Sowjetische seismische Moderne, experimentelle Häuser, die schönste Metro der Welt, Food-Courts der Seidenstraße, Plov, neue Kultur und die Ratschläge Ortsansässiger. Das alles bietet Usbekistans Hauptstadt Taschkent. Folgender Artikel erschien im russischen Original auf Dailyafisha.ru. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Eine sonnige, warme Stadt, die noch nicht an jeder Ecke mit verkorksten modischen Etablissements versehen ist, mit Meisterwerken von Weltrang, die noch nicht von großen Massen besucht werden. Eine Stadt mit einer fabelhaften sowjetischen Moderne, Hinterhöfen, in denen Akazien wachsen und Honigäpfel reifen, die es noch nicht auf sämtliche Erinnerungsfotos geschafft haben. Taschkent ist wie eine Schwärmerei, derer sich noch keiner bekannt hat. In fünf Jahren wird es zu einem neuen Tblissi, in 20 zu einer der Kulturhauptstädte der Welt (die Chancen dafür stehen gut).
Wie die neue Stadt sich neuerfindet
Nach der Auffassung von The Economist, war Usbekistan 2019 das Land des Jahres. Die Republik Usbekistan sei nicht länger eine „altmodische sowjetische Diktatur“, obgleich ihr natürlich noch ein langer Weg bevorstehe, bemerkt die Zeitschrift. „Aber nicht ein Land ist so sehr vorangekommen.“
Mit einem Paukenschlag, so scheint es, stieß der neue Präsident Shavkat Mirziyoyev Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Kultur an. Zuallererst wurden strukturelle Reformen zur Rückkehr zu Rechten und Freiheiten in Form eines Verbots der Zwangsarbeit auf Baumwollfeldern durchgeführt. Zusammen mit einer Erneuerung des politischen Regimes des Landes wird es nun im wahrsten Sinne des Wortes offener: Man kann jetzt auch ohne Visum einreisen.
Neue Kultur
Im Herbst 2021 eröffnet eine Ausstellung im Louvre, die sich der Seidenstraße widmet. 300 Exponate des kulturellen Erbes Usbekistans werden erstmalig innerhalb eines Museumskomplexes gesammelt. Und das nicht nur im Louvre. Das Kunstmuseum in Usbekistan mit seiner komplexen Sammlung, die ein historischer Ort für die Sammlung von Teppichen mit nationalen Ornamenten und Picassos Keramik geworden ist, zeigt sich an einem neuen Ort, mit dem sich Tadao Ando beschäftigt. Der japanische Stararchitekt und Träger des Pritzker-Preises schätzt nationale Ästhetik und versteht es, mit ihr zu arbeiten. Er merkt an, dass das Museum keinesfalls einem seiner anderen Projekte ähneln soll, „weder im Osten noch im Westen“. Zudem soll es zu einem Symbol für „Renaissance und Hoffnung“ werden.
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Ein weiterer Punkt ohne Wiederkehr im kulturellen Leben der Stadt ist das Zentrum für moderne Kunst. Im Gebäude des ehemaligen Dieselkraftwerks, das die erste Tramlinie Taschkents mit Strom versorgte, besteht bereits ein erstes öffentliches Programm (bei dessen Gestaltung das Museum „Garage“ half) und außerdem ist die Ausstellung der usbekischen Künstlerin Saodat Ismailova, die zwischen Taschkent und Paris lebt, zu sehen. Im Sommer ist in diesem Museum eine große Ausstellung zu Gast, die mathematischen Algorythmen gewidmet ist (Usbekistan ist die Heimat der Algorythmen, der Mathematiker Al-Chwarzimi wurde im Westen des Landes geboren).
Das Zentrum für Moderne Kunst in Taschkent verspricht progressiv zu werden. Die Arbeit an seinen Projekten wird innerhalb offener Laboratorien vollzogen, in die junge usbekische Künstler und Forscher einbezogen werden. Eben diese Gruppe wird an der Vorbereitung eines nationalen Pavillons Usbekistans auf der venezianischen Biennale 2020/2021 arbeiten. Das Land hat vorher nie an diesem Forum für zeitgenössische Kunst und Architektur teilgenommen.
