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Die Jeltoqsan-Unruhen 1986: Erinnerungen von Augenzeug:innen

Die blutig niedergeschlagenen Jeltoqsan-Proteste am 17. und 18. Dezember 1986 sind ein wichtiger Erinnerungsort in der jüngeren Geschichte Kasachstans. Bis heute sind die Ereignisse kaum aufgearbeitet, die Zahl der Toten liegt im Dunkeln. Anlässlich des Jahrestages hat „The Village“ Erinnerungen von Augenzeug:innen zusammengestellt.

Am 17. und 18. Dezember 1986 wurden Proteste der kasachischen Jugend von Regierungstruppen niedergeschlagen, Photo: kazpravda.kz (via The Village)

Die blutig niedergeschlagenen Jeltoqsan-Proteste am 17. und 18. Dezember 1986 sind ein wichtiger Erinnerungsort in der jüngeren Geschichte Kasachstans. Bis heute sind die Ereignisse kaum aufgearbeitet, die Zahl der Toten liegt im Dunkeln. Anlässlich des Jahrestages hat „The Village“ Erinnerungen von Augenzeug:innen zusammengestellt.

Vor fast 40 Jahren, am 17. und 18. Dezember 1986, protestierte die Jugend Kasachstans. Sie war empört über die Ernennung von Gennadi Kolbin zum Oberhaupt der Kasachischen SSR – eines Mannes, der noch nie in Kasachstan gelebt hatte. Für die jahrelang stagnierende Sowjetunion war dieser Protest ein einzigartiges Ereignis. Die Dezember-Unruhen [Jeltoqsan ist das kasachische Wort für Dezember, Anm. d. Ü.] in Almaty kündigten den Zusammenbruch der UdSSR an: Bald begannen überall in der Union Kundgebungen und Streiks.

Leider hat dies die Menschen in Kasachstan nicht vor der Brutalität des Regimes bewahrt. Die Sicherheitskräfte unterdrückten den Protest und Teilnehmende waren Repressionen ausgesetzt. Genaue Daten zur Zahl der Toten und Verletzten gibt es noch nicht. Offiziell starben nur zwei Menschen – der Demonstrant Erbol Sipataev sowie Sergei Savitski, ein Bürgerwehrmann, der die Miliz unterstützte. Nach verschiedenen Schätzungen könnten aber in Wirklichkeit bis zu 170 Menschen gestorben sein. In einigen Fällen geschah dies erst nach den Protesten: Beispielsweise starb Qairat Rysqulbekov, der zu Unrecht zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, während seiner Überstellung unter ungeklärten Umständen.

Wir [die Redaktion von „The Village, Anm. d. Ü] wollen die Jeltoqsan-Ereignisse verstehen und haben deshalb beschlossen, zwei Auffassungen der Ereignisse zu vergleichen: das Bild der Beamten bei Parteiversammlungen und das Bild, das normale Menschen auf der Straße sahen.

Beim Schreiben des Materials haben wir die Sammlung „Jeltoqsan. 1986. Dokumentarische Chronik“, zusammengestellt von Berik Abdigaliuly, ausgewertet. Wir haben uns auch auf die Ergebnisse der Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Mūhtar Şahanov und auf die von Arken Uaq gesammelten Zeugenaussagen gestützt.

Die Sicht der Behörden

„Genossen! Bürger der Stadt Alma-Ata! Viele von Ihnen haben in diesen Tagen beispiellose, sozial gefährliche Handlungen junger Rowdys erlebt, die von nationalistischen Elementen provoziert wurden. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt kommt es zu böswilligen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung, Beleidigungen und Gewalt gegen Unschuldige, zu Pogromen, Raubüberfällen und Brandstiftungen. Diese schädlichen Handlungen werden unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen begangen.

Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kasachstans, das Präsidium des Obersten Rates der Kasachischen SSR und der Ministerrat der Republik appellieren an Sie, Bürger der Hauptstadt, alle möglichen Maßnahmen zur Normalisierung der Lage in der Stadt zu ergreifen. Wir glauben, dass kein einziger Mensch, der die Ehre Alma-Atas schätzt, der Wiederherstellung der Ordnung und der Unterdrückung der Aktionen wütender Hooligans gleichgültig gegenüberstehen wird.

