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Zentralasien im Fluss: Das neue Themenheft der Zeitschrift „Osteuropa“

Das Ende 2024 erschienene Themenheft der Zeitschrift „Osteuropa“ zu Politik und Gesellschaft in Zentralasien zeichnet ein vielschichtiges Bild der neuen Dynamik, die sich seit einigen Jahren in der Region entwickelt. Eine Rezension.

Fließbild. Politik und Gesellschaft in Zentralasien. Osteuropa 8-10/2024
Fließbild. Politik und Gesellschaft in Zentralasien. Osteuropa 8-10/2024

Das Ende 2024 erschienene Themenheft der Zeitschrift „Osteuropa“ zu Politik und Gesellschaft in Zentralasien zeichnet ein vielschichtiges Bild der neuen Dynamik, die sich seit einigen Jahren in der Region entwickelt. Eine Rezension.

24 Beiträge sezieren die soziopolitische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage und schlagen dabei wertvolle Bögen, die dem Leser vor Augen führen, wie tief ins geschichtliche Mark manch hochaktuelle Problematik hineinreicht. Akribisch recherchierte Steckbriefe, sachbezogene Tabellen und übersichtliche Karten unterfüttern die empirischen Analysen und sind ein wertvolles Werkzeug, um die geographische sowie geopolitische Dimension der Sachverhalte in vollem Umfang zu erfassen.

Ein unerforschter, heterogener Raum

Den Einstieg bietet eine bereits 2007 veröffentlichte, detaillierte geschichtliche Synthese. Sie beleuchtet die teilweise seit 2000 Jahren anhaltende oder immer wieder aufflammende Bedeutung der naturgeographischen Gegebenheiten der Region und erläutert sprachliche Einflüsse von den ostiranischen Sprachen bis zu den altaischen. Der Text rückt religiöse Verflechtungen genauso ins Bewusstsein wie das fürs tiefere Verständnis unabdingbare Kapitel über die Mongolen, die Nachwirkungen der russischen Kolonisierung und des Great Game des 19. Jahrhunderts. Zuletzt geht er auch darauf ein, wie stark ethnische und tribale Identitäten das kollektive Bewusstsein seit Jahrhunderten prägen und wie fatal eurozentristische Auffassungen kultureller, ethnischer und sprachlicher Zugehörigkeit für ein umfassendes Verständnis Zentralasiens sind.

Der Text legt das Fundament und macht klar: Die Gemeinsamkeiten der fünf Länder wiegen die regionalen Unterschiede nicht auf, sei es in wirtschaftlichen, politischen oder identitären Fragen. Darüber hinaus hinkt die Zentralasienforschung hinterher, wie Shairbek Dzhuraev in „Zentralasien – Globaler Süden?“ herausarbeitet. In Europa steckt diese Disziplin noch in den Kinderschuhen, in Russland in den ausgelatschten Schuhen des Kolonialismus. Selbst die postkolonialistische Forschung lässt Zentralasien weitestgehend außer Acht. Ist dieses Unvermögen, die Region wissenschaftlich einzuordnen, eventuell Ausdruck der insgesamt halbherzigen politischen Annäherungsversuche seit der Jahrtausendwende?

Auch für Zentralasien eine Zäsur

Der 24. Februar 2022 war hier jedenfalls ein Weckruf und kann als Katalysator der Diversifizierung der Beziehungen in ganz Zentralasien aufgefasst werden, wenngleich dies schon seit einigen Jahren zu beobachten ist, spätestens seit dem Amtsantritt des aktuellen usbekischen Präsidenten Mirziyoyev im Jahr 2016. Im Rahmen dieser „multivektoralen“ Außenpolitik mehren sich die Gipfeltreffen im Format 5+1. China, die USA, die EU, aber auch die Golfstaaten und die Türkei wittern ihre Chance, während die zentralasiatischen Staaten „Moskaus Einfluss ausbalancieren“.

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Besonders beherzt treten dabei Kasachstan und Usbekistan auf, und zwar auf allen Ebenen, wie aus vielen Beiträgen hervorgeht. Den zentralasiatischen Staaten kommt durch das gemeinsame kulturelle wie sprachliche Sowjeterbe und die mannigfaltigen Verschränkungen auf politischer wie infrastruktureller Ebene also eine Sonderrolle zu.

