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Usbekistans Öffnung und ihre „roten Linien“

Nach Ansicht des unabhängigen usbekischen Politikwissenschaftlers Rafael Sattarow lässt die Öffnung Usbekistans nicht ganz über einen Präsidenten mit autoritärer Vergangenheit und ohne wirkliche Ideologie hinwegsehen. Das Interview im russischen Original erschien zuerst im Juli 2017 auf CABAR.asia.

Schawkat Mirsijojew Usbekistan
Usbekistan liberalisiert sich, jedoch unter Kontrolle des Präsidenten Schawkat Mirsijojew

Nach Ansicht des unabhängigen usbekischen Politikwissenschaftlers Rafael Sattarow lässt die Öffnung Usbekistans nicht ganz über einen Präsidenten mit autoritärer Vergangenheit und ohne wirkliche Ideologie hinwegsehen. Das Interview im russischen Original erschien zuerst im Juli 2017 auf CABAR.asia.

In seinem Gespräch mit CABAR.asia erklärt der Politikwissenschaftler Rafael Sattarow die Entwicklung der usbekischen Innen- und Außenpolitik. Für den Forscher ist der seit Dezember 2016 amtierenden Präsident Schawkat Mirsijojew bei aller Öffnung des Landes kein Revolutionär.

Präsident Schawkat Mirsijojew bleibt ein klassischer autoritärer Machthaber, aber in seiner Weltanschauung scheint er sich an Modellen autoritärer Modernisierung zu orientieren, wie man sie von einigen Ländern Südostasiens kennt“, schätzt Sattarow.

CABAR.asia: Die Währungspolitik ist ein zentrales Thema in Usbekistan und war auch Thema von Verhandlungen zwischen Usbekistan und dem internationalen Währungsfonds. Die Europäische Union (EU) erwähnt zudem Usbekistans Beitritt zur Welthandelsorganisation als Voraussetzung für Investitionen.  Geht Usbekistan zu schnell in Richtung Offenheit und Liberalisierung?

Rafael Sattarow: Usbekistan muss sich schnell entwickeln. Wir haben zu lange beobachten müssen, wie unser Land in Sachen Ausbildung zurückblieb und sich nicht ausreichend in die moderne Welt integrierte. Korruption, Nepotismus und wirtschaftliche Konglomerate verschlossen den Zugang zu neuen Technologien.

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Ich finde, besonders bei Wirtschaftsreformen sollten wir nicht zögern. Bei sinkenden Einkommen und Bruttoinlandsprodukt kann man Stabilität nicht lange wahren, zudem hat das Land auch technologischen Nachholbedarf. Unser Land hat schon viele Möglichkeiten verpasst, eine unangebrachte Vorsicht würde nur noch mehr schaden.

Die innere Lage Usbekistans legt eben nahe, die Liberalisierung und den Bau einer offenen Gesellschaft nicht hinauszuzögern. Aber es wäre falsch, Mirsijojew jetzt als usbekischen Gorbatschjow zu bezeichnen. Jeder in der Verwaltung ist sich der berüchtigten roten Linien bewusst, versteht aber auch, dass das Land Veränderungen braucht, denn jeder Bereich hat viele Probleme, die man operativ lösen muss.

Im Mai 2017 wurde das Arbeitsministerium in „Ministerium für Beschäftigung und Arbeitsbeziehungen“ umgewandelt. Auch an einem neuen Gesetzentwurf „Über Arbeitsmigration“ wird gearbeitet. Sind das nur Scheinmaßnahmen oder steckt mehr dahinter?  

