Was hat sich für Kasachstan und seine Wirtschaft in den drei Jahren von Russlands Krieg gegen die Ukraine geändert? „The Village“ sprach mit zwei Experten.
Vor drei Jahren begann die russische Vollinvasion der Ukraine (im Nachfolgenden gemäß des Wordings der Interviewten und von The Village: Krieg – Anm. d. Ü.) Die Auswirkungen des für viele überraschenden Krieges auf die Wirtschaft Kasachstans waren erheblich. Manche sind positiver, andere negativer Natur. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) führt das starke Wachstum des BIP Kasachstans in der ersten Jahreshälfte 2023 auf den Krieg in der Ukraine und seine Folgen zurück.
„The Village“ beschreibt, wie sich das Leben der Kasachstaner:innen in den drei Jahren seit dem Beginn der Vollinvasion verändert hat. Dabei stellen Professor Magbat Spanov von der Al-Farabi-Universität in Almaty und der Finanzanalyst Rasul Rysmambetov ihre Expertise zur Verfügung.
Inflation und Verteuerung
Im Dezember 2021 betrug die die jährliche Inflation in Kasachstan 8,4 Prozent. Bereits im Dezember 2022, einen Monat nach Kriegsbeginn, erreichte die jährliche Inflation ein Rekordhoch von 20,3 Prozent. 2023 betrug die Inflation 9,8 Prozent und gegen Ende 2024 lag sie bei 8,6 Prozent. Somit hat sich die Inflation erst im letzten Jahr wieder auf das Niveau vor 2022 eingependelt.
Die Inflation wirkte sich massiv auf die Preisentwicklung in Kasachstan aus. 2022 stiegen laut nationaler Statistikbehörde die Mieten um 39,8 Prozent, die Preise für Baumaterialien um 24,8 Prozent und die für Büroausstattung um 70,3 Prozent. Die Lebensmittelpreise stiegen ebenfalls anhängig vom Produkt. Zucker verteuerte sich beispielsweise um 64,9 Prozent und Mehl um 43,2 Prozent.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Wirtschaftsexperte Magbat Spanov führt die Preisentwicklung auf komplexere Ursachen als nur den Krieg zurück: „Die unkluge Wirtschaftspolitik, die schon seit fünf Jahren verfolgt wird, hätte so oder so zu den negativen Auswirkungen und Exzessen geführt, die wir derzeit beobachten.“
Mit einer Veränderung sei in der nächsten Zeit nicht zu rechnen, da die Unfähigkeit der Regierung und Zentralbank weiterhin die Inflation, Lebensmittelpreise und die Preise für Kraft- und Schmierstoffe anheize. „2020 war die Inflation in Kasachstan pandemiebedingt hoch. Im Jahr 2021 erreichte sie ein Allzeithoch von 7 Prozent. Meiner Auffassung nach waren damals zwei Drittel der Inflation auf äußere Faktoren zurückzuführen, da infolge der Pandemie die Abläufe in Produktion und Logistik zum Erliegen kamen“, so Spanov.
Darüber hinaus setze sich der Werteverfall des Tenge fort, da Kasachstans hauptsächlich unverarbeitete Rohstoffe exportiere und im Wesentlichen kein Export von Endprodukten existiere. Die Abhängigkeit von Rohstoffexporten resultiere in einer hohen Vulnerabilität der Wirtschaft.
„Im letzten Jahr wurde ein eklatantes Problem offensichtlich: Dem Staat fehlt es an Geld. Das tatsächliche Steueraufkommen lag um ein Drittel niedriger als prognostiziert. Darunter hat auch die Wirtschaft gelitten. Die Inflation wurde weiter angeheizt, weil die Löcher im Staatsaushalt mit aus Mitteln aus dem Nationalen Fonds und anderen Quellen gestopft werden mussten“, so Spanov.
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Rasul Rysmambetov ist der Meinung, dass der Krieg durchaus eine Rolle bei der Preisentwicklung in Kasachstan spiele, jedoch nicht der einzige Faktor sei. Als weitere Gründe führt er die nach der Pandemie gestiegenen Rohstoffpreise und Transportkosten, die gestiegene Notenausgabe von Tenge, sowie die Unterstützungsmaßnahmen während der Pandemie an, die den Staat viel Geld gekostet hätten.
Die Preissteigerung bei den Lebensmitteln gibt er mit im Durchschnitt 30 bis 40 Prozent an, Kraftstoffe seien ebenso teurer geworden. Der Finanzanalyst ist der Meinung, dass die Teuerung ohne den Krieg weniger sprunghaft verlaufen, inflationsbedingt und aufgrund des Strukturdefizits jedoch vorprogrammiert gewesen sei.
