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Die Beobachtung des Gletschers – Über das Leben und die Arbeit an der glaziologischen Station Tujyksu

Überhalb von Almyty, auf über 3000 Metern Höhe, liegt die Gletscherstation Tujyksu. Vlast hat die Forscher bei ihrer Arbeit begleitet.

Vlast 

Überhalb von Almyty, auf über 3000 Metern Höhe, liegt die Gletscherstation Tujyksu. Vlast hat die Forscher bei ihrer Arbeit begleitet.



Die Station ist verfallen, die Häuser der Forscher sind baufällig, und rund um die Siedlung bietet sich ein ziemlich düsteres Bild. In den 80er Jahren lebte eine Gruppe von Forschern in der Siedlung: Ein Hausmeister erhängte sich in einer der Hütten und zwei Forscher wohnten in der anderen; einer der Forscher wurde verrückt, er dachte, er hätte sich mit einer Fliege angefreundet. Einen Augenzeugen zufolge verlassen die Geister der Toten diese Station bis heute nicht“.

Zitate aus einem Video über die Gletscherstation Tujyksu, gedreht von russischen Fernsehteams, das Nikolai Kasatkin auf seinem Smartphone zeigt. „Wie kann man sich sowas ausdenken? Manche glauben auch noch daran!“, sagt der Expeditionsleiter empört. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er hier – an der ältesten Gletscherbeobachtungsstation Zentralasiens.

Der Weg zum Gletscher

Wir verlassen die Stadt in Richtung Gletscherbeobachtungsstation Tujyksu, kurz T1, früh am Morgen, bevor die Hitze einsetzt. Die Fahrt dauert über eine Stunde und die Straße wird oberhalb von Shymbulaq (Skigebiet bei Almaty, N.d.Ü.) schwierig: Der Asphalt hört auf und der 11-sitzige weiße GAZ wackelt auf endlosen Steinen: Bis wir die Station erreichen, sind die selbst angebauten Tomaten im Kofferraum schon fast zu Tomatenmark geworden. Die Straße scheint nicht befahrbar zu sein, denn das Auto, mit Menschen, Ausrüstung und Lebensmitteln beladen, schleicht sich langsam, aber beharrlich dem Gletscher entgegen.


Am Steuer sitzt Vasili Kapitsa, Leiter des Labors für Hochgebirgsgeokryologie des Zentralasiatischen Regionalen Glaziologischen Zentrums. Das Zentrum hat zwei Stationen: in Tujyksu, im Becken des Kleinen Almatinka-Flusses, und in Kosmostanitsa (wortwörtlich Kosmostation, N.d.Ü.), im Becken des Großen Almatinka-Flusses. Nach Kosmostanitsa führt eine asphaltierte Straße, nach Tujyksu kommt man dagegen nur nach einem etwa 9 Kilometer langen Fußmarsch. Im Winter kann diese Reise zwei Tage dauern, mit einer Übernachtung in der Station Mynshylky. Wir aber hatten Glück: Das Wetter war hervorragend, die Straße war nicht ganz mit Steinen bedeckt, der Fluss trat nicht über die Ufer und das Auto hatte keine Panne.


Wir befinden uns auf einer Höhe von 3450 Metern über dem Meeresspiegel. Es gibt nur Berge, Felsen und mehrere Häuser: Nur eins davon ist ein Wohnhaus, das gerade repariert wird; daneben stehen „Fässer“ – runde, vor langer Zeit in verschiedenen Farben bemalte Bergsteigerunterkünfte. Die Farbe blättert ab – hier wohnt schon lange niemand mehr. Diese Häuser, die in den 70er Jahren geplant wurden, nannte man TSUBs, ein Akronym für „Vollmetall-Standardblocks“, sie wurden für die „Eroberer des Nordens“ geschaffen.


An der Tür des einzigen Wohnhauses, in dem Glaziologen arbeiten, steht: „Keine Übernachtungsmöglichkeit, bitte nicht stören“.

Früher brodelte hier das Leben – Wissenschaftler, Sportler, exerzierende Militärs – und sogar eine Turnhalle wurde gebaut. Mittlerweile ist diese zerstört und jetzt wohnen einzig und allein Glaziologen hier, die den schnell schmelzenden Gletscher beobachten. Heute kommen nur noch Touristen hierher. Mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke ist die alte Badewanne in der Nähe der Wetterstation zu einem viralen Ort geworden. Selbst im Winter klopfen Reisende an die Tür der Glaziologen und fragen: „Wo ist die Badewanne?“. „Die Mädels treten an die Wanne, ziehen sich bis auf den Bikini aus, setzen sich hinein und machen Fotos“, wundert sich der Glaziologe Berik Koszhanov.


