Osch, die zweitgrößte Stadt Kirgistans, liegt knapp 400 Kilometer südlich von Bischkek am Rande des Ferganatals. Im Jahr 2010 machte die Stadt Schlagzeilen, als ein bewaffneter Konflikt zwischen Kirgisen und Usbeken in der Stadt ausbrach. Heute hat sich die Lage deutlich beruhigt und die jüngsten Annäherungen zwischen Kirgistan und Usbekistan könnten viele positive Auswirkungen auf die Grenzstadt Osch haben. Folgende Reportage erschien im französischen Original im Magazin „Gare de l’Est“.
Auf dem Weg zurück nach Osch aus Arawan, einer kleinen Stadt, circa eine halbe Stunde westlich, zeigt der Taxifahrer plötzlich hinab auf einen Teich, ein paar hundert Meter weiter links: „Wisst Ihr, als wir jung waren, sind wir dort oft baden gegangen. Heute geht das nicht mehr, man kommt nicht mehr durch“. Tatsächlich steht ein mittelhoher Stacheldrahtzaun in stummer Zustimmung längs des Weges. Hier ist Kirgistan, drüben Usbekistan.
Mit dem Auto braucht man nur circa zehn Minuten vom Stadtzentrum von Osch, der zweitgrößten Stadt Kirgistans, bis zum nächsten Grenzposten nach Usbekistan. Von einer Grenze war an der Stelle allerdings lange keine Rede, in der Sowjetunion war dort eine bloße Verwaltungsgrenze und erst seit dem Beginn der 1990er eine zwischenstaatliche Trennung.
Ein kultureller Knotenpunkt
Die Grenzlinie steht still und unbeweglich da, die umliegenden Gebiete sind hingegen von Interaktion und grenzüberschreitenden Verbindungen geprägt. Osch ist ein Knotenpunkt mehrerer Kulturen, man kann dort stets Gespräche auf Kirgisisch, Usbekisch und auf Russisch vernehmen. Die meisten Einwohner sind zwei- oder gar dreisprachig.
Asis* hat vor kurzem sein Politikwissenschaftsstudium in Bischkek beendet. Seine Erfahrungen erzählt er bei einem Tee im neuen angesagten Café der Stadt. Auf der anderen Seite des Raums hält einer der Inhaber vor ungefähr 40 aufmerksamen Jugendlichen ein Seminar zu Unternehmertum. Auf die Frage, was seine Stadt ausmacht, erwähnt Asis nach kurzem Zögern die „Symbiose zwischen verschiedenen Aspekten“, also die sowjetische Vergangenheit, der nationale Aufbau Kirgistans, die ethnische Vielfalt und die Religion.
Diesen eklektischen Eindruck bekommt auch der frisch eingetroffene Reisende, der in wenigen Minuten zwischen orientalisch angehauchten Mahallas, sowjetischen fünf-Etagen-Chruschtschowkas und modernen Hochhäusern wechseln kann. Insgesamt ist das Oscher Stadtbild eher flach: In der warmen Hälfte des Jahres erinnert es von oben gesehen mehr an einen mit Gebäuden durchsetzten Wald als an eine 300.000 Einwohner zählende Metropole.
Im Herzen davon steht der Berg Salomons, Sulejman-Too auf Kirgisisch. Dieses „Symbol des Friedens und der Eintracht“, wie ihn die vielen Schilder über den Bushaltestellen auf Kirgisisch und auf Russisch bezeichnen, thront als wahres Stadtsymbol über dem Zentrum. Auf seiner Südflanke entdeckten Archälogen Töpfereien aus der Bronzezeit, was im Jahr 2000 die Feier von 3000 Jahren Stadtgeschichte veranlasste. Bis heute ist Osch voll mit „Osch-3000“ Zeichen in allen Größen und Variationen, eine ständige Erinnerung an das Erbe der „südlichen Hauptstadt Kirgistans“. Die aktuelle Hauptstadt Bischkek ist kaum 200 Jahre alt.
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Die Vielfalt der Stadt ist das Ergebnis dieser langen Geschichte. Osch wurde 1936 Teil der Sozialistischen Sowjetrepublik Kirgistan, als diese gegründet wurde. Entsprechend den nationalen und wirtschaftlichen Logiken der sowjetischen Territorialpolitik sollte der Süden der neuen Republik mit einem urbanen Zentrum versehen werden, während der Großteil der kirgisischen Bevölkerung eher in den ländlichen Bereichen rund um die Städte wohnte.