Der Einfluss dreier Großmächte

Usbekistan scheint in China seinen großen Mentor gefunden zu haben. Nicht nur schaut sich der usbekische Präsident politische Strategien bei der Bekämpfung der Armut ab, er hat im Laufe der Pandemie auch seine Kontakte zum chinesischen Nachbarn intensiviert. Dieser hat sich inzwischen zum wichtigsten Investor entwickelt, kooperiert auf Ebenen von Militär und Strafverfolgungsbehörden und hat mit der Einrichtung eines Konfuzius-Instituts und eines Doppelmasters sogar einen Fuß in den usbekischen Bildungssektor gesetzt. Temur Umarov erinnert in „Usbekistans neue Chinapolitik“ jedoch eindringlich daran, wie jung diese Annäherung ist.

Alterprobt sind dagegen, das gilt nicht nur für Usbekistan, die Beziehungen zu Russland und der Türkei. Augenfällig wird dies in der nimmermüden Frage der Arbeitsmigration, handelt es sich bei Zentralasien doch um eine Auswanderungsregion. China stellt hier aufgrund der Sprachbarriere in keiner Weise eine Ausweichlösung für Russland und die Türkei dar, die auf diesem Feld die unangefochtenen Protagonisten bleiben. Der soziologisch tiefenscharfe Artikel „Legal, illegal, digital“ geht dieser dringlichen Frage auf den Grund und beleuchtet das Zusammenleben usbekischer Arbeitsmigranten in Mahallas aus einer überaus spannenden soziologischen Perspektive. Moskau wird dabei als xenophob und migrationspolitisch seit 2010 immer rigider portraitiert, das papierlose Arbeitsmigranten schamlos und unverhohlen in die Armee zu zerren versucht.

Ankara dagegen zieht Aufmerksamkeit mit einer freundlichen Migrationspolitik auf sich, doch aufgrund der hohen Inflation vermag es wirtschaftlich nicht zu imponieren. Dabei genießt die Türkei seit den 90ern a priori einen hervorragenden Ruf in Zentralasien, sei es durch Entwicklungsförderung, Textil-, Lebensmittel- oder Militärerzeugnisse. Eleonora Tafuro Ambrosetti beschreibt in ihrem Beitrag umfassend die türkische Soft- und Hard-Power und legt differenziert dar, welche Chancen die Türkei zukünftig in der Kooperation mit Zentralasien erwarten. Ein Vergleich mit China wäre aktuell jedoch unverhältnismäßig: Chinesische Firmen bauen in Zentralasien eifrig das Handelsnetz aus, chinesische sicherheitspolitische Kooperationen wie die mit Usbekistan, aber auch Kasachstan gehen in die Breite und Tadschikistan zeigt sich ideologisch angetan von der chinesischen Weltsicht

Auf vielen Ebenen verknotet

Unbestritten ist auch der anhaltende Einfluss Moskaus auf das politische Geschehen in Zentralasien. Kooperierende Geheimdienste, die zentralasiatische Staatsbürger auf russischem Boden ausliefern, die Einmischung in innere Konflikte wie die im Blutigen Januar 2022 in Kasachstan sowie in die Gesetzgebung zeugen alle von russischer Präsenz. Zudem ist die Frequenz nach Moskau bestehender Kontakte auf höchster Ebene enorm, wie Vladimir Ryžkov analysiert und herausstellt,  wie verwundbar die zentralasiatischen Staaten durch ihre Mitgliedschaft in GUS, OVKS und weiteren Organisationen sind.

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Dagegen ist das wachsende Misstrauen gegenüber Russland in einigen zentralasiatischen Staaten nur ein kleiner Stich, hält die bestehende Abhängigkeit sie doch davon ab, „Moskaus Vorgehen zu kritisieren“, wie Nurseit Niyazbekov in „Kasachstans Balanceakt“ konstatiert. Es entsteht der Eindruck, zentralasiatische Selbstbestimmung äußere sich bis dato überwiegend in verbalen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. So etwa, wenn Präsident Toqaev in Sankt Petersburg in aller Öffentlichkeit klare Kante bezüglich der Krim-Annexion und der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens zeigt oder in Butscha humanitäre Hilfsjurten „der Unbesiegbarkeit“ als Symbol ukrainisch-kasachischer Freundschaft errichtet. So beherzt Zentralasiens Auftreten, in diesem Beispiel Kasachstan, auch ist, es vermag nicht über die wirtschaftliche und militärische Verflechtung hinwegzutäuschen, wie Niyazbekov in seinem Beitrag herauskristallisiert.