Laut den Regeln sollten immer mindestens zwei Personen an der Station sein. Doch heute sind es mehr: Es stehen wichtige Forschungsarbeiten an, und so sind neben den beiden festen Mitarbeitern auch andere Spezialisten hinaufgefahren. Der Gletscher wurde 1902 entdeckt, und 1956 begannen die regelmäßigen Beobachtungen; damals lebten die Wissenschaftler in Zelten, erst in den 70er Jahren baute man für sie Häuser in Plattenbauweise.

Das erste, grüne Haus, seltsam schief, ist in der Ferne zu sehen; es sieht aus, als sei es in zwei zerbrochen: In der Mitte steht ein Ofen, daher ist das Eis unter dem Fundament geschmolzen. Man kann in dem Haus nicht wohnen, weswegen es heute ein Lager für alte Sachen und Bücher ist.



Die Glaziologen sind in das „rote Haus“ umgezogen und  reparieren es jetzt in Eigenregie: Sie haben das Dach erneuert, Tapeten geklebt, die Fassade mit neuem Material verkleidet, und jetzt ist es ein „weißes Haus“. Selbst auf die Genehmigung für diese Renovierung musste man jahrelang warten, ebenso wie auf die Finanzierung. Das Gebäude ist mit Sonnenkollektoren ausgestattet – es gibt genug davon, das Wichtigste sind allerdings nicht so sehr die Kollektoren, sondern die Batterie, sagt Kapitsa – und die ist klein.

Die frische Luft und die schöne Aussicht machen einen schwindelig. „Es ist die Bergkrankheit“, erklärt Ilia Shechev, der jüngste, 23-jährige Mitarbeiter der Station. Er empfiehlt, auf Nägelbrettern zu stehen. Sergej Gebel, ein Hilfsingenieur, sagt, dass einem in den ersten Tagen aufgrund des Höhenunterschieds übel werden kann, dass der Blutdruck steige oder sinke, und dass man normalerweise versucht, nach dem Aufstieg zu schlafen. Aber nicht jetzt: Solange das Wetter klar ist, muss man sich auf den Weg machen – zum Gletscher. Die Meteorologen haben Regen versprochen, aber die Sonne scheint, und hinter einem Berg in der Nàhe hört man ein Gewitter. Nikolai Kasatkin, der Expeditionsleiter, der seit 1989 in den Bergen arbeitet, blickt auf die Gipfel: „Das Wetter hier kann man nicht vorhersagen, es kann sich jede Minute ändern“.

Nikolai Kasatkin


Wir steigen wieder ins Auto mit noch mehr Ausrüstung und rumpeln über die Straße Richtung Gletscher. Vassili Kapitsa hofft, dass wir so nah wie möglich herankommen, aber bald stößt das Auto auf einen Steinschlag. Also weiter zu Fuß. Kapitsa packt mühsam einen riesigen schwarzen Plastikkoffer auf seinen Rücken, wir anderen bauen die restliche Ausrüstung auseinander und machen uns auf den Weg.


Zoja, Igly Tujyksu, Ordscho“, zählt Sergej Gebel die kurzen Namen der Gipfel auf. Foteh Rahimov, der leitende Ingenieur, bemerkt leise, dass diese Berge jung sind, aber älter als der Pamir. Foteh stammt aus Duschanbe und arbeitet seit einigen Jahren im Zentrum an einem Katalog der Gletscher im Einzugsgebiet des Amudarja. In regelmäßigen Abständen halten wir an, die Glaziologen bauen Geräte auf, messen etwas und zeichnen dann rote Kreuze auf die Felsen – Bodenkontrollpunkte.

Der Gletscher schrumpft jährlich um 25 Meter

Wir gehen weiter, hier sehen wir schon weiße Farbkreuze auf den Steinen: Das haben wir letztes Jahr gemacht, bis hierhin ragte der Gletscher“, erklärt Nikolai Kasatkin. Gänseblümchen brechen durch die Steine.


Aber auch hier findet man Müll. „Wenn wir zu den Gletschern gehen, sehen wir eine Menge Müll“, ärgert sich Kapitsa. „Die Leute sind komisch, tragen eine volle Flasche Pepsi Cola bei sich, voll hat er sie bis hierhin geschleppt, aber leer will er sie nicht runterbringen. Also laufen wir herum, manchmal sammeln wir Müll auf. Hier ist es nicht so schmutzig wie auf den Gletschern oberhalb des Großen Almaty-Sees“.