Hinzu kommen Studenten, die wählen, wo sie ihre Bildung fortsetzen möchten – in ihrem Land oder in Europa –, hunderte junger Leute, die an die Kraft der Reformen glauben und in das Land zurückkehrten. Das mittlere Alter der Einwohner Usbekistans liegt bei etwas mehr als 26 Jahren. Es ist ein Land, das schon morgen alle neu kennenlernen werden.
Furkat Palvan-Zade ist Autor des Telegramm-Kanals „Taschkent – Tblissi“ und Mitbegründer der Projekte „Sigma“ und Budka. „Mir fällt es schwer über meine Lieblingsorte in Taschkent zu sprechen, weil ich die Stadt verließ, als ich 16 Jahre alt war. Als Jugendlicher wusste ich gut über meine eigene reichhaltige innere Welt und die Probleme, die damit verbunden waren, Bescheid. Entsprechend lagen psychogeografische und urbanistische Erfahrungen in meiner tiefen Kindheit begraben. Ich erinnere mich an den Hof der Chruschtschewka, in der ich aufwuchs. Alle Bewohner des Hauses kennen einander gut und ich musste nicht in den Kindergarten gehen, konnte bei den Nachbarn herumstreunen. Eine markante Erinnerung: die Älteren gehen an einem heißen Sommertag mit mir zum Platz der Unabhängigkeit (früher Leninplatz), um mit mir am Springbrunnen entlangzulaufen. Ich erinnere mich, dass in dieser Zeit viele Leute auf dem Platz waren. Und ich erinnere mich an Kaulquappen am Boden des seichten Wasserbeckens. Und an nasse Beine. Die Uferpromenaden vom Taschkenter Kanal – mit Wasser aus den Bergen – habe ich sehr geliebt, darin haben wir gebadet. Ich weiß nicht, ob man das jetzt noch macht, aber damals war das Wasser rein und eiskalt. Sehr deutlich erinnere ich mich auch an unseren „Broadway“ – einer der wenigen öffentlichen Plätze in der Stadt. Dort wurden Raubkopien verkauft (das Album „Morskaja“, „Mimij Troll“ oder „Discovery“ von Daft Punk). Eine sehr grüne und gemütliche Stadt.“, erinnert sich Palvan-Sade.
„In den 2000er Jahren wurde Taschkent zu einer sterilen Stadt. Ein großer Teil der sowjetischen Architektur wurde aus irgendeinem Grund bis zur Unkenntlichkeit rekonstruiert. Öffentliche Plätze waren menschenleer. Vor ein paar Jahren entschied die Führung des Landes, einen Kurs der Öffnung und Veränderung einzuleiten. Darüber freue ich mich sehr. Veränderungen lassen sich schon auf einem ganz einfachen Niveau spüren – beim Ausstieg aus dem Flugzeug. Plötzlich zeigte sich, dass es möglich ist, Ordnung in die Logistik des Flughafens zu bringen. Plötzlich zeigte sich, dass freie Presse gar nicht so furchtbar ist. Plötzlich zeigte sich, dass es gut ist, wenn sich Leute auf Plätzen versammeln. Ich freue mich sehr über diese und andere Veränderungen. Ich hoffe, dass sie unumkehrbar sind.“, so Palvan-Zade weiter.
Seismische Moderne, freies Theater und Plov
In den 70er Jahren wurde Taschkent zu einem Ort der mutigen, auf der einen Seite, und zu einem Ort der praktischen architektonischen Experimente, auf der anderen. Das hätte so nicht ohne eine Tragödie geschehen können: im Frühling 1966 zerstörte ein Erdbeben fast das gesamte Stadtzentrum Taschkents. Die Stadt musste sofort wiederaufgebaut werden: so entstand ein urbanistisches Phänomen, das einige seismische Moderne nennen. Hierher zu kommen lohnt sich allein für die Repräsentanten dieses erzwungenen und gleichzeitig freien Stils, die sich sonst nirgendwo finden lassen – das Rajon Chilonzar, das experimentelle Haus Schemtschug, den Markt Chorsu, die Metro, Ornamente und Mosaike.
