ENTSCHLÜSSELUNG. Zwei Repräsentanten der Europäischen Union haben zuletzt Zentralasien besucht. In dem neuen geopolitischen Kontext des Krieges in der Ukraine scheint eine Vertiefung der bilateralen Beziehungen eine Win-Win-Situation zu sein. Europa sucht neue Wege der Energieversorgung und auch die Länder Zentralasiens haben ein Interesse daran, ihre stark auf Russland konzentrierten Beziehungen zu diversifizieren. Analyse einer neuen europäischen Diplomatie.
Nachdem Chinas Präsident Xi Jinping im September nach Zentralasien gereist war, um die bilateralen Beziehungen auszubauen, sind es nun die Repräsentanten der Europäischen Union (EU), die die Region bereisen, um die Beziehungen angesichts des Kriegs in der Ukraine wiederzubeleben. Aber im Gegensatz zu China hat Europa viel mehr zu tun, insbesondere um neue Wege der Energieversorgung zu finden und so die eigene Abhängigkeit von Russland zu verringern.
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Am 26. Oktober besuchte der EU-Ratspräsident Charles Michel den EU-Zentralasien-Gipfel in Astana und flog dann weiter nach Samarkand, um dort das europäische Delegationsbüro in Usbekistan neu zu eröffnen. Am 18. November reiste dann Josep Borell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, ebenfalls nach Samarkand, um am dortigen Wirtschaftsforum teilzunehmen. In dessen Rahmen traf er die Außenminister der fünf zentralasiatischen Republiken.
Wachsende Ambitionen
Während des Besuchs von Charles Michel in Astana diskutierten beide Seiten die Verbesserung der Verkehrskorridore zwischen Europa und Zentralasien unter Berücksichtigung „der aktuellen geopolitischen Situation“, berichtet Radio Azattyq, der kasachstanische Dienst von Radio Free Europe. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine kündigte die europäische Delegation laut einem Bericht der Deutschen Welle an, dass ihre Interessen in Zentralasien vor allem wirtschaftlicher Natur seien, was insbesondere „kritische Rohstoffe“ betreffe.
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Seit der russischen Invasion in der Ukraine sieht sich Europa einer schweren Energiekrise mit einem starken Preisanstieg auf dem Öl- und Gasmarkt gegenüber. Die EU erneuert damit ihre Strategie in Zentralasien, die bisher insbesondere auf den 2015 unterzeichneten Abkommen über verstärkte Zusammenarbeit mit zentralasiatischen Ländern basiert.
Ein neues „Großes Spiel“?
Energie war dabei nicht das einzige Thema der Gespräche. So standen das Samarkander Wirtschaftsforum und das Treffen Borells mit den zentralasiatischen Außenministern unter dem Motto der Konnektivität. Der höchste europäische Diplomat sprach von den Vorteilen einer Annäherung an die EU im Rahmen der Global Gateway-Strategie, um eine „zu große Abhängigkeit“ von Russland zu vermeiden.
Europa will nun seine Rolle in einem „neuen großen Spiel“ in Zentralasien behaupten, analysiert The Diplomat. Die Herausforderung bestehe darin, mit dem russischen und chinesischen Einfluss zu konkurrieren, aber auch mit neu aufstrebenden Akteuren wie der Türkei, Iran und Indien.
Kasachstan als „entscheidender Partner“
Dabei setzt die EU vor allem auf Kasachstan. Charles Michel bezeichnete das größte Land Zentralasiens während seines Besuchs in Astana als „entscheidender Partner“ für die EU. Kasachstan ist bis heute der wichtigste Wirtschaftspartner der EU in Zentralasien. Unter anderem hat Astana über das deutsch-schwedische Unternehmen SVEVIND einen Vertrag mit Deutschland geschlossen und könnte bis zu 50 Milliarden Euro an Investitionen in die Produktion von grünem Wasserstoff bereitstellen. Dieser Wasserstoff wird in Kasachstan hergestellt, kommt aber auch Europa zugute, erklärt das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast.
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Kasachstan hat den Vorteil, ein rohstoffreiches und vergleichsweise stabiles Land zu sein. Die wiederholte Verurteilung des Krieges in der Ukraine macht das Land zu einem verlässlichen Partner der europäischen Staaten. Während des Besuchs [fr/ru] von Präsident Qasym-Jomart Toqaev in Frankreich sagte eine kasachstanische Regierungsquelle gegenüber AFP, dass das Land „die Integrität der Ukraine nachdrücklich unterstützt“.
Eine Region zwischen zwei Stühlen
Für die zentralasiatischen Länder ist es jedoch nicht einfach, sich eindeutig für die EU und gegen Russland zu entscheiden. Die Region ist wirtschaftlich und sicherheitstechnisch nach wie vor vom nördlichen Nachbarn abhängig. Zwar geht Kasachstan gegenüber Russland angesichts des Krieges in der Ukraine immer mehr auf Distanz, jedoch enthält es sich ebenso wie seine zentralasiatischen Nachbarn bei UN-Abstimmungen gegen den Krieg. Seinen ersten offiziellen Besuch als wiedergewählter Präsident stattete Toqaev Moskau ab, wobei er bekräftigte, dass Russland ein unverzichtbarer „strategischer Partner“ bleibe.
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Kirgistan, das wirtschaftlich stark von Russland abhängig ist, richtet sich weiterhin nach dem Kreml [ru/fr] und übernimmt eine ähnliche antiwestliche Rhetorik. Die anderen zentralasiatischen Präsidenten traten in den vergangenen Monaten weiterhin neben Wladimir Putin auf verschiedenen Gipfeln auf, wie jenen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) oder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Der kasachstanische Politologe Dosym Sátbaev betont jedoch in einem Interview mit AFP, dass Europa „eine großartige Gelegenheit“ geboten wird, seine Beziehungen zu den zentralasiatischen Republiken durch eine „geopolitische Neuausrichtung“ ihrer Beziehungen zu stärken.
Kaum Beachtung der Menschenrechtssituation?
Es bleibt abzuwarten, ob Europa die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Zentralasien vertiefen kann, ohne die Frage der Menschenrechte anzugehen. Während des Besuchs von Charles Michel in Kasachstan und Usbekistan appellierten vier internationale Menschenrechtsorganisationen an den Präsidenten des Europäischen Rates, „unverzügliche, unparteiische und wirksame Maßnahmen zur Untersuchung schwerer Menschenrechtsverletzungen zu fordern“.
Die bürgerlichen Freiheiten werden in Zentralasien in letzter Zeit immer wieder bedroht. Das harte Vorgehen gegen die Januar-Proteste in Kasachstan und die Amnestie, die den Sicherheitskräften gewährt wurde, veranlassten Charles Michel zu einem Kommentar, in dem er „die Bedeutung einer vollständigen, fairen und transparenten Untersuchung“ der Januar-Ereignisse betonte.
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n Bezug auf Menschenrechtsverletzungen in den anderen zentralasiatischen Ländern schweigt Europa, obwohl die Nachrichten besorgniserregend sind. In Usbekistan finden derzeit Gerichtsverfahren gegen Karakalpak:innen statt, die an den Demonstrationen vom Juli teilgenommen haben. Kirgistan geht hart gegen politische Gegner vor und Tadschikistan unterdrückt die Pamiri-Minderheit in der Autonomen Provinz Berg-Badachschan. Turkmenistan ist nach wie vor eine der geschlossensten Diktaturen der Welt. Angesichts der Dringlichkeit von Energiealternativen scheint Europa Fragen individueller und politischer Freiheiten zu ignorieren.
Emma Collet, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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