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Repression in der Sowjetunion: Kasachstan gibt 2,4 Millionen Akten frei

Die Identifizierung und Rehabilitation von Opfern der Repressionen zwischen den 1920er und 1950er Jahren wird in Kasachstan fortgesetzt. Das Land, selbst Endpunkt vieler Deportationen, erlebte die Dezimierung seiner Eliten und ist nun dabei, seine Narben zu heilen.

Ein Denkmal für Opfer der Repression im ehemaligen Lager Aljir in der Nähe von Astana, Photo: Wikimedia Commons

Die Identifizierung und Rehabilitation von Opfern der Repressionen zwischen den 1920er und 1950er Jahren wird in Kasachstan fortgesetzt. Das Land, selbst Endpunkt vieler Deportationen, erlebte die Dezimierung seiner Eliten und ist nun dabei, seine Narben zu heilen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Kasachstans hat am 18. September bekanntgegeben, mehr als 2,4 Millionen Akten über Opfer von Repressionen, die zwischen 1929 und 1956 verurteilt wurden, freizugeben. Ein Teil dieser Akten betrifft Menschen, die in den 1940er Jahren aus verschiedenen Regionen der Sowjetunion nach Kasachstan deportiert wurden.

251.000 Akten wurden in die Präsidialarchive überführt und sollen in Kürze interessierten Kreisen zur Verfügung gestellt werden. Bis Jahresende sollen weitere 265.000 Akten hinzukommen. Darüber hinaus wurden die Urteile gegen 311.000 Menschen aufgehoben und diese Opfer somit vollständig rehabilitiert.

Die Entschlossenheit der sowjetischen Behörden, das von Nomad:innen bevölkerte Steppenland Kasachstan in eine Kornkammer und ein Industriezentrum zu verwandeln, sowie die Gleichschaltung der politischen und intellektuellen Eliten Kasachstans stellte ein Hindernis für die sowjetische Kontrolle dar und führte zum Tod von Millionen Kasach:innen.

Streben nach Gerechtigkeit

Ein Trauma für ein Land, das nicht erst mit der Unabhängigkeit begann, sich seiner Vergangenheit zu erinnern. Im November 1988 hielt der Historiker Manash Qozybaev einen Vortrag, in dem er sich zum ersten Mal öffentlich mit den Todesursachen der kasachischen Bevölkerung im großen Stil während der Kollektivierung und Entkulakisierung befasste.

Seit dem Gesetz vom 14. April 1993 zur Rehabilitierung der Opfer politischer Massenrepressionen haben sich jährliche Gedenkfeiern rasch etabliert. Einige Angehörige der Opfer kritisierten 2018 den Präsidenten für die Beschränkung auf Gedenkfeiern und forderten eine öffentliche Debatte über das Thema.

Systematische Repressionen

Sabyr Qasymov, Leiter der 2020 per Präsidialdekret gegründeten Staatskommission für die umfassende Rehabilitation von Opfern politischer Repression, erklärte im Mai gegenüber der Zeitung „Kasachstanskaja Prawda“, dass sich aus den bereits freigegebenen Dokumenten eine unversöhnliche Beobachtung ergebe: „Der massenhafte Tod der Bevölkerung war unvermeidlich und vorherbestimmt.“

„Die Materialien bezeugen, dass die Haltung, das systematische und konsequente Vorgehen der Behörden ein bestimmtes Ziel verfolgte – die Zerstörung des kasachischen Aul (Dorfes) als sozioökonomische Gemeinschaft und etablierte Lebensgrundlage der Menschen“, so Qasymov.

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Laut der Historikerin Sarah Cameron führte die erzwungene Sesshaftmachung und die Beschlagnahmung von Vieh zum Tod von mehr als einem Viertel der kasachischen Bevölkerung. Schätzungen gehen von 1,5 bis 2,1 Millionen Toten aus. Zu dieser Zahl kommen noch die 1 bis 2 Millionen Kasach:innen, die vor Hunger flohen.