„Wenn man über das Erbe der sowjetischen Moderne in Taschkent spricht, muss man sein Augenmerk auf einige ziemlich wichtige Faktoren richten, die auf das Entstehen dieser Architektur gewirkt haben. Zunächst einmal ist Taschkent die größte Stadt Zentralasiens und zur Zeit der Sowjetunion wurde sie als Zentrum der Region und als Vitrine der Sowjetunion „im Osten“ angesehen. Deshalb zeichnete die „Paradearchitektur“ Taschkents eine recht großzügige Finanzierung aus. Zudem war das ein anschaulicher Versuch, eine Architektur zu schaffen, die „national in der Form und kommunistisch im Inhalt“ war; ein Versuch, die sowjetische Modernisierung des „Ostens“ mithilfe – um es mit der Sprache der damaligen Zeit auszudrücken – „regionaler architektonischer Traditionen“ zu demonstrieren. Dass viele bedeutende Gebäude der sowjetischen Moderne in Moskau projektiert wurden, ist ein Fakt, der diesem Versuch eine besondere Spezifik gibt – ausgerechnet Architekten aus dem Zentrum gaben Taschkent eine „zeitgemäße nationale Architektur“. Warum es gerade so kam, das ist ein anderes Thema. Noch ein wichtiger Faktor war das Taschkenter Erdbeben von 1966, das in vielerlei Hinsicht zu einem Bezugspunkt für die Schaffung eines neuen Stadtbildes wurde – und das gerade im Stile der sowjetischen Moderne.“, erklärt die Arichitekturhistorikerin Olga Kasakova.
„Der gigantische Leninplatz wurde als zentrales Ensemble projektiert. Mit administrativen Gebäuden und einem riesigen offenen Gelände, das, gelinde gesagt, nicht wirklich den örtlichen klimatischen Bedingungen und Traditionen entsprach, stellte er indessen ein Artefakt aus der Sicht des sowjetischen Städtebaus dar. Heute ist dieser Platz Teil des Regierungskomplexes, er ist wesentlich umgebaut und der Zugang zum Platz nun nicht mehr möglich.“, meint die Expertin.
„Moskauer Häuser“
Zum ersten Symbol der neuen Epoche des Wohnungsbaus wurde das Wohnensemble am Hamid-Olimjon-Platz im Zentrum Taschkents. Die vier Türme mit Wohnungen und himmelblauen Fassaden und einstöckigen „Klammern“, die auf den Platz hinausführen, wurden in Moskau projektiert. Die Hochhäuser sind erdbebensicher – das war das wichtigste Baukriterium. Eine Unterführung verbindet sie miteinander. Für die Symmetrie wurde in den 90er Jahren entschieden, ihnen gegenüber vier Gebäude zu bauen, allerdings sind die Originale nach wie vor ansehnlicher.
Das experimentelle Haus „Schemtschug“
Betritt man das Haus „Schemtschug“, wird man in einem glücklichen Gemeinschaftsleben gefangen. Das galeriehafte, experimentelle 16-stöckige Wohnhaus wurde nach einem Projekt der Taschkenter Architektin Ofelija Aidinova gebaut. Es scheint, als wäre hier alles Lebensnotwendige vorhanden – und sogar mehr: öffentliche Höfe oder, anders gesagt, Erholung auf jeder dritten Etage, eine Wäscherei im Keller, ein Swimming-Pool für alle Bewohner auf dem Dach. Praktisch hat sich das Ganze in ein Experiment ums Überleben umgekehrt: Das Haus wurde elf Jahre gebaut und ein Teil der Bewohner konnte den Einzug in ihre Wohnungen nicht abwarten. Die, die darauf warteten, beschweren sich über die Unbequemlichkeit des Hauses, warten jahrelang auf Renovierungen und, wie es scheint, ist der Gedanke an den Traum von 1985 schon verloren.
„Schemtschug“ (deutsch „Perle“, Anm. d. Red.) erhielt den Namen wegen eines Juwelierladens im Sockelgeschoss und man sollte es sich auf jeden Fall ansehen: die abgerundeten Ecken, arabeske Übergänge, Basketballringe, Bäume und andere Attribute eines Innenhofes in den höhergelegenen Etagen. Das Dach ist eine eigene Welt. Die komplexen Ingenieurskonstruktionen, die Wendeltreppe in den Turm, das Schwimmbecken und der Blick auf die Stadt – gut, dass es zu diesem Experiment gekommen ist.
