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„Sollen sie uns köpfen, unsere Zunge schneiden sie nicht ab“ – Der Beginn des kasachischen Schweigens

Die Historikerin Nurgul Moldaıbaıkyzy teilt ihre Überlegungen zum historischen Trauma der Kasachen, das mit Beginn der Sowjetunion seinen Lauf nahm. Sie schlägt einen weiten Bogen von dem erfahrenen Leid der Kasachen zu Beginn der Sowjetunion hin zur Gegenwart.

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Nurgul Moldaıbaıkyzy

Die Historikerin Nurgul Moldaıbaıkyzy teilt ihre Überlegungen zum historischen Trauma der Kasachen, das mit Beginn der Sowjetunion seinen Lauf nahm. Sie schlägt einen weiten Bogen von dem erfahrenen Leid der Kasachen zu Beginn der Sowjetunion hin zur Gegenwart.

Vor Kurzem habe ich einen Artikel über die Bildung der Sowjetregierung geschrieben. Darin habe ich die Jahre von 1925 bis 1933 besonders beleuchtet: In diesem Zeitraum fanden in der kasachischen Steppe knapp 400 Aufstände statt. Kurz – ein Aufstand pro Woche. Das Volk stand auf gegen die Zwangskollektivierung, die Enteignungen, die Zwangsumsiedlungen und die Zwangsmodernisierung.

Heute haben wir zwar zu allen archivierten Dokumenten freien Zugang, doch über diese Ereignisse wissen wir kaum etwas – schließlich hat uns niemand über sie unterrichtet. Dabei bezeugen diese Aufstände, wie sehr die kasachische Gesellschaft damals an der traditionellen Hartnäckigkeit des Geistes und der Meinungsfreiheit festhielt.

Ein Sprichwort aus dieser Zeit besagt: „Bas kespek bolsa da, til kespek joq“ – „Sollen sie uns köpfen, unsere Zunge schneiden sie nicht ab“.

Es folgten Hungersnöte, Repressionen, Krieg. Man würde meinen, damit sei dieses historische Kapitel vorbei. Doch die Folgen dieser Episoden leben fort – in unserer Kultur, in unseren Blicken und unserem Verhalten.

Das Individuum – ein Feind des Systems

Im Jahr 1919 führte die Sowjetregierung die „Arbeitsschulen“ ein, konzipiert von Stanislaw Schatskij, Leiter des sowjetischen Bildungswesens, und Nadeschda Krupskaja, Lenins Ehefrau und Mitbegründerin des sozialistischen Schulsystems. [Diese Arbeitsschulen waren Teil einer Politik der „Proletarisierung der Hochschulen“. Sie sahen eine auf die Arbeiterkinder angepasste Bildung vor, war hier doch die Alphabetisierung Anfang des 20. Jahrhunderts besonders flagrant, Anm. d. Ü.] In dem von Krupskaja und Schtskij verabschiedeten Konzept stand schwarz auf weiß: „Ein Kind, das Anzeichen von Individualität zeigt, indem es über sich selbst nachdenkt, hat bourgeoises Gedankengut.“

Hier nahm die Repression des Individuums ihren Anfang. Lasst euch das mal auf der Zunge zergehen, denn das ist die Kernidee des Sowjetstaates, der von 1919 an fast 80 Jahre existierte: Ein Kind, das über sich selbst nachdenkt, galt als bourgeoises Rindvieh! An genau dieser Stelle nimmt das historische Trauma seinen Lauf. Auch heute sagen wir Kasachen noch: „Der Kasache lebt für die anderen.“

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Doch wo bleibt da das Sprichwort unserer Vorfahren „Özim degende ögis qara kuşim „Wenn es um jemand anderen geht, bin ich stark wie ein Stier“? Verzeiht mir also, wenn ich keine Dissertationen mehr annehme, die Titel tragen wie „Der Kasache lebt für die anderen – etwas Urkasachisches“.

Abwehrmechanismen und Wunden des kollektiven Gedächtnisses

In der Psychologie existiert der Begriff des schützenden „Abwehrmechanismus“, der einen Mensch bezeichnet, der versucht, harte Erlebnisse zu verdrängen. Bei uns findet das nicht auf individueller, sondern auf kollektiver Ebene statt. Wir, als Nation, haben unsere Schmerzen verdrängt, weil sie schlicht zu stark sind.

Hunger, Repressionen, Verbannung – diese Episoden der Geschichte verdienen mehr Aufmerksamkeit und erfordern eine klare Stellungnahme. Doch an denen fehlt es und darum sind wir so unsicher, oft ausgegrenzt und verlieren das Vertrauen zueinander.

Eine eigene Meinung kam in der sowjetischen Schule beinah einem Verbrechen gleich. Lehrer bekamen ihre Stelle nicht als Verdienst für ihr berufliches Können, sondern für ihre Loyalität gegenüber der Partei. Aus der Partei ausgeschlossen zu sein war katastrophal. Das System beruhte auf der Unterdrückung der Gedankenfreiheit und düngte eine Abhängigkeit von den Blicken der anderen, ein gegenseitiges Misstrauen.