Vom Austricksen und Austricksenlassen

Die EU hat ihre Rechnung augenscheinlich ohne diese engen zentralasiatischen Beziehungen zu Moskau gemacht, als sie 2022 die Sanktionen verhängte. Dass sich Zentralasien (neben China, der Türkei und weiteren) in der Konsequenz dieser zum Sanktionsschlupfloch entwickelt, wäre vorhersehbar gewesen, hat sich nun jedoch aufgrund des mehr als bemerkenswerten Ausmaßes zum Skandal entwickelt. Russland profitiert von seinen zentralasiatischen Handlangern, um die Nachfrage nach Kfz-Teilen, Elektrogeräten, Belade- und Fördertechnik und weiteren Waren zu decken. Eine Zweckentfremdung für die Militärindustrie liegt nahe. Wie exorbitant der Exportzuwachs in mancher Warengruppe seit dem Frühjahr 2022 zugenommen hat, deckt Felix Eick in „Drehkreuz Zentralasien“ auf. Die beigefügten Tabellen schockieren und schaffen Klarheit um diesen Eklat, dem sich in den deutschen Medien im ersten Kriegsjahr besonders die FAZ annahm. Doch die Daten von Osteuropa verraten noch etwas ganz anderes: Auch Deutschland muss als Exporteur gehörig vor der eigenen Haustüre kehren.

Der Sanktionsstreich erregte ein Aufsehen, von denen die Menschenrechtsfragen bei den Treffen europäischer Politiker in Zentralasien, wie der von Olaf Scholz 2024, nur träumen können. Das noch bis vor wenigen Jahren laute Werben um Demokratisierung der EU ist verstummt, stattdessen buhlt sie um zentralasiatische Rohstoffe, wie aus zahlreichen Beiträgen hervorgeht.

Von der Spielfigur großer Mächte zur Spielfigur des Klimawandels

Während sich die Region durch politische Diversifizierung allmählich aus mancher Klaue der russischen Großmacht zu befreien versucht, wartet eine andere bereits vor der Haustür: der Klimawandel. Die unheimliche Prognose eines fulminanten Temperaturanstiegs von 2,5 auf 6,5°C bis zum Jahr 2100 schreit förmlich nach einem Strukturwandel in der Energiewirtschaft. Noch lauter wird der Schrei, wenn Farkhod Aminjonov in „Energiewende gegen die Energiekrise“ die massenhaften Zusammenbrüche in der Strom- und Wärmeversorgung aufzählt, von denen während der letzten Winter alle fünf zentralasiatischen Ländern regelmäßig betroffen waren. Es sind Folgen der zu zentralisierten Energieversorgung, die obendrein über eine rekordverdächtig obsolete Infrastruktur verfügt.

Wer Energie sagt, kann von Öl, Gas und Kohle nicht schweigen. Eine Loslösung von diesen konventionellen Energieträgern ist nicht in Sicht, denn außer Turkmenistan planen alle Länder die Errichtung neuer Kohlekraftwerke. Kohle ist billig, weil im Überfluss vorhanden. In Kasachstan ist von Reserven für die nächsten 300 Jahre die Rede. Der Kohle den Rücken zuzudrehen, würde zudem viele in diesem Industriezweig tätigen Kasachstaner in eine prekäre Situation hineinstürzen, zeigen Tatiana Lanshina und Yana Zabanova in „Energiewende in Kasachstan“ auf.

Unbestimmte Zukunft

Klimaziele? Zuvorderst steht das Ziel, heimische Energieengpässe zu überwinden und die Versorgung zu dezentralisieren. Ein verständliches wie undankbares Ziel, das mit dem Pariser Klimaschutz-Abkommen jedoch erstaunlich kompatibel zu sein scheint, wie Aminjonov analysiert. In Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan kommt auch die Erdöl- und Gasförderung nicht zu kurz. Sie boomt und lockt Großkunden wie die USA, China, Russland und auch die Golfstaaten an. Gleichzeitig bergen die Geschäfte die Gefahr, neue Abhängigkeiten zu erzeugen. Roland Götz stellt in „Vorerst unverzichtbar“ die Schwierigkeiten im Gasgeschäft und die Absichten der jeweiligen Parteien in ihrer ganzen Breite vor und ergänzt seine Darstellung um substanzielle Karten und Diagramme.