Metrostationen
Die Taschkenter Metro hat drei Linien und 29 Stationen. In die Stationen der Untergrundbahn hinabzusteigen und die hervorstechendsten Interieurs aufzuspüren, ist gewiss keine Zeitverschwendung: in der Station „Uzbekiston“ finden sich Deckenleuchten in Form von Baumwolle, in der Station „Chilonzar“ bunte keramische Einsätze über das Werk des usbekischen Volkes. In der Station „Kosmonavtlar“ lohnt es sich, die Säulen anzusehen, in der Station „Mustaqillik maydoni“ den Kopf zurückzulegen, um die nationalen Ornamente an der Decke anzusehen und in der Station „Alisher Navoiy“ über die Rolltreppe zu fahren, um sich am riesigen geometrischen Wandgemälde zu erfreuen.
Das Leninmuseum
„Das Leninmuseum ist besonders interessant“, findet Olga Kasakova. „Es wurde nach dem Projekt von Jewgeni Rosanov gebaut (nach 1991 wurde es zum Museum für die Geschichte Usbekistans). Das Leitmotiv der Fassade ist eine bis zu gigantischen Ausmaßen vergrößerte Pandjara, ein gemustertes Gitter zum Sonnenschutz. Danach wurde dieses Motiv in der Architektur Usbekistans verwendet“
„Man kann ebenso das Café „Hellblaue Kuppeln“ auf dem früheren Leninboulevard besuchen, ein populäres Teehaus zu Sowjetzeiten und heute ein Restaurant. Damals wurde die Teestube ihres allzu sehr gezeigten Orientalismus gescholten, vor dem Hintergrund der modernen usbekischen Architektur scheint dem aber nicht so.“, erläutert die Architekturhistorikerin.
Ein weiteres interessantes Objekt ist der Kunstpalast, als dessen Autor ebenfalls Rosanov gilt – ein gigantischer Schrein mit im positiven Sinne wahnsinnigen Innenräumen, die von Elena Suhanova entworfen wurden. Außerdem ist der Zirkus gut und die wirklich standesgemäße Architektur des Ausstellungssaals der Architektenunion Usbekistans. In diesem Gebäude kommen regionale architektonische Tradition und moderne Materialien tatsächlich organisch zusammen“, schließt Kasakova.
Mosaike und Ornamente ringsherum
Ein außergewöhnliches Mosaik an der Wand eines typische neunstöckigen Plattenbaus zu sehen ist in Taschkent der Regelfall. In den 70er Jahren bemühte man sich, die zerstörte Stadt wiederaufzubauen und das Monotone unikal zu machen. Die Brüder Pjotr, Aleksandr und Nikolai Scharskij kamen nach Taschkent. In 30 Jahren erschufen die Künstler circa 200 Mosaike an den Wänden von Gebäuden.
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Sie verwendeten östliche Muster, Gleichheit und Brüderlichkeit, russische Märchen, sowjetische Propaganda und den Kosmos. Und manchmal alles zusammen. So eine Vermischung von Motiven, Ornamenten und Details findet sich sonst nirgends. Nehmen wir ein Triptychon an der Stirnseite von 9-stöckigen Plattenbauten. Es enthält eine Serie aus Wandgemälden zum Thema „Erschließung des Weltraums“, in der athletische Figuren in Raumanzügen mit Sternzeichen und östlichen Ornamenten verwoben werden.
Fernsehturm und das Plov-Zentrum
Alles, was man in jedem Fernsehturm finden kann, gibt es auch in Taschkent – die höchste Aussichtsplattform, ein Ort, an dem man eine Stadtkarte aus Einzelteilen zusammensetzen kann, ein sich drehendes Restaurant mit sowjetisch anmutendem Interieur und einem strengen Einlass. Der Turm belegt den 11. Platz der höchsten Gebäude der Welt. Aber immerhin lohnt es sich, ein Ticket dafür zu kaufen, um das Wandbild im Foyer anzuschauen. Das Wandbild ist aus Marmor, Metall und Halbedelsteinen angelehnt an florentinische Mosaike gestaltet.