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Noch heute, Jahrzehnte später, achten wir unterbewusst auf die „Reaktion der anderen“, bevor wir überhaupt eigene Worte suchen. Die Jugend ist heute freier, spricht geradeheraus. Doch leider sind einige von ihnen mit Schmerz und Trauma konfrontiert, weshalb sie beginnen, ihre kasachische Identität abzulehnen. Sie empfinden diese als potenzielle Einschränkung.

Alte Verhaltensweisen gehen, neue kommen

Wir haben uns an viele Formen der „Erziehung“ gewöhnt, die im Grunde traumatisch sind. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass Männer, die selbst häusliche Gewalt anwenden, in der Kindheit meist selbst Opfer dieser gewesen waren. Ein Verhaltensmodell also, das von Generation zu Generation weitergetragen wird.

In dem Buch „Kind“ schreibe ich: „Bis zum 20. Jahrhundert war die kasachische Kultur frei von jeglichem Verständnis „das Kind zu schlagen.“ Schrie die Mutter ihr Kind an, hatte sie sich zu schämen. Sie hatte „die Muttermilch zum Himmel hinausgeschüttet“, als hätte sie selbst eingeräumt: „Ich bin den mütterlichen Aufgaben nicht gewachsen.“ Das war die höchste Form der Selbstanklage. Heute ist diese Art der Gewalt gang und gäbe – noch so ein Erbe der Sowjetunion.

Früher verliehen Kasachen ihrer Freude auf kulturelle Weise Ausdruck, indem sie sie lebhaft zelebrierten:

Sujnşi – eine frohe Botschaft, die eine Belohnung verdiente

Bajğazy, körimdik – Geschenke anlässlich guter Ereignisse

Bäsire, toı – Feste, wenn eine Etappe des Lebens erreicht war

Wenn beispielsweise ein Kind seine erste Wohnung kauft, dann machen die Eltern ihm ein körimdik, ein Geschenk – so zumindest dem kulturellen Gedächtnis zufolge. Das ist ihre Pflicht – ihre Pflicht sich für ihr Kind zu freuen! Im kulturellen Gedächtnis waren freudige Ereignisse immer gemeinsam zu feiern. Vergleichen wir doch einmal mit der Sowjetzeit, was passierte da mit den Traditionen? Wann haben wir begonnen, Nauryz zu feiern? Lange feierten wir nur Neujahr. Um hier anzusetzen, brauchen wir mehr wissenschaftliche Forschung.

Ein Erbe, das sich selbst reproduziert

Warum zermürben wir uns selbst von innen? Warum fressen wir uns selbst auf? Warum haben wir aufgehört, uns für andere zu freuen? Die Sozialpsychologie nennt das einen „verinnerlichten Zwang“ in Form von Selbstunterdrückung. Den Begriff habe nicht ich mir ausgedacht, das ist ein anerkanntes wissenschaftliches Phänomen. Wenn sich gesellschaftlicher Druck breit macht, der auf den sozialen Status, die Klasse oder den Wohlstand abzielt und sich dieses Szenario wiederholt, dann beginnt die Gesellschaft diesen Druck als normal zu empfinden und darum selbst zu reproduzieren.

Genau das passiert aktuell leider mit dem kasachischen Volk. Unser Volk besaß bis ins 20. Jahrhundert noch ausgeprägte kulturelle Formen, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Auf diese sollten wir uns zurückbesinnen. Sie haben uns das Land und das Vieh genommen und haben uns enteignet. Doch der Zerfall und die Herabwürdigung sind noch immer im Gange.

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All das ist schon in der Sozialpsychologie beschrieben. Da stellt sich die Frage: Wieso war ein Volk mit Traditionen wie Baığazy und körimdik dennoch unfähig, sich mit seinen Mitmenschen zu freuen? Für eine Antwort hierauf fehlt es leider an wissenschaftlicher Forschung.

Wer sich heute freut, der macht sich verdächtig. Die Menschen teilen ihr Glück nicht – sie fürchten den bösen Blick und den Neid. Dabei besagt die Idee des Existenzialismus doch: „Glück wächst, wenn man es teilt“ [paraphrasiertes Zitat, das meist Albert Schweitzer zugeschrieben wird, einem Denker der Existenzphilosphie, die mit dem Existenzialismus verwand ist; Anm. d. Ü.] Wir haben verlernt, uns für andere zu freuen.

Ein ehrlicher Blick auf die Vergangenheit

Um die kasachische Identität zu bewahren, müssen wir uns dem Blick auf die Geschichte stellen: Traumata anerkennen, über sie reden und aufarbeiten. Nur so erreichen wir die innere Vollkommenheit als Nation und als Individuum.

Wir müssen uns ehrliche Fragen stellen:

Wo kommen wir her?

Was haben wir verloren?

Worauf steuern wir zu?

Nur so können wir standhaft und selbstbewusst auftreten, ohne unseren Wesenskern zu verlieren.

Nurgul Moldaıbaıkyzy für masa.media

Aus dem Russischen (und gekürzt) von Arthur Siavash Klischat

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