Sanktionen und Umsiedlung von Firmen
Spanov zufolge wurde die Logistik zwischen Russland und Kasachstan in den vergangenen drei Jahren vollständig umgestellt. „Zu Beginn erklärte Kasachstan, dass es die Sanktionen gegen Russland mitträgt. In letzter Zeit klingen die kasachstanischen Verlautbarungen eher danach, dass sie unter Berücksichtigung der eigenen Interessen eingehalten werden sollen, wovon die Wirtschaft in gewisser Weise profitiert“, so der Experte. Er fügt hinzu: „Kasachstan trägt die Sanktionen nicht blind mit, sondern handelt geleitet von seinen eigenen Interessen.“
Durch die Sanktionen seien viele russische Geschäftsleute und ausländische Firmen gezwungen worden, ihre Aktivitäten nach Kasachstan zu verlagern. Einerseits sei Kasachstan nicht gleich Russland, andererseits aber auch nicht zu weit von ihm entfernt. In dieser Hinsicht habe Kasachstan profitiert, so Spanov. Er führt das Beispiel eines russischen Milliardärs an, der in Kasachstan aktiv geworden sei und eine Bank aufgekauft habe. Er habe auch die kasachstanische Staatsbürgerschaft angenommen (die Rede ist natürlich von Timur Turlov, dem Besitzer der Freedom Holding – Anm. der Redaktion von The Village).
Luftfahrt und Logistik
Nach Kriegsbeginn wurde der Luftraum über der Ukraine und einigen Gebieten Russlands für zivile Flugzeuge gesperrt. Bald darauf stellten die meisten europäischen Airlines den Flugbetrieb nach Russland ein. Gegen die russische Luftfahrtindustrie wurden Sanktionen verhängt. Bereits im März 2022 stellten die wichtigsten beiden Fluggesellschaften Kasachstans „Air Astana“ und „Fly Arystan“ ihre Flüge nach Russland ein. Begründet wurde dies damit, dass es nicht möglich sei, die Flüge versichern zu lassen. Die Einschränkungen gelten nach wie vor, obwohl sich Russland 2023 und 2024 dennoch unter den beliebtesten Destinationen für Flugreisende aus Kasachstan wiederfand.
Ebenso betroffen sind internationale Flüge, für die Preise und Flugdauer gestiegen sind. So dauerte beispielsweise der Flug von Almaty nach London vor dem Krieg 7,5 Stunden, bzw. 7,25 Stunden von Astana. Beide Verbindungen wurden nach Kriegsbeginn eingestellt.
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Erst seit Oktober 2024 fliegt Air Astana wieder auf der Route Almaty-London. Der Flug dauert nun 9,5 Stunden, womit er der längste in der Geschichte der Fluggesellschaft ist. „Die Ticketpreise sind gestiegen, weil viele westliche Airlines den russischen Luftraum nicht mehr nutzen. Gleichzeitig profitiert Kasachstan von dieser Entwicklung, weil viele Ländern nun stattdessen unseren Luftraum benutzen, wofür Gebühren erhoben werden“, so Spanov.
Flog man aus Kasachstan früher über Moskau nach Europa und Amerika, so führen die gängigen Routen heute über die Türkei und anderen Länder, was die Ticketpreise ansteigen lässt. „Meinem Gefühl nach haben die Preise um 20-30 Prozent angezogen. Während man früher noch direkt über Moskau fliegen konnte, muss man nun wegen der Umleitungen einige Stunden mehr Reisezeit einplanen“, fügt er hinzu.
Kasachstan als Drehkreuz für den Transit
Kasachstan hat bedingt durch den Krieg eine Wandlung hin zu einem Transitland vollzogen, erklärt Magbat Spanov. Das Land ist bemüht Logistik und Transportinfrastruktur zu stärken. Die wichtigsten Projekte finden im Rahmen der Initiativen Neue Seidenstraße und Mittlerer Korridor statt. Dafür werden enorme Summen zur Verfügung gestellt.
„Russland hat darüber hinaus begonnen seine Warenströme umzuleiten. Dies stärkt den „Transportkorridor Nord-Süd“ (eine Route von Indien durch den Iran und Zentralasien oder den Südkaukasus nach Russland – Anm. d. Ü.)“, so der Experte. Daraus ergäben sich Chancen für Kasachstan. Spanov ist der Auffassung, dass die Bedeutung von regionalen Organisationen wie der BRICS zunimmt. Volkswirtschaftlich betrachtet sei diese Gruppe bereits an den G7 vorbeigezogen.