Eine Grenzstadt vor geschlossenem Zaun
In der Sowjetunion war Osch ein Handelszentrum zwischen dem städtischen Handwerk und der Industrie einerseits und der ländlichen Wirtschaft der Region andererseits. In der Zeit wuchs auch die kirgisische Bevölkerung der Stadt, während die ethnische Vielfalt in der Sowjetunion im Namen der Völkerfreundschaft zelebriert wurde. Der Austausch mit dem benachbarten Usbekistan blieb auch sehr aktiv, selbst in den Jahren nach dem ersten „interethnischen“ Konflikt im Sommer 1990.
Zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion schloss Usbekistan allerdings die Grenze, die in den ersten Jahren der Unabhängigkeit eher frei passierbar war. Diese in Taschkent getroffene Entscheidung fiel zu Lasten der Lokalbevölkerung und vor allem der Einwohner der Grenzdörfer. Für die Oscher Bevölkerung, etwa zur Hälfte usbekischer Nationalität (im sowjetischen Sinne als Herkunft oder Ethnie), bedeutete die Schließung einen Bruch von wirtschaftlichen und familiären Beziehungen.
Asis hat entfernte Verwandte in Taschkent und erinnert sich noch an die Usbekistan-Reisen in seiner Kindheit, kurz vor der Jahrtausenwende: „Es war sehr einfach durchzukommen. Man konnte hinübergehen, man musste nur seinen Pass zeigen“, sagt er in einwandfreiem Englisch. Danach hat sich die Lage aber geändert: „Auf unserer Seite, auf der kirgistanischen Seite, kommt man leicht durch. Aber auf der usbekistanischen Seite demütigen sie einen. Egal, wie alt du bist, ob du eine Frau oder ein Kind bist… manche der Zoll- und Grenzbeamten sind wirklich gemein“. Zuletzt war er 2012 in Taschkent. Asis und seine Familie verbrachten damals gut fünf Stunden in der sengenden Hitze des Dostuk/Dostlyk (Freundschaft, je auf kirgisisch und usbekisch) Grenzübergangs.
Selbst während des Ereignisse im Juni 2010, als sich Kirgisen und Usbeken in Südkirgistan in einem bewaffeneten Konflikt gegenüberstanden, öffnete Usbekistan erst spät seine Grenze für die circa hunderttausend usbekischen Flüchtlinge. In dieser politisch sehr instabilen Lage entfachte sich der Konflikt an einer Schlägerei zwischen jungen Kirgisen und Usbeken; dieser Funke ließ gezielte oder gar organisierte interethnische Gewalt aufflammen. Zwei Monate nach dem Sturz des zweiten Präsidenten Kirgistans Kurmanbek Bakijew verursachte der „Krieg“, wie man ihn heute oft nennt, laut dem Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission 470 Todesopfer und Schäden an etwa 2800 Gebäuden.
Asis stammt aus einer usbekischen Familie. Im Sommer 2010 kam er gerade von einem Jahr Schüleraustausch in den Vereinigten Staaten zurück nach Osch. Sein Viertel gehört zu einem wohlhabenden und gemischten Teil der Stadt und wurde von der Gewalt nicht getroffen. Die Schüsse waren aber auch von dort zu hören. „Klar gab es etwas Hass – das ist eine natürliche Reaktion – und Schmerz. Aber wie dem auch sei, wenn man die Situation analysiert, sieht man, dass es nicht an zwei verhassten ethnischen Gruppen lag. Es gab komplexere Faktoren, wie das politische Vakuum, die Folgen der Wirtschaftskrise und natürlich hatten auch manche Gruppen ein Interesse an der Instabilität.“
Business und Medien zur Besänftigung
Sieben Jahre nach den Ereignissen beschreiben viele die Lage als entspannter und sehen Verbesserungen im städtischen Leben. Azamat* studiert juristische Expertise an der Oscher Staatlichen Universität. In den Jahren nach 2010 hat er beobachtet, wie sich die Stimmung beruhigt hat. Er erzählt, wie noch vor zehn Jahren Diebstähle an den Ständen usbekischer oder chinesischer Händler häufig vorkamen und ungestraft blieben. Heute hört man kaum noch von solchen Vorfällen, eine Folge des Schocks von 2010: „Nach 2010 hat man gemerkt, dass [die Spannungen] zu offenen Konflikten führen können, dass Leute dabei umkommen können. Jetzt achtet man mehr [auf die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften] und man versucht, auf die Psychologie der Menschen einzuwirken“, erklärt er.