Scheinmaßnahmen sind es kaum. Während seines Besuchs in der Stadt Dschissach  nannte der ehemalige Präsident Islam Karimow die usbekischen Arbeitsmigranten in Russland „Faulenzer“, die die Moskauer Straßen für Groschen kehren würden. Dementsprechend sah auch die offizielle Position der usbekischen Behörden aus. Es war, als existierten Arbeitsmigranten nicht. Dabei schickten sie allein im Jahr 2016 mehr als 2,7 Milliarden Dollar Rückzahlungen nach Usbekistan. Und das sind nur die offiziellen Daten, die zum Beispiel die sogenannte „Volkspost“ (wenn Geld über Vertrauenspersonen übergeben wird) nicht miteinbeziehen.

Tasdschikische Migranten in Russsland
Tadschikische Migranten beim Büro von Izzat Aman

Im April 2017 wurde endlich ein Abkommen zwischen Russland und Usbekistan unterzeichnet, das die Arbeit saisonaler Migranten aus Usbekistan in Russland organisieren soll. Meine Position zur Arbeitsmigration ist eindeutig: Kein Abkommen wird usbekische, tadschikische oder kirgisische Migranten vor Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung in Russland retten. Das ist sehr demütigend für uns alle.

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Es ist höchste Zeit für unsere Behörden, die Migration nicht mehr als Ausrede aus ihrer sozialen Verantwortung zu sehen. Stattdessen sollte sie am Investitionsklima und an den Arbeitsplätzen vor Ort arbeiten. Solange das Investitionsklima im Land sich nicht bessert, wird es Fälle von verbrannten jungen Frauen oder verunglückten Migranten geben. Das mag sehr emotional klingen, aber ich habe schon an zwei Beerdigungen von Klassenkameraden teilgenommen, die bei Bauarbeiten in Russland und Kasachstan verunglückt sind. Solange „weise“ Wirtschaftswissenschaftler Migration als überflüssige Arbeitskraft darstellen, statt als genötigte Migranten, die in Angst in einem fremden Land leben, werden wir noch viele erniedrigende Bilder aus Russland erhalten.

Auch in den Medien sind Änderungen zu beobachten. Beim Pressetag am 27. Juni sagte der Präsident, „ein echter Journalist [würde] Korruption und andere schmerzhafte Probleme der Gesellschaft aufgreifen“. Rhetorik und Sprache der usbekischen Medien haben sich geändert. Können die usbekischen Medien ihr Publikum erweitern und eine ausgeglichene Berichterstattung aufbauen?

Es gibt zweifellos Chancen, aber nur zu bestimmten Bedingungen. Vor allem muss der journalistische Nachwuchs gut ausgebildet werden. Bei allem Respekt vor manchen Journalisten, kann man nicht sagen, dass die meisten usbekischen Journalisten besonders qualifiziert seien. Man kann sie Propagandisten nennen, aber nicht echte Journalisten mit unabhängigen Positionen.

Ist man gezwungen, lange Zeit mit Zensur und Selbstzensur zu arbeiten, ärgert man sich zuerst, dann gewöhnt man sich daran, und schließlich kann man ohne diese Elemente nicht leben. Viele sind es gewohnt, Nachrichten wie „Berichte aus dem Paradies“ darzulegen. Trotzdem gibt es einige Internetmedien, die ihr Publikum sehr schnell erweitern, indem sie hochwertige Inhalte veröffentlichen und sich ständig weiter professionalisieren.

Kiosk Zeitungen Usbekistan Taschkent
Vor einem Kiosk in Taschkent, Usbekistan

Wie mir scheint, haben die usbekischen Medien viel Potential. Es müssen nur angemessene Bedingungen für ihre freie Entwicklung geschaffen werden und ihre neugewonnene Freiheit sollte nicht im Keim erstickt werden, sobald ein Artikel irgendeinem Beamten oder seinem Verwandten nicht gefällt.

Traditionell haben die Sicherheitsorgane in Usbekistan eine weitgehende Vollmacht. Nun wird die Arbeit der Polizei immer mehr reglementiert und seit Mai gibt es sogar eine Hotline gegen Machtmissbrauch seitens der Polizeibeamten. Zeigt das, dass Mirsijojew auf das Image eines modernen Reformators setzt?