Wir sind zuversichtlich, dass die Arbeiterklasse, die arbeitende Intelligenz und die studentische Jugend der Stadt Alma-Ata hohe moralische und politische Qualitäten an den Tag legen und den besten Traditionen der Partei und des sowjetischen Volkes würdig sein werden.“

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Dieser Aufruf wurde im Dezember 1986 von wichtigen Regierungsstellen der Kasachischen SSR veröffentlicht. Sie reagierten damit auf Massenproteste junger Menschen, die über die Ernennung Gennadi Kolbins zum Oberhaupt der Kasachischen SSR empört waren. Der Aufruf wurde von allen wichtigen Beamten der damaligen Zeit unterstützt – einer von ihnen war Nursultan Nazarbaev, damals Vorsitzender des Ministerrats.

Auch einzelne Beamte kritisierten die protestierende Jugend auf das Schärfste. So bezeichnete der ehemalige Chef des kasachischen KGB, Zaqaş Qamalidıenov, sie als „eine massiv nationalistische Masse, wahnsinnig geworden durch Drogen und Alkohol“, und der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Rates, Salamat Mūqaşev, sagte, dass „Gerüchte über mutmaßliche Opfer unter den Studenten und Jugendliche eine provokative Fiktion“ seien.

Nazarbaev, der spätere Präsident Kasachstans, überredete die Demonstrierenden, ihren Protest aufzulösen, und nannte sie später „extremistische Jugend“ und „einen sozial ungesunden Teil der studentischen Jugend“. Er erklärte auch: „Welche tragischen Ereignisse? Das wahre Rowdytum ereignete sich am 18. [Dezember 1986].“

Insgesamt war die Reaktion der Behörden umfassend und hart. Sonderanweisungen wurden an alle Regierungsbehörden gesendet – vom Innenministerium und dem KGB bis hin zu Universitäten und Fabriken. Ihre Führungskräfte mussten sofort reagieren: Besprechungen mit Mitarbeitern abhalten, „Nationalismus“ unter den Untergebenen unterdrücken, Aufklärungsarbeit mit Jugendlichen leisten, Aufgaben und Trupps organisieren, „Disziplin und Ordnung“ herstellen.

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Natürlich wurden auch die Redner:innen gewaltsam unterdrückt. Daran waren sowohl die Miliz als auch die Armee beteiligt. Sie nahmen mehr als 8500 Menschen fest. Infolgedessen stellten die Behörden rund 900 Demonstranten vor Gericht, verurteilten 99 Personen zu unterschiedlichen Haftstrafen und über 600 wurden von Universitäten verwiesen oder von ihren Arbeitsplätzen entlassen. Offiziell wurden nur zwei Tote anerkannt – ein Demonstrant und ein Bürgerwehrmann.

In den folgenden Jahren änderte sich die Interpretation der Ereignisse nicht. Erst 1989 wurde unter der Leitung von Mūhtar Şahanov eine Sonderkommission eingesetzt, die eine Untersuchung der Ereignisse und den Freispruch der unschuldig verurteilten jungen Menschen forderte. Und ein paar Jahre später änderte auch Nursultan Nazarbaev seine Meinung: Er habe erkannt, dass die Demonstranten Recht gehabt hätten, und sei deshalb „mit ihnen an der Spitze der Kolonne“ gegangen.

Die Sicht der Menschen auf der Straße

Kasachstaner! Kasachen, Russen, Menschen anderer Nationalitäten! Das Leben zeigt, dass es zwischen uns keine ethnischen Gegensätze gibt. Ehrliche Menschen ALLER NATIONALITÄTEN erinnern sich voller Schmerz an die letzten Tage in sieben Regionen Kasachstans, als der engstirnige Schurke Kolbin zwei Tage lang mit hasserfülltem Blick anordnete, dass kasachische Studenten mit Polizeiknüppeln geschlagen werden sollten. Die Blüte der zukünftigen Intelligenz – 2.000 Studenten wurden in Kerker geworfen. Sie wurden als Hooligans, Alkoholiker und Drogenabhängige gebrandmarkt.

Offensichtliche Verleumdung! Die Menschen glaubten aufrichtig an die demagogischen Reden Gorbatschows, der behauptete, die Grundlage der Perestroika sei die offene Äußerung der eigenen Meinung. Die Menschen trugen Lenin-Porträts mit sich. Ihr einziger Wunsch war es, den von oben aufgezwungenen Kolbin loszuwerden.

