenüber – einer Realität, die viel schneller eingetreten ist als erwartet. Auf diese neue Situation reagierten die zentralasiatischen Staaten unterschiedlich, ohne jedoch in Panik zu verfallen.

„Business as usual“ in Turkmenistan

Der Machtantritt der Taliban scheint in Turkmenistan am besten aufgenommen worden zu sein. Das turkmenische Außenministerium informierte am 18. August über ein Treffen zwischen dem turkmenischen Konsul und einem Taliban-Anführer in Masar-i-Scharif. Das Treffen wurde als „positiv und konstruktiv“ beschrieben, des Weiteren wurde auf die „brüderlichen“ und „gutnachbarschaftlichen“ Beziehungen zwischen den beiden Ländern hingewiesen.

Im Allgemeinen scheint Aschgabat so zu tun, als ob sich beim Nachbarn nichts geändert hätte. Wie die unabhängige turkmenische Nachrichtenagentur Chronika Turkmenistana berichtet, liefert Turkmenistan den Taliban Lebensmittel, Gas, Strom und Treibstoff. Dieselbe Agentur berichtete jedoch am 1. September, dass sich turkmenische Spezialeinheiten nahe der Grenze formieren und dass entlang der 700 Kilometer langen Grenze mit Afghanistan zusätzliche Zäune errichtet werden.

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Gleichzeitig weigerten sich die turkmenischen Behörden afghanische Flüchtende aufzunehmen und beriefen sich dabei auf eine drohende Ausbreitung von Covid-19. Dies teilte die offizielle turkmenische Nachrichtenagentur TDH am 29. August mit. Bisher hat Turkmenistan offiziell keine Infektionen vermeldet und behauptet weiterhin, dass das Coronavirus im Land nicht vorhanden sei.

Pragmatisch betrachtet könnte es sein, dass Aschgabat den Machtantritt der Taliban begrüßt, da es das Projekt der TAPI-Gaspipeline abschließen möchte. Die Pipeline soll von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan und Indien verlaufen. „Die turkmenischen Behörden hoffen, dass der Machtantritt der Taliban das Sicherheitsproblem für den Bau und die Einrichtung von TAPI lösen wird“, erklärt Konstantin Kuryljew, Professor für internationale Beziehungen an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau, gegenüber Novastan. Bereits im Februar hatte eine Taliban-Delegation Turkmenistan zugesagt, dass TAPI ohne Probleme abgeschlossen werden könne.

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Obwohl laut CentralAsia.news die Trasse auf turkmenischem Staatsgebiet seit Mai 2020 fertiggestellt ist, wurde der Bau der 1995 initiierten Gaspipeline immer noch nicht abgeschlossen. Die Pipeline soll es Turkmenistan ermöglichen, seinen Gasexport zu diversifizieren, wobei aber China der mit Abstand größte Abnehmer bleiben wird.

Usbekistan unterhält normale Beziehungen

In Usbekistan ist die Situation differenzierter. Nach Angaben von Reuters flohen mit dem Sturz der afghanischen Regierung mehr als 500 Soldaten der regulären Armee an Bord von 22 Flugzeugen und 24 Hubschraubern nach Usbekistan. Während die Taliban die Rückgabe dieser Männer und ihrer Ausrüstung fordern, habe Taschkent die Vereinigten Staaten öffentlich aufgefordert, ein Gastland für die Piloten und ihre Familien zu finden, teilte das Wall Street Journal mit.

Am 17. August bestätigte Taschkent, „enge Kontakte“ zu den Taliban zu pflegen, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit der gemeinsamen Grenze. Auch die diplomatischen Vertretungen Usbekistans in Kabul und Masar-i-Scharif funktionieren normal. Gleichzeitig nahm Taschkent am 23. August an einer außerordentlichen Sitzung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) teil. Usbekistan ist kein Mitglied der von Moskau dominierten Militärorganisation, wolle aber „die Maßnahmen der engsten Partnerländer und der unmittelbaren Nachbarn in der Region besser kennenlernen“, wie die usbekischen Behörden laut Kun.uz mitteilen.

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Taschkent hält einen ständigen Dialog mit den Taliban aufrecht und bereitet sich gleichzeitig darauf vor, dass diese entgegen ihrem Versprechen den eigenen Einfluss über Afghanistan hinaus ausdehnen. Diese Politik wird seit 2018 betrieben, als Präsident Shavkat Mirziyoyev beschloss, mit den Taliban zu verhandeln. Usbekistan spielte auch eine zentrale Rolle beim Abkommen von Doha, das im Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban unterzeichnetet wurde.

Auch im Umgang mit Flüchtenden spielt Usbekistan ein doppeltes Spiel. So hat das Land einerseits zugestimmt, Geflüchtete vorübergehend aufzunehmen, ohne aber seine Grenze vollständig zu öffnen. Andererseits wurden am 20. August mehr als 150 Geflüchtete zurück nach Afghanistan gebracht, wie die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete. Gleichzeitig hat Usbekistan seinen Luftraum und seine Flughäfen für die Evakuierung von Flüchtlingen durch westliche Staaten wie Deutschland oder die Schweiz zur Verfügung gestellt.