Sogar die Vorurteile und der Groll zwischen Kirgisen und Usbeken scheinen sich zu verringern. Azamat sieht darin das Ergebnis vom positiven Einfluss von Radio und Fernsehen, wo für mehr Toleranz geworben wird: „Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie meine Mutter immer gegen die Usbeken schimpfte, jetzt hat sie ganz damit aufgehört. Das liegt eindeutig am Einfluss der Medien“.
Eines dieser Medien ist die Mediengruppe Yntymak (Eintracht, Harmonie auf Kirgisisch), die auf Kirgisisch, Usbekisch und Russisch über Südkirgistan berichtet. Dieses Radio-, Fernseh- und Zeitungsprojekt wurde nach den Ereignissen von 2010 mit Unterstützung der kirgistanischen Regierung und Finanzierung der US-Amerikanischen Kooperationsagentur USAID ins Leben gerufen. Es bietet Raum für den Ausdruck der usbekischen Kultur und vor allem der Sprache, die nach 2010 fast gänzlich aus der Oscher Öffentlichkeit verschwunden ist. Das Team von Yntymak versammelt Journalisten verschiedener Nationalitäten, die daran arbeiten, aus dem Projekt eines der führenden zentralasiatischen Medienhäuser zu machen.
Danijar Sadijew, der Generaldirektor von Yntymak, sieht im Business den wichtigsten Friedensfaktor für die Stadt: „Wenn das Business sich hier entwickelt und das Geld fließt, denke ich nicht, dass sich Konflikte entwickeln können. Wie man sagt, das Geld liebt die Ruhe.“ Die Ereignisse im Juni 2010 waren nicht zuletzt auch ein wirtschaftlicher Schock für Osch und haben viele Unternehmen aus der Stadt getrieben. Unter dem Impuls kleiner und mittelgroßer Unternehmen erholt sich die Lokalwirtschaft nun allmählich wieder. Es ist das Werk der Einwohner, die selbst an der Verbesserung ihrer Lebensumstände arbeiten. Mehrere innovative Unternehmen wurden durch junge Menschen gegründet, die mit neuen Erfahrungen aus dem Ausland zurückgekehrt sind.
Migration als Chance
Auch ein Großteil der finanziellen Ressourcen in Osch kommt aus dem Ausland. Die Rückzahlungen von Arbeitsmigranten machen ein knappes Drittel des Kirgisischen BIPs aus. Unter Fremdsprachenstudenten sind Arbeitsaufenthalte in Europa und vor allem in Deutschland sehr angesagt. Aber in diesem Phänomen sieht Sadijew eher einen Mehrwert, als ein Brain-Drain-Risiko: „In Südkirgistan ist die Familie ein sehr wichtiger Wert. Die, die ins Ausland ziehen, kehren meist irgendwann zurück. Und sie kommen mit Gepäck, mit ihrem neuen Wissen und ihren Kompetenzen.“
So geht es auch Asis. Als jüngster Sohn in seiner Familie ist er für die Pflege seiner Eltern zuständig und wird bei ihnen in Osch bleiben müssen. Für seine berufliche Zukunft hat er einige Geschäftsideen, besonders im Tourismusbereich, wo er seine Englischkenntnisse nutzen könnte. Azamat würde hingegen keine Sekunde zögern, wenn er die Möglichkeit hätte, in Europa zu leben: „Es ist einfach, im Ausland zu leben. Ich habe gesehen, wie die Menschen in Deutschland leben: Wenn Du eine Arbeit hast, wenn dein Kopf es tut, lebst du gut.“ Er lernt seit mehreren Jahren Deutsch und hat schon einen Sommer mit einem Ferienjob in Norddeutschland verbracht. „Hier musst Du dich anstrengen, um zu überleben“, fügt er hinzu.
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Der geistige Horizont der meisten Bewohner von Osch reicht weit über Zentralasien und die Grenze zu Usbekistan. In der Sowjetunion konnten viele innerhalb des sowjetischen Blocks verreisen: Unzählige Taxifahrer können von ihrem Militärdienst in Osteuropa erzählen.
Heute schleicht sich die Globalisierung in die Straßen der Metropole. Sie zeigt sich durch die Plastiktaschen mit dem alten Logo der britischen Supermarktkette „Morrisons“, aber auch durch die Eröffnung des ersten Cafés im Stil der amerikanischen Coffee Culture im Mai 2016 und des ersten Korea-Mania Geschäfts im Zentrum ein paar Monate später. Zahlreiche chinesische Geschäftsleute und pakistanische Studenten bilden weitere Gemeinschaften, die zur Vielfalt der Stadt beitragen. Und diese Vielfalt versucht die Stadt nun besser zu vermarkten.