Hat Kasachstan heute nicht das Recht, seine eigenen talentierten Führer in der Person von Qamalidıenov, Miroschchin und anderen zu nominieren, unabhängig von der Nationalität? Warum brauchen wir Gorbatschows Handlanger? Denn jetzt werden sie noch intensiver Fleisch, Wolle, Milch und Industrierohstoffe für den Bedarf der Moskauer Führer abpumpen – nicht für das russische Volk, nicht für die Arbeiter und Kollektivbauern!“

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Dies ist der Text zweier Flugblätter, die der Doktor der medizinischen Wissenschaften Irek Dauranov einige Tage nach den Jeltoqsan-Ereignissen veröffentlichte. Er war Augenzeugen der Auflösung der Proteste – vor seinen Augen wurden junge Menschen mit Wasser übergossen und mit Schlagstöcken geschlagen. Laut Dauranov versuchten einige Demonstranten, durch einen Eisenzaun zu fliehen, aber auch auf der anderen Seite warteten Sicherheitskräfte auf sie. Dadurch sei die Jugend auf beiden Seiten „ausgeprügelt worden wie ein alter Teppich“.

Kurz darauf stürmten bis zu zehn Menschen in das Haus des Wissenschaftlers. Er wurde verhaftet und mehrere Monate lang in einer Untersuchungshaftanstalt des KGB festgehalten, wobei ihm der Besuch seiner Familie verweigert und die Herausgabe von lebensnotwendigen Gütern verweigert wurde. Dauranov wurde angedeutet, dass er seine Familie und seinen Sohn nie wieder sehen würde. Da keine Beweis für ein Verbrechen vorlagen, ließen die Behörden ihn frei. Sie zwangen ihn aber, einen reumütigen Zeitungsartikel zu schreiben, und organisierten Schikanen am Arbeitsplatz.

Irek Dauranov war nicht der einzige zufällige Zeuge der Dezember-Ereignisse. Die Jeltoqsan-Untersuchungskommission befragte Hunderte Anwohner:innen rund um den Platz der Republik. Die Mehrheit der Befragten bestätigte, dass die Demonstrationen, die am 17. Dezember begannen, friedlich verliefen – die Teilnehmenden sangen Lieder, hielten Porträts Lenins und Parolen wie „Redefreiheit“, „Es lebe Lenins nationale Politik“ und „Jede Nation hat ihren Führer“. Viele Zeugen dachten sogar, dass auf dem Platz eine Art Feier stattfand.

Die Demonstrierenden forderten, dass [der von Kolbin abgelöste, Anm. d. Ü.] Dinmūhamed Qonaev und prominente Beamte ihnen Rede und Antwort stehen: Sie wollten eine Erklärung bekommen, warum eine Person „von außen“ zum Ersten Sekretär des Landes ernannt wurde. Nach und nach füllte sich der Platz mit neuen Demonstrierenden und Polizisten. Die Sicherheitskräfte wiederum forderten die jungen Menschen auf, sich zu zerstreuen. Kurz darauf begann das gewaltsame Vorgehen.

M. Z. Idrisov

„Am Morgen des 17. Dezember 1986 kam ich zur Arbeit. Unser Bürofenster zeigte auf den Platz. Dort versammelten sich etwa 2.000-3.000 Menschen. Einige trugen Slogans und Plakate. Einer davon lautete: „Lenin ideasy jasasyn!“ [„Lasst Lenins Idee wirken!“]. Die Polizei blockierte die Satpaev-Straße. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich etwa 10.000 versammelt. Die Versammelten forderten etwas. Gegen 18 Uhr sprach der Innenminister vom Podium aus. Er forderte die Menge auf, sich zu zerstreuen, andernfalls drohte er, sie mit Gewalt aufzulösen.

10–15 Minuten später griffen Soldaten mit Helmen und Schilden mit Schlagstöcken die unbewaffnete Menge an. Die Menschen begannen zu fliehen und gleichzeitig zum Schutz Bäume zu brechen und den Putz von den Häusern abzublättern. Den ganzen Tag über liefen russische Bürgerwehr-Jungs mit den Milizionären. Sie waren mit etwa einem Meter langen Stäben bewaffnet, mit denen sie gnadenlos auf die Demonstranten einschlugen.“

M. A. Zvontsov

„Ich habe keine rechtswidrigen Handlungen seitens der Versammelten gesehen. Am Abend versammelten sich organisierte Gruppen junger Leute auf dem Platz. Aus der Menge waren Rufe zu hören, die die Entscheidung des Plenums verurteilten, und es gab Parolen mit ähnlichem Inhalt. Auf dem Podium saßen Vertreter der Behörden, die beharrlich die Räumung des Platzes forderten und vor Gewaltanwendung warnten. Die Situation blieb jedoch einigermaßen ruhig, außer dass die Miliz von Zeit zu Zeit zwei bis drei Personen (meist Mädchen) aus der Menge schnappte und abführte.