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Dass die Energiewende in Zentralasien nur mit umfassender internationaler Kooperation und Unterstützung auf allen Ebenen eine Chance hat, zeigen Lanshina und Zabanova besonders am paradoxen Beispiel Kasachstans. Das Land sticht als einziges der fünf mit ernstzunehmenden Bestrebungen gegen den Klimawandel hervor und hat doch im Oktober 2024 erst ein mehrere Milliarden schweres Atomkraftwerkprojekt abgenickt. Ähnliches plant Usbekistan bereits seit 2020. Wie wird sich die Errichtung der Kraftwerke auf diese beiden gigantischen Uranproduzenten auswirken? Der zentralasiatische Tatbestand in puncto Klimaschutz diskreditiert die EU ein weiteres Mal, wird diese doch nicht müde, die Region als potenziellen Lieferanten „grüner“ Energie zu propagieren.

Wasser, wir brauchen Wasser

Den Gebirgsstaaten Kirgistan und Tadschikistan blüht mit fortschreitender Erderwärmung auch der Rückgang der Gletscher, der ab 2030 noch rapider voranschreiten wird. Das stellt auf den ersten Blick „nur“ die für beide Länder essenzielle Energieversorgung durch die Wasserkraftwerke auf die Probe. Auf den zweiten wird deutlich, dass ein beachtlicher Teil der zentralasiatischen Landwirtschaft, allen voran die usbekische, auf diese Ressource angewiesen ist. Hinter der landwirtschaftlichen Versorgung versteckt sich der Rattenschwanz von biologischer Vielfalt, Ernährungssicherheit und nicht zuletzt Armutsbekämpfung.

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Hat die viel bekräftigte „Politik der guten Nachbarschaft“ in Zeiten des Wassermangels bis dato gute Dienste geleistet, „selbst in Zeiten zwischenstaatlicher Konflikte“, so läuten seit kurzem zwei Großprojekte eine neue Phase der Wasserpolitik ein, geht aus der aufschlussreichen und multiperspektivischen Analyse von Jennifer Sehring und Timur Dadabaev hervor. Konkret handelt es sich um das afghanische Megaprojekt rund um den 285 Kilometer langen Kusch-Tepa-Kanal und den tadschikischen Rogun-Staudamm, dessen erste Pläne vor knapp 50 Jahren entstanden waren. Der usbekische Präsident Mirziyoyev hat sich in dieser konfliktbergenden Ausgangslage zum Vermittler auserkoren. Ein Lackmustest, nicht zuletzt für die Beziehungen zu Afghanistan, und eine große Herausforderung für die „brüderlichen“ Nachbarschaftsbeziehungen, stellen Dadabaev und Sehring fest.

Ein weißer Fleck im deutschen Journalismus

Die neue Osteuropa-Ausgabe glänzt darüber hinaus mit geschichtlich tiefgreifenden Analysen über die Konfliktherde in den Autonomen Gebieten Berg-Badachschan und Karakalpakstan. Auch innenpolitische Entwicklungen kommen nicht zu kurz: Andrea Schmitz‘ Artikel über die Gräben zwischen der säkularisierenden Religionspolitik des usbekischen Präsidenten und der fortschreitenden Islamisierung der jungen Gesellschaft beleuchtet die Dynamiken eines Landes im Umbruch; in „Das Volk und der starke Staat“ stellt Asel Doolotkeldieva das Image Kirgistans als „Insel der Demokratie“ auf den Prüfstand. Sie beleuchtet die gespaltenen Oppositionsbewegungen und den absurderweise demokratisch gewählten Weg „in Richtung Entwicklungsdiktatur“ unter Dschaparow. Rafael Aguirre Unceta knüpft mit Blick auf den Bergbau in Kirgistan an diese Sichtweise an.