1958 war das Eis hier etwa 70 Meter hoch – das alles war mit Eis bedeckt, alle Gletscher verschmolzen zu einer einzigen Zunge. Und jetzt ist das alles zerbrochen. Ein Gletscher ist der deutlichste Indikator für den Klimawandel, in diesem Fall für die Erwärmung des Klimas“, sagt Nikolai Kasatkin. Vassili Kapitsa sagt, dass sich der Gletscher vor 1972 im Durchschnitt 15 bis 17 Meter pro Jahr zurückzog, während jetzt „die durchschnittliche Rückzugsrate 25 Meter erreicht“. Am stärksten schmolz der Gletscher im Jahr 2008: Damals zog er sich in nur einem Jahr um 46-48 Meter zurück. Nikolai, Ilia, Berik und Sergei überqueren den Fluss und gehen zur Zunge des Gletschers. Von weitem sieht sie aus wie eine Wand aus „Game of Thrones“. Sie klettern auf das Eis, um dort Punkte zu setzen und die Latten zu überprüfen. Der ganze Gletscher ist mit ihnen buchstäblich durchgestochen – „Wie ein Igel“, scherzt Kapitsa – so wird die Intensität der Eisschmelze gemessen.

Die Glaziologen bohren ein drei Meter tiefes Loch und setzen dort Latten ein. Wenn die Schmelze zu schnell voranschreitet, muss man die Löcher nach einiger Zeit erneut bohren. Wir hören einen Hund bellen und sehen die Drohnen, die er verfolgt. Vasili und Foteh folgen ihnen dicht auf den Fersen: Jetzt müssen sie ihre Drohnen in die Luft heben, und die Hauptsache ist, dass die Geräte nicht zusammenstoßen. Während die anderen den Gletscher stürmen, kehren wir zu einem der ersten Ausgangspunkte zurück und Vasili Kapitsa öffnet den Koffer, den er seit langem auf dem Rücken träg. Darin liegt eine Drohne. Sie steigt hoch in den Himmel und macht Bilder, die man dann an die eingezeichneten Referenzpunkte, die roten Kreuze auf den Felsen, anhängt. Sie ergeben das genaueste und detaillierteste digitale Modell und Orthophoto des Gletschers und Moränenkomplexes Tujyksu.

Der Tujyksu ist in Zentralasien ist einer der am meisten erforschten Gletscher seit 1956. Heute haben die Wissenschaftler kaum noch genug Ressourcen für einen Gletscher, während sie früher den Igly Tujyksu, den Central Tujyksu, den Manschhuk Mametova und den Molodjoschny untersuchten; letzterer hat wegen des Klimawandels schon keine Zunge mehr. Es gab viele ähnliche Studien in anderen Republiken, aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden sie alle für eine gewisse Zeit unterbrochen: Die Finanzierung wurde eingestellt, Fachleute zogen weg. Kasachstan hatte Glück: 1982 kam Auszliare Revutaite für ein Praktikum aus Litauen hierher; man sagt, dass sie die Station in den schwierigen 90er Jahren, als es keine Finanzierung gab, buchstäblich gerettet hat.

Man erzählt, dass ihre Eltern ihr Geld schickten, um Kohle zum Heizen des Gebäudes zu kaufen. Sie verhinderte, dass Plünderer die Station zerstörten, und hielt Wache. Erst vor ein paar Jahren wurde sie pensioniert: Sie konnte nicht mehr auf den Gletscher klettern, das Alter hatte seinen Tribut gefordert. Man bot ihr einen Job in der Stadt an, im Büro des Glaziologischen Zentrums, aber sie lehnte ab. Die Forschung in den zentralasiatischen Republiken wird wieder aufgenommen: Auch mit Unterstützung ausländischer Stipendien führen Wissenschaftler gemeinsame Expeditionen durch, forschen und schreiben Artikel.

Vasili Kapitsa


„In der ehemaligen Sowjetunion gibt es keine Station wie Tujyksu. Es gibt eine ähnliche Station im Tien-Shan-Hochgebirgsforschungszentrum – am Südufer des Yssykköl, am Karabatkak-Gletscher. Die Station liegt auf einer Höhe von 2.500 m, und die Forscher kommen acht Kilometer weit mit Pferden zum Gletscher. Die Forscher aus Tadschikistan haben keine feste Station, sie führen ihre Forschungen auf Expeditionen durch. Sie haben zwei-drei Wochen im Jahr, in denen sie den Gletscher besuchen und erforschen. In Usbekistan ist es das Gleiche. Wir kommen alle zehn Tage hierher. Auf dem Abramov-Gletscher, an der Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan, gab es eine glaziologische Station, die 1999 von „radikalen Genossen“ aus Tadschikistan niedergebrannt wurde“, erzählt Kapitsa.