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„Angesichts der Führungsambitionen Usbekistans in Zentralasien ist es wahrscheinlich, dass die Behörden erwarten, Beziehungen zu den Taliban aufzubauen und bestimmte Vorteile sowohl für die bilateralen Beziehungen als auch im Rahmen der Außenpolitik in Zentralasien zu erhalten“, meint Konstantin Kuryljew.

Tadschikistan hegt Zweifel

Tadschikistan ist unter den Ländern der Region am vorsichtigsten gegenüber den Taliban. Das Land, das wie Usbekistan und Turkmenistan an Afghanistan grenzt, begann am 23. August seine Grenze zu militarisieren. Wie Radio Free Europe berichtete, begannen Russland und Tadschikistan am 30. August an der Grenze zu Afghanistan mit Militärübungen im Rahmen der OVKS.

Tadschikistans Präsident Emomali Rahmon übte unter den zentralasiatischen Staatsoberhäuptern die lauteste politische Kritik an der Machtübernahme durch die Taliban. Laut Asia-Plus sagte Rahmon am 25. August während des Besuchs des pakistanischen Außenministers Shah Mahmood, die afghanische Regierung sollte „inklusiv“ sein. Er erklärte, dass 46 Prozent der afghanischen Bevölkerung ethnisch tadschikisch seien. Eine Behauptung, die schwer zu überprüfen ist, denn wie The Diplomat berichtet, wird die letzte vollständige Volkszählung in Afghanistan auf 1979 datiert.

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Das Ziel einer afghanischen Regierung, in der alle Ethnien vertreten sind, wurde auch von anderen Ländern aufgegriffen. Am 27. August berichtete das katarische Medienunternehmen Al-Jazeera, dass die Taliban tatsächlich eine solche Regierung bilden würden. Bisher ist aus dieser Behauptung allerdings keine Realität geworden.

„Die Aussage Tadschikistans spiegelt weitgehend die Besorgnis wider, die sich heute über all die tragischen Ereignisse in Afghanistan aufgebaut hat“, sagte der tadschikische Politologe Parwis Mullodschanow in einer Kolumne für Asia-Plus. Radio Free Europe stellt seinerseits fest, dass Tadschikistan das einzige an Afghanistan grenzende Land ist, das vor dem Sturz der Regierung von Aschraf Ghani keine Friedensverhandlungen mit den Taliban aufgenommen hat.

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„Die Entstehung von Spannungen, sowohl außerhalb als auch innerhalb Tadschikistans, bedroht die Sicherheit des Landes und des bestehenden Regimes“, meint Konstantin Kuryljew. Das ärmste Land Zentralasiens bleibt am verwundbarsten, wenn die Taliban ihr Versprechen brechen und nicht in Afghanistan bleiben.

Kirgistan und Kasachstan wenig besorgt

Unter den nicht direkt an Afghanistan grenzenden Ländern hat Kirgistan 500 „Studierenden“-Visa für Afghan:innen angeboten [fr/ru], ohne allerdings seine Grenze für Flüchtende zu öffnen. Kirgistans Verteidigungsminister Talaibek Omuralijew sagte in einem Interview mit Russia Today, dass Afghanistans Probleme „innere Angelegenheiten“ seien.

Gleichzeitig zeigte er Vertrauen in die Fähigkeiten der OVKS und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, für ausreichende Sicherheit in der Region zu sorgen. Auf Seiten Kasachstans hingegen stehen wirtschaftliche Probleme im Vordergrund. So wurden laut Eurasianet Weizen- und Mehlexporte nach Afghanistan eingestellt, obwohl im Jahr 2020 zwei Drittel der Mehlproduktion Kasachstans nach Afghanistan verkauft wurden. 700 kasachstanische Exporteure – die meisten von ihnen in der Lebensmittelindustrie – müssen andere Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte finden, sagte Azamat Asqaruly, Generaldirektor von QazTrade, in einem Interview mit Kapital.kz.

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Politisch habe sich Nur-Sultan auf neutrale Äußerungen beschränkt, gleichzeitig aber der vorübergehenden Verlegung von UN-Missionen aus Afghanistan nach Almaty zugestimmt, berichtet das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast.kz. Alles in allem reagiert Zentralasien ruhig und macht sich über den politischen Wandel im Nachbarland keine übermäßig großen Sorgen. Es bleibt abzuwarten, ob die Taliban ihre Versprechen halten und weder terroristischen Bewegungen einen Rückzugsort bieten noch ihren Kampf für ein größeres islamisches Emirat ausweiten.

Etienne Combier, Chefredakteur von Novastan France

Aus dem Französischen von Robin Roth

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