In drei Gehminuten Entfernung liegt der beste Ort für ein Mittagessen – Das Plov-Zentrum. Plov wird hier direkt am Eingang gekocht, auf der Straße in riesigen Kochkesseln. Drinnen gibt es einen Saal für mehrere hundert Menschen und eine ruhigere zweite Etage. Zur Mittagszeit füllt sich der ganze Raum mit dem Dröhnen der eintreffenden Gäste und des Laufbandes mit blau-weißen Tellern. Im Menü finden sich drei Arten von Plov: Hochzeitsplov, besonderer Plov und Tschaichana, alle mit Kasy (Pferdewurst) und Wachteleiern. Und falls die Portion zu klein erscheinen mag, so täuscht der Eindruck. Der wahre Kenner wählt zum Plov unbedingt Pepsi, Achuchuk (Salat aus Tomaten und Zwiebeln) und Susma (so etwas wie Sauermilch).
Der Chorsu-Basar
Wenn man nur einen einzigen Platz wählen müsste, den man in Taschkent in jedem Fall gesehen haben muss, dann wäre das wohl der Chors-Basar“. Ein riesiger Basar (übersetzt „Vier Wege“), der schon vor 500 Jahren existierte, ein Museum unter offenem Himmel, die beste Möglichkeit, authentische Gastroeindrücke zu bekommen. Chorsu besteht aus einer monumentalen hellblauen Kuppel ohne eine einzige Stütze, derer sich zu erfreuen im Lärm des Basars besonderes Gefallen bereitet. Und ebenso lassen sich die Hügel an Gewürzen mit unterschiedlichen Farben bewundern, die Schalen mit Ornamenten für jeden Geschmack, und außerdem lässt sich das Feilschen ausprobieren – um Honigapfel in Schokolade, Kurt (Quarkbällchen), Bergtee.
Die „gefräßige Zeile“ (in Anlehnung an die Jägerzeile in Moskau) ist ein östlicher Food-Court, der in seinen Wurzeln zurückführt zur Seidenstraße. Hinter jedem Ladentisch steht sein Besitzer oder seine Besitzerin – Plov, Naryn, gebratener Fisch, Schaschlik und Street Food mit Schafsinnereien wird direkt hier gekocht. Nur eine halbe Stunde, die hier zur Einnahme einer Mahlzeit an profanen von Wachstuchdecken gezierten Tischen verbracht wird, mit einfachem Besteck – unbedingt mit einem Fladenbrot und süßlichem grünen Tee –, mag eines der genauesten materiellen Äquivalente des berüchtigten Nationalkolorits sein.
Für die Videokünstlerin Saodat Ismailova ist Taschkent in erste Linie die Altstadt, in der man noch über enge Straßen spazieren kann und dort Kinder und Greise grüßt. „In diesem Teil der Stadt befindet sich auch der zentrale Chorsu-Basar mit allerart Gewürzen, Trockenobst, Fladenbrot und außerdem Leuten aus allen Ecken des Landes. Die Menschen, wie sie eben sind! Auf dem Chorsu-Basar beeindruckt besonders die Kuppelarchitektur, die in den 1980er Jahren erstellt wurde. In diesem Teil der Stadt gibt es zwei Friedhöfe: einen der ältesten, Kuchka mit der Grabstätte Scheich Zayniddins und seiner unterirdischen Chillachona (eine Ecke für Meditation) und der Chig‘atoy Friedhof mit einem Teil für kommunistische Funktionäre und Künstler der sowjetischen Periode. In geometrischer Ordnung stehen Marmorbüsten zwischen gepflegten Zypressen und Eichen. Mir scheint, dass Märkte und Friedhöfe immer die grundlegenden Verflechtungen innerhalb einer jeden Stadt vergegenwärtigen.“
Prähistorische Siedlung „Ming Urik“
Im Zentrum der modernen Stadt befinden sich die Überreste der antiken befestigen Siedlung mit dem poetischen Namen („Tausend Aprikosenbäume“). Es heißt, dass dank dieses Ortes das genaue Alter Taschkents festgestellt werden konnte – 2200 Jahre. Dennoch ist auf eine gute Vorstellungskraft zu hoffen, wenn man sich zwischen den archäologischen Ruinen die Zitadelle und das Schahristan vorstellt, die dort einst gestanden haben. Eine eigene Stadt mit Palast, reich geschmückten Häusern, Handwerksbetrieben und einem Kult zur Sonnenanbetung.