Irgendwann griffen Feuerwehrautos die Menschenmenge mit Wasserwerfern an. Von diesem Moment an begannen die Unruhen. Die Menge warf Autos um und zündete sie an. Sie warf Steine ​​auf Soldaten und versuchte, das Gebäude des Zentralkomitees zu stürmen. Die Kadetten waren mit Pionierschaufeln bewaffnet.“

I. A. Bolbramski

„Bevor die Truppen eintrafen, verlief die Demonstration friedlich. Die Truppen stellten sich über die gesamte Breite der Straße auf und begannen, die Menge zurückzudrängen. Ein Militäroffizier, dessen Rang unklar war und dessen Schultergurte bedeckt waren, gab den Befehl und die Soldaten gingen los, um Menschen zu schlagen. Die Demonstranten legten sich hin und die Soldaten schlugen mit Stöcken und Pionierschaufeln auf sie ein. Liegende sollten nicht geschlagen werden, das ist meine Meinung. Und Frauen sollten auch nicht geschlagen werden. Ich war im Ausland, habe Demonstrationen gesehen und weiß, dass Menschen, die ihre Hand heben, nicht geschlagen werden. Es gab keinen Widerstand der Demonstranten.“

Viele Zeugen berichteten, dass die Situation auf dem Platz bis zum Eingreifen der Polizei ruhig blieb. Gleichzeitig fielen von Anfang an verdächtige Personen unter den Demonstrierenden auf: Sie riefen dazu auf, Russen zu verprügeln und die Fenster von Häusern einzuschlagen. Sie selbst warfen Autos um und brannten sie nieder. Die Mehrheit der Demonstrierenden folgte diesen Aufrufen nicht. Die Polizei nahm die Provokateure jedoch nicht fest, wie die Autoren der Umfrage anmerken.

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Als die gewaltsame Auflösung begann, sammelten die Jugendlichen Stöcke und Eisbrocken, um sich zu verteidigen. Es kam zu Zusammenstößen, bei denen Soldaten und Milizionäre mit Schlagstöcken auf sie einschlugen. Und mit Einbruch der Dunkelheit kamen die Feuerwehrautos zum Einsatz: In einer frostigen Dezembernacht begannen sie, kaltes Wasser über die Demonstranten zu gießen. Auf dem Asphalt bildete sich schnell Eis, sodass sie stürzten und verletzt wurden. Sie versuchten zu fliehen, wurden aber weiterhin verfolgt.

E. S. Aıtjanova

„In der Nacht nahmen die Ereignisse einen unheimlichen Charakter an. Die Kinder wurden mit Schlagstöcken die Furmanov-Straße […] lang getrieben. Zwischen 23 und 24 Uhr kamen Autos mit Hunden an, ich habe 15 oder 16 gezählt. Soldaten oder Milizionäre, ich weiß nicht – sie waren in Ziviluniform und stürmten durch die Eingänge, Keller, Dachböden und hielten bei jeder Tür an.“

M. Sabitov

„Am Abend des 17. Dezember trieb man die Demonstranten mit Feuerwehrautos auseinander. Aber die Demonstranten zündeten ein Auto an, weil es nicht mehr wert war als ihr Leben. Die Jungs und Mädels liefen nass und vereist in der Dezemberkälte über den Platz. Viele Menschen wurden geschlagen. Die Soldaten haben Schaufeln in den Händen, die Bürgerwehr hat Eisenstöcke mit Gummi an der Außenseite und die Polizei hat Schlagstöcke. Ich sah, wie ein Polizist einem Mann auf den Kopf schlug, der sofort anfing zu bluten. Die Henker zerrten ihn zum Bus. Zu diesem Zeitpunkt kam ein junges Mädchen angerannt und stürzte sich auf ihn. Die Henker schlugen und traten sie, danach zerrten sie beide zum Bus.“