Die Sicherheitsorgane sind nach wie vor in allen Sphären vertreten. Mirsijojews erste Schritte, noch als Interimspräsident, galten der Umgestaltung der wirtschaftlichen Spielregeln Usbekistans. Seine erste Anordnung widmete er dem Unternehmertum, „der weitgehenden Sicherheit des Privateigentums und der qualitativen Verbesserung des Geschäftsklimas“. Dieses Dokument sollte es den Beamten und Sicherheitsorganen verbieten, sich weiter in Geschäfte einzumischen.

Es gab Treffen von über tausend Geschäftsleuten mit Gouverneuren, Vertretern der Steuerbehörden, der Generalstaatsanwaltschaft und des Innerministerium. Die Vertreter der Sicherheitsorgane versprachen, sich nicht weiter in Privatgeschäfte einzumischen und sie gar zu unterstützen. Im Gegenzug sollen diese verantwortlich und ehrlich arbeiten.

Aber die Willkür der Beamten hat sich kaum verringert, besonders zu Lasten kleinerer Unternehmen. Laut verschiedener Informationsquellen finden sich sogar noch neue Methoden der Enteignung, besonders bei Mietwohnungen in der Hauptstadt Taschkent. Eine Vertrauensnummer hat es schon immer gegeben, sie war aber von geringem Nutzen.

Auch ein weiteres Ereignis erregte im Juni die Politik: Der Vizepremierminister Rustam Asimow, eine wichtige politische Figur, wurde seines Amtes enthoben. Ist das eine einfache Personalentscheidung oder das Anzeichen einer Befreiung des politischen Feldes von möglichen Konkurrenten?

Wohl eher die Beseitigung der alten Elite durch eine Neue, wobei „neu“ hier sehr relativ ist.  Viele Schlüsselspieler nehmen eine abwartende Haltung ein und schwimmen mit der Strömung. Sie verstehen gut, dass ihr Schicksal von den Entscheidungen eines Einzelnen abhängt. Karimows Kernpersonal und seine Lieblinge verlassen Stück für Stück die Bühne. Manche gehen in Rente, wie Tatjana Guskowa, eine wichtige Figur im Finanzsystem, andere kriegen noch ein Staatsbegräbnis, wie der langjährige Direktor der Zentralbank Faisulla Mulladschonow.

Asimows Entlassung ist wohl eher die Befreiung von einem ehemaligen Thronanwärter. Unter Karimow galt er als de facto Premierminister und nahm an mehreren internationalen Treffen teil, auf denen eigentlich der damalige Premierminister Mirsijojew das Land vertreten sollte.

Ein Gebäude der Ölfirma Usbekneftegas in Taschkent
Ein Gebäude der Ölfirma Usbekneftegas in Taschkent

Im September 2016 gab es viele Indizien dafür, dass Asimow Premierminister werden könnte. Ich fuhr damals nach Fergana und hörte von lokalen Verwaltungs- und Bankangestellten, Asimow nähme an Treffen teil, in denen zuvor nur Mirsijojew als Premierminister saß. Es gab bestimmt in  Elitekreisen Absprachen, dass Mirsijojew Präsident wird und Asimow Premierminister. Aber als Mirsijojew sich seiner Macht sicher war, entschied er sich, seinen Konkurrenten zu entlassen.

Betrachtet man Mirsijojews Mentalität und Arbeitserfahrung, was wäre für ihn die Grenze für Liberalisierung und Reformen. Wohin möchte er das Land bewegen und was sind seine Modelle dafür?

Mirsijojew ist ein Politiker ohne Ideologie. Dafür ist er aber ein Populist, im klassischen autoritären Sinne. Seine Arbeit weist ein paar gegensätzliche Züge auf. Manche sehen in ihm einen treuen Nachfolger Karimows, der die Politik seines Vorgängers nur mit neuen Methoden weiterführt. Demnach ist die Liberalisierung die Folge der Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Grundlagen Usbekistans. Andere meinen, seine Politik stehe im Gegensatz zu der Karimows und er verändere die Gestalt und das Image des Landes. Beide Positionen haben ihre Grundlagen, letztendlich ist die Entscheidung Geschmackssache.