Der Band ist nicht zuletzt ein superbes Zeugnis aktueller Ereignisse einer Region, die in der journalistischen Landschaft Deutschlands allzu oft die Rolle einer inhaltstrockenen Wüste einnimmt. „Sind in Zentralasien eingesetzte Auslandskorrespondenten eventuell schlicht Mangelware?“ Nicht einmal das, sie sind völlig inexistent, weder freie noch akkreditierte Journalisten der wichtigsten deutschen Medien haben einen Fuß in diesem Berichtsgebiet. Die Folge: Die Berichterstattung orientalisiert die Region, reproduziert die immergleichen Stereotypen und macht erst recht keinerlei Anstalten, über den politischen und wirtschaftlichen Horizont hinaus zu berichten. Dabei gäbe es allerlei Materie, von der Erinnerungskultur, die sich mitten im Wandel befindet, hinüber zu sprachkulturellen Fragen und den Einfluss des gesellschaftlichen Wandels auf Popkultur, sei es in der Musik-, Film- oder Stand-Up-Szene. Gemma Pörzgens Analyse „Ein weißer Fleck“ geht der Frage auf den Grund, worin diese kümmerliche mediale Ausbeute wurzelt.

Ein roter Fleck in Kasachstans Erinnerungskultur

An dieser Stelle zeigt „Osteuropa“, wie es besser geht, indem es die brandaktuellen gesellschaftlichen Debatten Kasachstans auf den Plan holt. „Dekolonisierung“ ist die Losung kasachstanischer Intellektueller und Wissenschaftler der ersten Stunde. Robert Kindler, Experte für die Hungersnot in den 30er Jahren, dessen Werk „Stalins Nomaden“ seit Kurzem sogar in kasachischer Übersetzung vorliegt, greift diesen Begriff in seinem Beitrag über „Erinnerung und Tabuisierung“ auf, und zeigt auf, inwiefern das Omertà um die Hungersnot, auf Kasachisch Aşarşylyq, der Angst vor einem geschichtspolitischen Alleingang, will heißen „ohne Moskau“, entspringt. Die Regierung agiert verklemmt, hält die Bildungseinrichtungen an der kurzen Leine und flüchtet sich in fadenscheinige Symbolpolitik.

Ein Jammer, denn nicht nur Journalisten, auch Künstler, allen voran Filmemacher, hinterfragen die Narrative um die Hungersnot immer mehr und möchten ihrer komplexen Geschichte größeren Raum einräumen. Kindler prophezeit, dass das duckmäuserische Verhalten der Regierung auf lange Sicht scheitern wird, doch legt er dabei wenig Optimismus an den Tag. Viel mehr argumentiert er, Kasachstan werde vorerst in dieser erinnerungspolitischen Sprach- und Ratlosigkeit verharren. Kindler legt nicht nur den Finger auf das bisher duckmäuserische Verhalten der Regierung, er geht auch der Frage nach, ob Kasachstan sich in Zukunft aus seiner erinnerungspolitischen Sprach- und Ratlosigkeit befreien wird.

Fazit

Mit diesem Heft ist es „Osteuropa“ äußerst gut gelungen, die aktuelle Lage in den zentralasiatischen Ländern multiperspektivisch unter die Lupe zu nehmen. Es wird deutlich, in welch rapidem und teils schwer vorhersehbarem Wandel sich die Gesellschaften der jeweiligen Staaten befinden und dass diese Dynamiken auch in Europa mehr Aufmerksamkeit verdienen. Die Beiträge liefern einmaliges empirisches Material, knüpfen aneinander an und bereiten die teils hochkomplexen Sachverhalte ausnahmslos in einer sehr angenehm lesbaren Sprache auf. Tabellen, Karten und weitere Verständnisstützen kommen zielorientiert zum Einsatz. Einzig und allein künstlerische und kulturelle Aspekte kamen etwas zu kurz, immerhin sind Autoren, aber auch Film-, Musik- und Medienschaffende in den letzten Jahren, besonders seit dem Krieg in der Ukraine, ganz besonders produktiv und experimentell zugange. Doch in einem so dichten und aufeinander aufbauenden Band ist auch nicht alles unterzubringen. Der „weiße Fleck“ Zentralasien erscheint nach dieser Lektüre sehr viel farbiger. Wir freuen uns auf weitere Beiträge über diese Region.

Arthur Siavash Klischat für Novastan

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