S. J. Şarikbaev

„Am nächsten Morgen [18. Dezember] riegelten Truppen mit Knüppeln und Schilden den Platz ab. Zwischen 10 und 11 Uhr schlug man [den Demonstrierenden] vor, die Versammlung aufzulösen. Doch die Versammelten forderten, dass Regierungsmitglieder zu ihnen kommen sollten. Als Reaktion darauf begannen die Truppen sie zurückzudrängen. Es kam zu einer Schlägerei. Der Befehl ertönte und die Truppen setzten Schlagstöcke ein. Die Jugendlichen warfen Steine. Gepanzerte Fahrzeuge fuhren vor. Diese Auseinandersetzung dauerte etwa eine Stunde. Die Soldaten schlugen diejenigen, die sie einholten, mit Schlagstöcken auf die Köpfe. Bei den Läden „Bereke“ und „Golovnye Ubory“ wurden sie zusammengedrängt. Sie fielen aus einer Höhe von zwei bis drei Metern. Die heranstürmenden Soldaten zerrten sie in ihre Autos, und diejenigen, die fliehen wollten, wurden mit Schlagstöcken geschlagen und getreten.“

Familie Uşkempirov

„Mädchen wurden an den Haaren gezogen und geschlagen. Eine Gruppe Mädchen versteckte sich im vierten und dritten Stock auf den Balkonen (dort gibt es separate Durchgänge). Die Soldaten, die sie eingeholt hatten, schlugen sie und warfen sie vom Balkon. Wir haben gesehen, wie sie sich Arme und Beine gebrochen haben. Mit großen Schäferhunden durchsuchten sie überall die Eingänge.“

Die Proteste gingen am 18. Dezember weiter. Sicherheitskräfte zerstreuten die Demonstranten und jagten sie durch Eingänge und Gassen. Sie griffen auch wahllos Menschen an, die sich auf der Straße befanden – so wurde beispielsweise der Sekretär des Parteibüros Alibek Urinbaev geschlagen, als er am Abend des 17. Dezember mit seiner Frau spazieren ging. Er wurde am Kopf getroffen, zur Polizei gebracht und später aus der Partei ausgeschlossen und degradiert.

V. E. Kulikov

„Ich war zusammen mit dem Lehrstuhlleiter Jambaev im Wohnheim [des Kasachischen Landwirtschaftsinstituts], als sie an die Tür klopften. Das waren Leute in Armeeuniformen mit Schilden und Schlagstöcken. Jambaev öffnete die Tür leicht und erklärte ihnen, dass im Wohnheim alles ruhig sei. Der Kommandeur gab jedoch an, dass sie aus den Fenstern der oberen Stockwerke mit Flaschen beworfen worden seien, und verlangte, sie hereinzulassen.

Als Jambaev dem nicht Folge leistete, schlugen sie ihn mit einem Schlagstock auf den Kopf und verschafften sich Zugang zum Wohnheim. Dann drang Militär in die oberen Stockwerke ein. Einige der Studenten wurden geschlagen und beschuldigt, Flaschen geworfen zu haben. Ich habe versucht, mich an den Offizier zu wenden. Er sagte mir, ich solle mich nicht einmischen.“

K. A. Jambaev

„Die Soldaten, angeführt von einem Offizier, stürmten in den Raum und begannen, die Studenten mit Schlagstöcken zu schlagen. Uns Kasachen wurden beleidigende und demütigende Worte entgegengeschleudert. Soldaten mit Helmen, Schilden und Gummiknüppeln, in voller Kampfmontur, rannten in Gruppen über die Etagen des Wohnheims. Aufforderungen von Lehrern, Schüler nicht zu schlagen und der Willkür ein Ende zu setzen, halfen nicht. Vier Studenten kamen auf mich zu, von Soldaten geschlagen und schwer verletzt.“

Adikova

„Am 18. Dezember 1986 sahen mein Freund und ich durch das Fenster meiner Wohnung ein schreckliches Bild. Zwei Frauen – eine ältere, offenbar eine Mutter, und eine jüngere, eine Tochter – gingen die Baiseitov-Straße hinauf. Sie wurden von einem Militärangehörigen angehalten. Plötzlich schwingt der Soldat seinen Schlagstock und schlägt der jungen Frau mit aller Kraft auf den Kopf. Ihre Mutter schrie und verteidigte sie. Auch sie schlug er mit einem Schlagstock, doch sie fiel durch den Schlag nicht um und die junge Frau lag auf dem Boden im Schnee. Er packte sie und zerrte sie mit so großer Kraft die Treppe hinauf, dass er ihr den Mantel zerriss.