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Wie ich erwähnte, hat Mirsijojews Liberalisierung eine rote Linie. Manchmal orientiert er sich an seinen Emotionen, ernennt jemanden auf einen hohen Posten, den er danach vor lauter Enttäuschung öffentlich rügt. Selbst wenn er seinen Ministern droht, wenn sie auf Anfragen der Abgeordneten nicht eingehen, hinterfragt niemand, warum Politik durch mündliche Erlässe und nicht durch Gesetze geführt wird.

Im Bereich der Medien gefällt ihm die russischem Medienpolitik. Besonders das Fernsehen in Usbekistan ahmt heutzutage den Stil russischer Fernsehsendungen nach.

In anderen Bereichen bleibt Mirsijojew ein klassischer autoritärer Machthaber, aber in seiner Weltanschauung scheint er sich an Modellen autoritärer Modernisierung zu orientieren, wie man sie von einigen Ländern Südostasiens kennt. Trotzdem muss man seine Schritte und Initiativen mit Vorsicht bewerten.

In ihrer (2007 formulierte, Anm. d. Red.) Zentralasienstrategie setzte die Europäische Union Hoffnung auf die individuelle Zusammenarbeit mit jedem Staat der Region. Für Taschkent,  ein strategischer Partner, sind Projekte in Höhe von 168 Mio. Euro geplant. Was erklärt diese erhöhte Aufmerksamkeit der EU in Bezug auf Taschkent?

Die individuelle Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Ländern ist notwendig, weil sie im multilateralen Format nicht zusammenarbeiten können. Verschiedene westliche Konzepte wie das Große Zentralasien oder C5+1 haben das bestätigt.

Heute ist die EU der Geopolitik überdrüssig, sie hat genug „geopolitische Probleme“ mit der Ukraine, auf der Balkanhalbinsel und der Flüchtlingskrise. Nach dem „arabischen Frühling“ und der Stärkung islamistischer Parteien sieht Brüssel die Notwendigkeit, seine Nachbarschaftspolitik zu überdenken, mit differenzierteren Ansätzen und weniger Rücksicht auf das Prinzip „mehr Demokratie – mehr Zusammenarbeit und Unterstützung“.

Gewiss denkt die EU nicht Tag und Nacht an Zentralasien, für sie ist die Region eine entfernte Peripherie. Aber in der Regionalpolitik hat Usbekistan aus objektiven geostrategischen Gründen eine wichtige Bedeutung, die mit regionalen und internationalen Interessen verbunden ist. Usbekistan gehört zu den Ländern, die die EU aus Realismus berücksichtigen muss.

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Einst hatte ich ein Gespräch mit einem deutschen Diplomaten, der eines der deutschen Projekte ein Zentralasien leitete. Er meinte, Kasachstan und Kirgistan stünden völlig unter russischem Einfluss und sie bräuchten einen Partner, der Distanz zu Moskau hält. Amerikanische Experten drücken sich ähnlich aus: Sie sind an der Arbeit von C5+1 interessiert, aber der Erfolg dieser Plattform in der Region hängt am meisten von Taschkent ab.

Nach dem Ausgang von Sie wissen schon wem aus dem politischen Leben des Landes entstand ein neues „Fenster der Möglichkeiten“ für den Neubeginn der Beziehungen zwischen der EU und Taschkent. Beide Seiten nutzen die günstige Gelegenheit, um verlorene Möglichkeiten aufzuholen.

Mit Rafael Sattarow sprach Nargisa Muratalijewa
Cabar.asia

Aus dem russischen von Esmira Saudkasowa
Gekürzt von der Redaktion

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