77 Prozent der Kasachstaner:innen haben am 5. Juni in einem Referendum für die Änderung der Verfassung gestimmt. Ein Vertrauensvorschuss für Präsident Qasym-Jomart Toqaev, der nun weitere Reformen einleiten muss.
Kasachstans Verfassung wird einer weitreichenden Änderung unterzogen. Dies ist das Ergebnis eines Referendums, dass am 5. Juni abgehalten wurde. Wie Nurlan Ábdirov, Leiter der Zentralen Wahlkommission des Landes, am Morgen des 6. Juni bekanntgab, haben sich laut vorläufigem Ergebnis 6,16 Millionen Kasachstaner:innen für die vorgeschlagenen Änderungen ausgesprochen. Dies entspricht 77,18 Prozent der abgegebenen Stimmen. 18,66 Prozent stimmten dagegen, die Wahlbeteiligung lag bei 68,06 Prozent.
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Die Reformvorschläge waren von Kasachstans Präsidenten Qasym-Jomart Toqaev am 16. März vorgestellt worden und sind eine Reaktion auf die Unruhen, die Kasachstan und insbesondere die Wirtschaftsmetropole Almaty Anfang Januar erschüttert hatten. Damals waren zunächst friedliche Proteste für Reformen in Unruhen übergegangen, die von der Staatsmacht blutig niedergeschlagen wurden. Toqaev selbst hatte einen Schießbefehl erteilt und Truppen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit zur Unterstützung ins Land gerufen .
„Oberflächliche“ Reformen
Im Rahmen des Referendums konnten die Kasachstaner:innen für oder gegen das vorgeschlagene Gesamtpaket stimmen. Dieses umfasst unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe, eine Beschränkung der Befugnisse des Präsidenten zugunsten des Parlaments, Änderungen in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts sowie bei der Wahl der Abgeordneten beider Parlamentskammern. Außerdem darf der Präsident keiner Partei angehören und seine engen Familienangehörige dürfen keine öffentlichen Ämter bekleiden, wie es unter Toqaevs Amtsvorgänger Nursultan Nazarbaev üblich war.
Bereits im Vorfeld der Abstimmung waren diese Änderungen aber von Expert:innen als nicht weitreichend genug kritisiert worden. So betonte der Politologe Dimash Aljanov in einer Analyse für das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast, dass Toqaevs Reformen „oberflächlich“ seien. „Die lautstarken Äußerungen des Präsidenten haben keinen entsprechenden politischen Inhalt und werden das von Nazarbaev aufgebaute autoritäre System nicht radikal verändern“, meint Aljanov.
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Das kasachstanische Onlinemedium Masa.media hebt hervor, dass die Änderungen nicht die Befugnisse des Präsidenten reduzieren: „Entweder ändert sich nichts, oder er kann zwei weitere Vorsitzende großer Regierungsbehörden ernennen.“ Auch der Politologe Dosym Sátbaev betrachtet die vorgeschlagenen Änderungen als rein kosmetisch. Gegenüber der BBC erklärte er, dass seiner Meinung nach viele der Reformen lediglich die „Verpackung von Änderungen [seien], welche die Bevölkerung wünscht, allerdings mit dem alten Inhalt“.
Die britische Journalistin und Kasachstan-Expertin Joanna Lillis zeigt sich hingegen optimistischer. „Wenn diese Maßnahmen richtig und dynamisch ergriffen werden, können sie meines Erachtens dazu beitragen, Kasachstan zu verändern“, erklärte sie im Interview mit Radio Azattyq, dem kasachstanischen Dienst von Radio Free Europe.
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Dennoch sieht sie den Präsidenten unter Zugzwang. „Nach dem „blutigen Januar“ versprach Toqaev neue Maßnahmen. Aber die Menschen haben diese Versprechen bereits gehört. Es bleibt offen, ob die Änderungen halten werden, was Toqaev verspricht. Er muss schnell handeln, um die Forderungen der Menschen zu erfüllen. Wir sehen jetzt keine großen Proteste auf den Straßen, aber die Proteststimmung ist nicht verschwunden“, so Lillis weiter.