Dezimierte Eliten

Die Repressionen gegen die Landbevölkerung führten schnell zu Protesten in der kasachischen Gesellschaft. Politiker:innen und Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft gerieten schnell ins Visier, mal als „Volksfeinde“, mal als „Konterrevolutionäre“. „Die Kasachen wurden doppelt unterdrückt. Als Bürger und als Verteidiger der Rechte und Interessen des kasachischen Volkes“, fährt Sabyr Qasymov fort.

Der Große Terror von 1937–1938, der Höhepunkt der Repressionen, raffte fast die gesamte kasachische Intelligenz dahin. Die Alash Orda, das politische Organ einer Bewegung, die die Autonomie Kasachstans anstrebt, wurde dezimiert. Fast alle ehemaligen Mitglieder der Alash Orda [kasachische Unabhängigkeitsbewegung während des Russischen Bürgerkrieges, Anm. d. Red.] wurden verhaftet, deportiert oder erschossen, weil ihnen „bürgerlicher Nationalismus“ vorgeworfen wurde. Der Dichter Ahmet Baıtursinuly und der Schriftsteller Álihan Bókeıhan wurden 1937 erschossen, Sáken Seıfullin und Maģjan Jumabaı, die als Pioniere der kasachischen Literatur gelten, 1938. Der Schriftsteller Mirjaqyp Dulatuly starb 1935 während der Deportation.

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Massengräber der Erschossenen wurden zufällig entdeckt, wie 1989 bei Janalyk in der Nähe von Almaty. In Janalyk befindet sich heute ein Museum für die Opfer politischer Repressionen. Im Jahr 2018 wurde eine Gedenktafel mit den 4.125 damals identifizierten Namen angebracht, berichtet die kasachstanische Presseagentur Zakon. Einige der Erschossenen wurden von den sowjetischen Behörden nach der Chruschtschow-Rede von 1956 rehabilitiert, weitere folgten in den 1980er Jahren, in den letzten Jahren der Sowjetunion.

Endpunkt der Deportation

Koreaner:innen, Wolgadeutsche, Pol:innen, Tschetschen:innen, Ingusch:innen… Die Deportationen waren so massiv, dass die Kasach:innen in ihrer Republik zur Minderheit wurden. Als ein Erbe der Deportationen vereint Kasachstan heute nicht weniger als 124 Nationalitäten. Kasach:innen machen dabei 70,6 Prozent der Bevölkerung aus, wie die nationale Statistikbehörde im Mai bestätigte.

Eine Arbeitsgruppe der Staatskommission kam zu dem Schluss, dass der wissenschaftliche Ansatz allein nicht ausreiche. Sie wies auf die Notwendigkeit hin, die Gesetzgebung einzubeziehen. Die Verabschiedung von drei Gesetzentwürfen würde laut Sabyr Qasymov die vollständige rechtliche Rehabilitation der Opfer gewährleisten. Die Landbevölkerung, politische, religiöse und kulturelle Persönlichkeiten und schließlich die Deportierten und ihre Nachkommen seien die Gruppen, die von diesen drei Gesetzestexten betroffen seien.

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„Diese drei Gesetzentwürfe werden, wenn sie vom Parlament verabschiedet werden, die Erfüllung der vom Staatsoberhaupt gestellten Aufgaben zur vollständigen Rehabilitierung der Opfer politischer Repression garantieren“, meint Qasymov. Er wolle kein Volk, Land oder Nation beschuldigen, verantwortlich sei allein das totalitäre System.

Neben einer moralischen Verpflichtung beinhaltet die Rehabilitation auch eine materielle Komponente in Form einer finanziellen Entschädigung. Zwischen 2003 und 2020 seien laut Fergana News fast 15 Milliarden Tenge (rund 33 Millionen Euro) an Opfer der sowjetischen Willkür gezahlt worden.

„Unser Hauptziel ist die vollständige Rehabilitierung der unschuldigen kasachischen Opfer und derjenigen, die unter politischer Repression gelitten haben“, erklärt Sabyr Qasimov. „Dies ist ein Test für die Weisheit und Moral der kasachischen politischen Elite, einschließlich der Volksvertreter an der Macht und uns.“

Eléonore Darasse für Novastan

Aus dem Französischen von Robin Roth

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