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Bäıbişe und Toqal: erste und zweite Ehefrau in Kasachstan

Die Veröffentlichung von Auszügen aus den Memoiren Mein Leben des ehemaligen Präsidenten Nazarbaev entfacht erneut die Diskussion über Polygamie in Kasachstan.

Hochzeit Kasachstan
Eine muslimische Eheschließung in einer Moschee von Semeı, Kasachstan. Bild; Jerome Taylor/ Flickr

Die Veröffentlichung von Auszügen aus den Memoiren Mein Leben des ehemaligen Präsidenten Nazarbaev entfacht erneut die Diskussion über Polygamie in Kasachstan.

Am 1. Dezember erschien „Moja Schisn“ (Mein Leben), die Memoiren des ersten kasachstanischen Staatschefs Nursultan Nazarbaev. Einige persönliche Details waren allerdings auch schon vorher an die Öffentlichkeit gelangt. So besttätigt der ehemalige Politiker Gerüchte über eine Affäre, die seit über zwanzig Jahren im Land kursieren. Und er gesteht die Existenz einer zweiten Familie, bestehend aus seiner zweiten Frau Äsel Qurmanbaeva (früher Isabaeva) und den beiden Söhnen Tauman und Baıken besteht.

Was als Klatsch der Boulevardpresse abgetan werden könnte, wirft tatsächlich eine soziale Frage auf, die in Zentralasien an Bedeutung gewonnen hat. Es handelt sich also um weit mehr als eine persönliche Rechtfertigung der außerehelichen Beziehungen Nazarbaevs zur Imagepflege nach seiner völligen Entmachtung. Mit diesem Bekenntnis trägt er dazu bei, die Polygamie zu verharmlosen.

Der rechtliche Status der Polygamie

Zunächst ist es wichtig, zwischen den Begriffen „Polygynie“ und „Polygamie“ zu unterscheiden. Polygynie bezeichnet außereheliche Affären, während Polygamie ein Ehesystem bezeichnet, in dem eine Person gleichzeitig mit mehreren Ehepartnern verbunden ist.

Polygamie ist in allen zentralasiatischen Staaten illegal. Nur in Kasachstan wurde sie 1998 entkriminalisiert, berichtet der US-amerikanische Sender Radio Free Europe. In der Praxis ist die Existenz von Erst- und Zweitfrauen, auf Kasachisch Bäıbişe und Toqal, rechtlich nicht vorgesehen. Die Standesämter dürfen keine Ehe eintragen, wenn einer der beiden Partner bereits zivil verheiratet ist. Bei der zweiten, dritten oder vierten Ehe, die nach klassischer muslimischer Rechtsauffassung zulässig ist, wird die Nikah oder religiöse Hochzeit im kleinen Kreis gefeiert und nur von einem Imam offiziell bestätigt.

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Allerdings gab es in den letzten zwei Jahrzehnten mehrfach Anläufe Versuche, die Polygamie auch zivilrechtlich zu legalisieren. So schlug der Abgeordnete Amangeldı Aitaly 2001 eine Änderung des Familien- und Ehegesetzes vor, die die Polygamie vollständig legalisiert hätte. Nachdem sein erster Versuch abgelehnt worden war, scheiterte er im Jahr 2008 mit einem zweiten Anlauf erneut, wie Radio Free Europe berichtete. Für die Befürworter der Polygynie gibt es zwei Hauptargumente für die Demokratisierung der Polygamie. 

Je mehr Ehen, desto weniger Scheidungen?

Das erste Argument für die Polygamie hat mit dem sozialen Status zu tun. Ehe und Familie spielen für viele Menschen in Kasachstan eine zentrale Rolle, eine Zukunft ohne Kinder und Heirat ist in diesem Verständnis kaum vorstellbar. Es überrascht nicht, dass vor allem Frauen für die Einhaltung „traditioneller“ Normen verantwortlich gemacht werden. Das ist auch der Broschüre „„Ehe- eine knifflige Angelegenheit. Wählen Sie ihren Partner fürs Leben! zu entnehmen, die 2019 auf Staatskosten herausgegeben wurde, um jungen Mädchen „die Pflicht einzutrichtern, alles zu ertragen und ihre Ambitionen, die perfekte Ehefrau zu werden, aufzugeben“.