Weitere Soldaten näherten sich. Es war unmöglich, das ruhig zu betrachten, und mein Freund und ich rannten raus, auf sie zu und fingen an zu schreien. Dann näherte sich ein Soldat mit einer Pelzmütze, sagte etwas, und das Militär zog ab und ließ das Opfer regungslos am Boden liegen.“

N. Jusupbekov

„Am 18. Dezember 1986 kehrte ich nach der Arbeit ins Wohnheim zurück. Gegen 21:00 Uhr durchkämmten Soldaten das Gebiet mit Hunden und nahmen kasachische Jugendliche fest. Mädchen und Jungen rannten unter dem Fenster des Wohnheims entlang. Sie wurden von Soldaten mit Hunden verfolgt. Es war dunkel. Man konnte nicht sehen, wie sie festgenommen wurden, aber man konnte die schrecklichen, herzzerreißenden Schreie der Mädchen hören.“

Die Festgenommenen wurden in Haftanstalten gebracht, wo sie von der Staatsanwaltschaft, dem KGB und der Polizei verhört wurden. Bereits 1987 kamen Strafsachen im Zusammenhang mit den Protesten massenhaft vor Gericht. Auch administrative Aspekte wurden berücksichtigt. Die Behörden verlangten von den Sicherheitskräften Effizienz, und eine der Richter:innen sagte später, sie sei mündlich angewiesen worden, ausschließlich Haft anzuordnen und keine der Festgenommenen zu milderen Strafen zu verurteilen.

Abdulhamit Aledekeev, Staatsanwalt in einem der Fälle

„Diese Fälle wurden mit einer anklagenden Tendenz, hastig und routinemäßig untersucht, ohne die Umstände der Ereignisse zu spezifizieren, die sich direkt auf bestimmte Personen bezogen, welche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Daher wurde die Anklage wahllos und in allgemeiner Form erhoben. All dies war das Ergebnis des damaligen Drucks der Führungsebene der Staatsanwaltschaft der Republik und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans.

Dies führten zu einer falschen Einstufung der Straftaten einzelner Personen, die strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und rechtswidrig verurteilt wurden. Strafsachen wurden auf der Grundlage einer dem Fall beigefügten allgemeinen Bescheinigung untersucht, die von A.D. Myznikov (stellvertrender Staatsanwalt der Kasachischen SSR, Anm. The Village) unterzeichnet und in Kopie ausgestellt wurde. […] Darüber hinaus wurden Menschen, die nichts mit diesen Ereignissen zu tun hatten, massenhaft illegal festgenommen.“

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Die von der Kommission befragten Zeugen glaubten, dass die Behörden viele Möglichkeiten gehabt hätten, Gewalt zu verhindern – insbesondere, wenn Gennadi Kolbin, der neue Erste Sekretär, in einen Dialog mit der Jugend getreten wäre und ihre Forderungen besprochen hätte. Außerdem bestritten viele russischsprachige Zeugen empört, dass die Demonstrationen nationalistisch motiviert waren. Sie wiesen darauf hin, dass es während der Proteste keinerlei nationalistische Äußerungen von Seiten der Jugendlichen gab.

Es ist immer noch schwer zu sagen, welcher Beamte die größte Verantwortung für die blutige Niederschlagung der Demonstrationen trägt. Die kasachische Nomenklatura schob – wie Zaqaş Qamalidıenov – die gesamte Schuld auf Kolbin selbst, sein Gefolge und Vertreter des Kremls. Auch Moskauer Beamte wie Innenminister Wlassow wiesen die Vorwürfe zurück: Entscheidungen seien ihrer Meinung nach „vor Ort“ getroffen worden. Allerdings machten sie dafür auch Kolbin verantwortlich.

Doch selbst wenn kasachstanische Beamte wie Nursultan Nazarbaev und Salamat Mūqaşev tatsächlich von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen waren, protestierten sie in keiner Weise dagegen. „Keiner von ihnen protestierte gegen das rechtswidrige Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden, gegen deren Überschreitung ihrer Befugnisse“, fasste die Kommission die abschließende Bewertung der Ereignisse von 1986 zusammen. Die Mitglieder der Kommission stellten außerdem fest, dass die Führer der Republik „aktiv zur Umsetzung aller getroffenen Entscheidungen beigetragen“ hätten.

Weitere Bilder von den Jeltoqsan-Ereignissen findet ihr im Original-Artikel.

Nikita Shamstudinov für The Village

Aus dem Russischen von Robin Roth

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