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Akmaral Satinbajewa ist die Direktorin von Youth of Osh, eine NGO, die sich für eine bessere Einbindung der Jugend in das öffentliche Leben in Osch und in Kirgistan einsetzt. Die Organisation ist Teil einer Arbeitsgruppe für die Entwicklung des brandings der Stadt. „[Osch] ist einzigartig, aber man muss es erst entdecken, darüber reden“, meint sie. Statt sich auf einen Aspekt zu konzentrieren, hat sich die Arbeitsgruppe dazu entschieden, mehrere Qualitäten der Stadt in den Vordergrund zu stellen: das historische Erbe rund um den Sulejman-Too, die kulturelle Vielfalt von Osch, seine Handwerkskunst und seine Gastronomie. Der nationale und internationale Tourismus gehört zu den vielversprechenden Wirtschaftsbereichen.
Wie zum Ende der 1990er könnten nun politische Entwicklungen in Usbekistan einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Metropole haben. Nach dem Tod des ersten Präsidenten Islam Karimow im September 2016 wird die Machtübernahme seines ehemaligen Premierministers Schawkat Mirsijojew von einer neuen Annäherungspolitik begleitet. Auf den Besuch einer kirgisischen Delegation im usbekischen Andischon im Herbst 2016 folgte einen Monat später der Empfang einer usbekischen Delegation mit großem Pomp.
Grenzenlose Entwicklungsmöglichkeiten
Zwischenstaatliche Beziehungen lassen sich nicht in ein paar Monaten flicken und manche grenzüberschreitende Initiativen leiden noch an administrativer Schwere. So konnte im April der Besuch einer kleinen Delegation der Oscher Universität zu einem linguistischen Seminar in Andischon nicht stattfinden, da die Andischoner Universität die benötigte Erlaubnis nicht rechtzeitig erhalten hatte.
Trotz der kleinen Hürden hat sich die Lage um die Grenze deutlich verbessert. Der Grenzübergang bei Dostuk wurde für Einheimische zuerst leicht vereinfacht: Kirgisische Staatsbürger konnten früher nur zu manchen Familienereignissen und nur mit einem sogenannten Telegram, also einer Einladung, die Grenze passieren. Diese Regel wurde erst um weitere Familienfeste gelockert, seit dem 6. September können die Lokaleinwohner die Grenze nun wieder ganz frei passieren.
Auch die Bestimmung des Grenzverlaufs ist deutlich vorangekommen. Nach fast einem Jahr Verhandlungsrunden zwischen Delegationen beider Länder wurde bei Mirsijojews Staatsbesuch in Bischkek Anfang September ein Vertrag unterschrieben, der 85 Prozent der zuvor umstrittenen Grenzabschnitte festlegt.
Auf lokaler Ebene kann diese Grenzöffnung viele positive Effekte mit sich bringen. Ob durch die Versammlung von zuvor getrennten Familien oder den Ersatz des Schmuggels durch einen offiziellen Handel über die Grenze – die Folgen sind schnell zu erkennen. Die Öffnung der internationalen Grenze kann zudem auch Auswirkungen auf die geistigen Grenzen zwischen den Oscher Gemeinschaften haben. Laut Sadijew, dem Generaldirektor von Yntymak, bietet die Öffnung der Grenze „eine Chance für das Business. Dadurch können die Menschen hier ihre Familien besuchen und ihre Familienmitglieder können uns besuchen. Osch war eigentlich immer friedlich. Diese Konflikte haben begonnen, als man angefangen hat, die Vorhänge zuzuziehen.“
Ohne die Stacheldrahtvorhänge, die es vom benachbahrten Usbekistan trennen, könnte Osch sich wieder als wirtschaftlicher und kultureller Knotenpunkt des Ferganatals etablieren. So beschreibt jedenfalls Sadijew seine idyllische Vision für die Stadt in fünf Jahren: „Die Szene würde sich vor dem Hintergrund des Sulejman-Too abspielen. Ich sehe einen Handelsplatz, der viele Menschen unterschiedlicher Herkünfte versammelt, darunter auch Touristen. Und ich stelle mir dort eine Tschaichana vor – denn ich hoffe, dass diese traditionellen Aspekte bleiben – in der Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Nationalitäten rund um einen Tee diskutieren. So könnte Osch in fünf Jahren aussehen: frühlingshaft und voller Ausstrahlung.“
Florian Coppenrath
Mitgründer von Novastan.org
Dieser Artikel erschien zuerst im französischen Original in der 7. Ausgabe des Magazins „Gare de l’Est„, hier in aktualisierter Version.
*Die Namen wurden geändert
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