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Die Ehe steht in Kasachstan für Lebensqualität. Der soziale Status beider Geschlechter hängt von diesem Lebensabschnitt ab. Doch während viele Kasachen bereits in jungem Alter heiraten, lassen sie sich auch früh wieder scheiden, wie die Veröffentlichungen von Hélène Thibault, Forscherin an der Nazarbaev-Universität in Astana, zeigen. Laut Daten der Vereinten Nationen hat Kasachstan eine der höchsten Scheidungsraten der Welt. Zwischen 2014 und 2019 wurde jede dritte Ehe geschieden.

Eine Scheidung ist zwar kein Tabu mehr, da sie sehr häufig vorkommt, aber immer noch verpönt, da sie als „Versagen oder Ausdruck von Egoismus“ angesehen wird, wie Thibault erläutert. Wer unverheiratet, geschieden oder kinderlos ist, läuft Gefahr, diesem sozialen Stigma ausgesetzt zu sein. Vor diesem Hintergrund ist die Legalisierung der Polygamie für ihre Befürworter ein Mittel, um der steigenden Scheidungsrate im Land entgegenzuwirken und das Bild der kasachischen Familie wieder „aufzupolieren“.

Der Schlüssel zu einer stabilen Demografie

Befürworter der Polygamie argumentieren zudem, dass diese Praxis dazu beitragen könne, die Geburtenrate zu erhöhen und eine demografische Krise zu vermeiden. Offizielle Statistiken aus dem Jahr 2014 zeigen ein „geringes, aber signifikantes“ demografisches Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Männer (48,27 Prozent) und der Anzahl der Frauen (51,72 Prozent) in der Bevölkerung Kasachstans.

Manche Stimmen behaupten, Männer könnten über die Nachkommenschaft mehrerer Frauen die Geburtenrate in Kasachstan erhöhen und auf diese Weise das demografische Problem lösen.

Beziehungskonsum

Jüngste Untersuchungen zeigen auch, wie die Globalisierung der Bevölkerung ihren modernistischen Stempel aufgedrückt hat, der zu einem Freiheitsdrang im Beziehungsleben geführt hat. Die Nutzung neuer Technologien hat Kasachstan einerseits allmählich in eine Kultur des Beziehungskonsums geführt. Dank sozialer Netzwerke ist es ein Leichtes geworden, Ferngespräche oder -beziehungen zu führen. Immer mehr Männer und Frauen wollen „Erfahrungen sammeln“. 

Andererseits haben viele Frauen in der Polygynie einen Weg gefunden, der Rolle der Hausfrau zu entkommen. In einem Interview, das Hélène Thibault 2020 führte, erklärte eine Tokal, d.h. eine Zweitfrau, dass sie „keine Lust hatte, die Rolle einer traditionellen Ehefrau zu spielen, die nur dazu da ist, ihrem Mann oder, schlimmer noch, ihrer Schwiegerfamilie zu dienen, im Austausch für materiellen Komfort.“ Sie weigerte sich, bei den konservativen Eltern ihres Mannes zu leben, weil sie nicht deren „Putzfrau“ sein wollte. Ihr Partner heiratete daher schließlich eine dritte, jüngere Frau, um sich um seine Eltern zu kümmern.

Gesellschaftliche Rollen werden neu verhandelt

In der Praxis ermöglicht die Polygynie bzw. die Legalisierung der Polygamie kasachischen Frauen unter anderem, ihren Platz und ihre Rolle in Familie und Gesellschaft flexibler auszuhandeln. Für Thibault stellt die Polygynie „für einige Frauen bereits eine Möglichkeit dar, ihre Unabhängigkeit in ihren Beziehungen zu bewahren“.

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Auch wenn noch keine neuen politischen Verhandlungen geplant sind, ist die Zunahme der Praxis eklatant. Die Geständnisse des ehemaligen Präsidenten Nazarbaev tragen weiter zu ihrer Normalisierung bei. Sie sind „nur einer von vielen Hinweisen darauf, dass Polygamie in Kasachstan zu einem wiederkehrenden und relativ alltäglichen Thema geworden ist“, erklärt Thibault.

Laut der Expertin gibt es jedoch nach wie vor viele Widerstände „wegen des Bezugs zur Religion und der wahrgenommenen Verletzung des säkularen Charakters des Staates“. Darüber hinaus wirft die Einseitigkeit der Polygamie, die nur Männern erlaubt, mehrere Partnerinnen zu heiraten, weiterhin die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter in Kasachstan auf.

Candice Vavon
Redakteurin für Novastan

Aus dem Französischen von Arthur Siavash Klischat

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