Nur ein erster Schritt
Dass die Änderung der Verfassung nur ein erster Schritt im Reformprozess sein kann, ist dabei dem Präsidenten durchaus bewusst. In einer Ansprache, die am Abend des 6. Juni ausgestrahlt wurde, bedankte sich Toqaev bei seinen Landsleuten für „den Beweis für die Reife und Verantwortung der kasachstanischen Gesellschaft“ und betonte, dass die Verfassungsänderungen nicht die Endphase, sondern nur der Anfang der Reformen seien.
„Wir werden die umfassende Modernisierung des Landes fortsetzen. Auf der Grundlage der aktualisierten Verfassung werden wir ein effizienteres Modell für das Funktionieren aller Machtinstitutionen bilden und den Mechanismus der gegenseitigen Kontrolle zwischen ihnen stärken. Konsequente politische Reformen werden zur Entwicklung der Volkswirtschaft und zur Stärkung des nationalen Unternehmertums beitragen“, so der Präsident. Konkrete Lösungsvorschläge wolle er zur Eröffnung der Sitzungsperiode des Parlaments im September 2022 vorstellen.
Unregelmäßigkeiten und Proteste
Trotz des eindeutigen Ergebnisses wurde das Referendum von einigen Unregelmäßigkeiten überschattet. Wie Vlast berichtet, registrierten unabhängige Beobachter:innen der Organisation „Erkindik Qanaty“ (Flügel der Freiheit) Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Beobachter:innen und eine Verletzung des Wahlgeheimnisses: Eine Videokamera wurde auf die Wahlkabine in einem der Wahllokale gerichtet.
Darüber hinaus meldet die Organisation Fälle von Massenabstimmungen durch die Polizei. Beobachter:innen der „Liga der jungen Wähler:innen MISK“ erfassten unter anderem Fälle, in denen Wähler:innen Stimmzettel ohne Vorlage des Originalausweises ausgestellt wurde, oder in denen weitere Stimmen für Angehörige abgegeben wurden.
In einem Wohllokal in Almaty kam es laut Vlast zu einer Protestaktion der nicht registrierten „Demokratischen Partei“. Die Aktivistinnen Inga Imanbaı und Arujan Duısebaeva schrieben auf ihre Stimmzettel „Toqaev, lass Janbolat Mamaı frei“ und forderten einen Prozess gegen Nazarbaev. Mamaı ist Gründer der „Demokratischen Partei“ und Imanbaıs Ehemann.
Vor dem Wahllokal forderten die Aktivistinnen darüber hinaus, dass die Behörden eine Liste der Opfer der Januar-Ereignisse veröffentlichen. Tatsächlich ist weiterhin unklar, wie viele Menschen während der Proteste und Unruhen ums Leben kamen. Das Thema ist aber durchaus ein Politikum. So hatte Radio Azattyq am 1. Juni eine Liste der „Opfer des blutigen Januars“ veröffentlicht, die jene aufführt, die in der Zeit vom 5. bis 8. Januar in den Städten Kasachstans durch Beschuss starben oder verletzt wurden. Die Liste umfasst allein 188 Todesopfer.
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Dies brachte auch scheinbar den Präsidenten unter Zugzwang. Wie Vlast berichtet, erklärte Toqaev am 5. Juni, dass eine entsprechende Liste von Seiten der Behörden veröffentlicht werde. Darüber hinaus versprach er, dass alle Militärangehörigen, die an ungerechtfertigten Aktionen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen werden.
Ähnlich wie beim Reformprozess liegt es nun beim Präsidenten zu liefern. Mit dem Referendum hat Toqaev einen bedeutenden Vertrauensvorschuss seitens der Bevölkerung erhalten. Um diesen nicht zu verspielen und weitere Proteste zu riskieren, muss er nun sein Reformvorhaben weiter vorantreiben, aber auch die Ereignisse des „Blutigen Januar“ vorbehaltlos aufklären.
Robin Roth, Chefredakteur von Novastan
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