Polovtsev-Haus
Endlose Ligaturen von schmalen Ornamentenlinien, nachgerade ein Fest der Kalligraphie und der geometrischen Vollkommenheit östlicher Innenräume. Das Haus wurde im 19. Jahrhundert auf Wunsch eines russischen Diplomaten und großen Bewunderers derartiger Architektur, Aleksandr Polovtsev, gebaut. Natürlich befinden sich die Wände und Decken selbst in der Ausstellung des Museums für moderne angewandte Kunst. Aber es gibt auch tausende weitere Exponate – Bilder, Stoffe, Keramik, Porzellan, Stickarbeiten. Der Innenhof des Museums mit einer der ersten Springbrunnen Taschkents, herabhängenden Trauerweiden und der Aussicht auf die Ofenkacheln der Veranda, bereitet besonderes Wohlgefallen.
Das Theater „Ilchom“
Ein kultureller Meilenstein, der nicht von den Umständen wie auch immer gearteter staatlicher Umstände abhängt. Der Regisseur Mark Weil gründete das erste unabhängige Theater des sowjetischen Usbekistans 1976. „Ilchom“ hat die Perestrojka überlegt, die schweren 90er Jahre und den Tod seines Begründers. Im Repertoire dieser Kultstätte befinden sich heute klassischerweise sowohl Debuts zeitgenössischer Dramaturgen und natürlich immer talentierte und disziplinierte Improvisation.
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Gegenüber des „Ilchom“ befindet sich eines der schönsten Gebäude Taschkents – das Panoramakino. Das nach den Maßstäben der UdSSR revolutionäre Werk überlebte das Erdbeben, heute existiert es zeitlos weiter als eine leichte und unglaublich ästhetische Konstruktion. Frédéric Chaubin, der der Welt zeigte, wofür die sowjetische Moderne geschätzt wird, schloss das Gebäude des Panoramakinos in seine Auswahl hervorstechender Objekte der früheren Unionsrepubliken ein.
„Immer wieder kehre ich in das Theater „Ilchom“ von Mark Weil zurück. Nicht nur wegen der gewagten, superaktuellen und sehr schönen Vorstellungen, die man wieder und wieder ansehen möchte, um etwas Neues zu finden, kehre ich zurück, sondern wegen der einzigartigen Atmosphäre, die dort herrscht. Das „Ilchom“ überschritt schon vor langer Zeit die Rahmen der klassischen Vorstellungen vom Theater, hier werden regelmäßig Festivals, Konzerte, Ausstellungen, Kinovorstellungen, Workshops, Vorlesungen und vieles mehr durchgeführt. Nach dieser besonderen kulturellen Erfahrung, die man dort üblicherweise machen kann, möchte man schlendern und über das Gesehene sinnieren. Verlässt man das Theater, kann man über die zentrale Straße der Stadt spazieren und, nachdem man zu Beginn Abstecher zum Platz der Erinnerung gemacht hat zum Denkmal „Mushestvo“ (Tapferkeit) gelangen – meinem liebsten Denkmal in Taschkent.“, meint Odil Muchamedow, Begründer des Projekts „Men of Culture“.
Was noch?
Das Museum für Geschichte Usbekistans, der Palast der Völkerfreundschaft, der Ausstellungssaal der Künstlerunion, der Zirkus, das Hotel „Usbekistan“ gehören unbedingt angeschaut, um die Liste der experimentellen Architektur der 70er Jahre mit südlichem Einschlag zu vervollständigen.
Taschkent ist außerdem eine Stadt der sowjetischen Evakuation, in der Anna Achmatowa, Jelena Bulgakowa und Marina Zwetajewa versuchten, sich an eine neue Realität zu gewöhnen. Man kann durch die Hinterhöfe schlendern, die die Treffen, die Armut und das Leben der Leningrader Intelligenz erinnern.
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Hinzu kommt das trockene und milde Wetter, unglaublich viel Sonne und Grün, günstiges, sehr einfaches und auch sehr leckeres Essen (nicht nur usbekisches, sondern ebenso koreanisches zum Beispiel), Berge mit Stauseen, Skipisten im Winter und Stränden im Sommer, nur eine halbe Stunde fahrt von der Stadt, eine blühende Kneipen- und Festivalkultur. Taschkent ist eine Stadt, die definitiv Gründe liefert, sie besser kennenzulernen.
Aus dem Russischen von Phillip Schroeder
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