Auswirkungen auf die Weltwirtschaft
Der Experte ist der Meinung, dass ein Trend weg von der Globalisierung, hin zu nationalen Interessen zu beobachten sei. In dieser Hinsicht steigt der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik. Kasachstan sei wie Armenien und Georgien zu einem Drehkreuz geworden, über das Waren nach Russland gelangen. Die starke Sanktionierung Russlands hat die Lieferketten umfassend verändert, wodurch Kasachstan sich gezwungen sah, aktiv in die Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen zu investieren.
„Dabei geht es um Projekte, wie den Ausbau des Mittleren Korridors, den Bau eines Atomkraftwerks, sowie die Förderung von seltenen Erden. Im letztgenannten Bereich hat der Krieg eine Entwicklung in Gang gesetzt. Früher war China der Hauptlieferant von seltenen Erden“, erklärt Spanov. Da China Russland im Krieg in der Ukraine zumindest funktional unterstützt, beziehe es zwangsläufig eine Position in diesem Konflikt.
Rasul Rysmambetov ist hingegen der Auffassung, dass der Krieg die wirtschaftliche Situation in Kasachstan verschlechtert habe, wenn auch nicht in katastrophalem Ausmaß. „Kasachstan ist in einer schwierigen Lage. Zum einem scheuen ausländische Investoren Länder, die Beziehungen zu Russland unterhalten. Andererseits ziehen einige westliche Firmen, die Russland den Rücken gekehrt haben, Kasachstan als neuen Standort in Erwägung.“, so der Finanzexperte.
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Einige Prozesse hätten im Angesicht des Krieges an Fahrt aufgenommen. Allen voran sei dabei die De-Dollarisierung der Weltwirtschaft (die Abkehr vom US-Dollar als dominantes Zahlungsmittel, Anm. d. Ü.) und die Verringerung der Abhängigkeit von Russland zu nennen. Rysmambetov zufolge baue Kasachstan derzeit seine Handelsbeziehungen zu China, der Türkei und seinen Nachbarn in Zentralasien aus.
„Darüber hinaus beobachten wir einen Zuwachs an sogenannten Parallelimporten. Kasachstan exportiere gewisse Güter nach Russland weiter, die dorthin nicht auf direktem Wege ausgeführt werden dürfen. Diese unterlägen jedoch nicht den Sanktionen im engeren Sinne“, so Rysmambetov.
Darüber hinaus habe der Krieg das westliche Investitionsaufkommen in Kasachstan abgeschwächt, sowie die Einfuhr von Gerätschaften erschwert, da Logistik und Zahlungsabwicklung herausfordernder geworden seien.
Die Langzeitfolgen des Krieges
Spanov betont, dass die Aufhebung der bereits gegen Russland verhängten Sanktionen allenfalls langfristig zu erwarten sei. „Auch angesichts der bevorstehenden Treffen in Saudi-Arabien (Der Original-Artikel erschien Ende Februar, Anm. d. Red.), im Vorfeld derer Russland und die USA ihr Interesse an einer Beendigung des Krieges in der Ukraine bekundet haben, bleibt die Frage der Aufhebung der Sanktionen eine sehr langfristige“, so der Experte.
Er geht davon aus, dass Kasachstan noch fünf bis zehn Jahre mit den negativen Folgen zu kämpfen haben wird. Dies gelte sogar für den Fall, in dem die Ordnung, die mit dem 24. Februar 2022 eingerissen wurde, wiederherstellt würde.
Ist es Kasachstan gelungen sich anzupassen?
„Leider hat sich Kasachstans Wirtschaft in meinen Augen nicht angepasst“, sagt Magbat Spanov. Er führt dies auf die Überforderung der zuständigen Behörden und staatlichen Stellen zurück. „Die Weltwirtschaft befindet sich in einem umfassenden Wandel, daher sind Innovationen unumgänglich. Am wichtigsten sei es, dass Bevölkerung, Regierung und Wirtschaft an einem Strang ziehen. Leider passiert das noch nicht und auf Besserung ist kaum zu hoffen“, führt der Professor aus.
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Rasul Rysmambetov ist optimistischer. In seinen Augen ist die Anpassung trotz etlicher Hürden zumindest teilweise geglückt. Das Land habe die wichtigsten Warenströme umgelenkt und die Beziehungen zu China und zur Türkei ausgebaut, was die Herausforderungen jedoch nicht kleiner werden lässt.
„Der Grund ist schnell genannt: Kasachstan ist eine offene Marktwirtschaft. Als solche kann es sich nicht von den globalen Verwerfungen abkapseln. Der Krieg in der Ukraine ist ein Instabilitätsfaktor, jedoch beschleunigt er auch die notwendige Diversifizierung Kasachstans. Vor uns liegen schwierige, aber nicht hoffnungslose Zeiten“, schließt der Finanzexperte.
The Village
Aus dem Russischen von Focko Kreutzkamp
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