Hoffnung auf Rettung

Der Tujyksu-Gletscher ist unsere Süßwasserreserve, und er schmilzt buchstäblich vor den Augen der Glaziologen.

Der Gletscher selbst – seine Struktur und Bewegung – ist bereits klar, aber die Glaziologen haben gerade erst begonnen zu untersuchen, was mit ihm in ökologischer Hinsicht passiert. In den 160 Jahren seit dem Ende der so genannten „Kleinen Eiszeit“ – von 1850 bis 2010 – ist die Fläche der Gletscher im Trans-Ili-Alatau um 60-70 Prozent zurückgegangen. Wissenschaftler sagen voraus, dass bis 2070 die meisten Gletscher in Kasachstan verschwinden werden. Es gibt jedoch eine Theorie, wonach sich Gletscher selbst „schützen“ können. „Die Gletscherzunge ist von oben mit Steinen bedeckt, darunter schmilzt sie viel langsamer. Wenn man sich den Igla-Tujyksu-Gletscher ansieht, kann man diesen gepanzerten Teil sehen, der viel höher ist als der offene Teil. Man könnte sagen, dass der Gletscher beginnt, sich selbst zu regulieren. Diese Theorie gibt Hoffnung auf Rettung“, beruhigt Vassili Kapitsa ein wenig.

Rahimov sagt, dass die Gesamtmenge an Niederschlag zwar zunimmt, aber nur geringfügig, und bisher reicht sie nicht aus, um die Eismasse zu vergrößern. Vor allem feste Niederschläge (Schnee, Graupel, Hagel etc.) werden für das Wachstum der Gletscher benötigt. Wenn die Niederschläge doppelt so hoch sind und die Durchschnittstemperatur fünf Grad niedriger ist als jetzt, dann wird der Gletscher wachsen. Aber ob das passieren wird, kann niemand vorhersagen.

Im Allgemeinen ist alles in der Natur zyklisch: von der Erwärmung zur Abkühlung, jetzt leben wir in einer Periode der Erwärmung, sie wird früher oder später enden, die Periode der Abkühlung wird beginnen, vielleicht werden wir es nicht sehen, wir leben nicht lange genug. Aber das Klima ist so eine Sache, es verändert sich ständig“, erklärt Nikolai Kasatkin.

Alle Mitarbeiter haben Walkie-Talkies: „Könnt ihr die Drohne hören?“, fragt Kapitsa diejenigen auf dem Gletscher. „Wir können sie nicht nur hören, wir können sie auch sehen!

Schneller, noch ein paar Schienen.“ Die Drohne hebt viermal ab, die Wissenschaftler kehren von der Messung der Eisschmelze auf den Schienen zurück, alle haben nasse Füße bekommen, und zwei von ihnen – Sergei und Berik – sind mehrmals gestürzt, obwohl sie Gurte trugen. Bei den Glaziologen gab es keine Unfälle. 2006 stürzte Juri Rebrov, der ehemalige Leiter der Station, in eine Gletscherspalte. Er und sein Kollege Vasili Mischenin waren zu einer Schneeuntersuchung unterwegs, und Juri flog drei bis vier Meter in die Tiefe, brach sich die Schulter. Durchnässt wartete er darauf, dass Mischenin zur Station lief, um Werkzeug zu holen, ihn herauszuziehen und zum Memorial zu bringen – damals gab es weder Internet noch Mobiltelefone. Dabei hat sich Rebrov nicht einmal erkältet.

Wir kehren schnell zur Station zurück: Kapitsa ist besorgt, denn die Drohne muss bereits bei Tageslicht vom Platz vor dem Haus gestartet werden: Es ist 15 Uhr, erst um 16 Uhr sind die Batterien geladen, um 18 Uhr aber wird es bereits dunkel sein. „Man muss heute alles erledigen, für den Fall dass morgen schlechtes Wetter ist“, sorgt sich Kapitsa. Aber alles klappt: Die Drohne steigt in den Himmel, und Rahimov überprüft sorgfältig den Batteriestand.

Dann werden alle Daten auf einen Computer hochgeladen, der die Informationen über Nacht verarbeitet. „Der Zweck der Untersuchung besteht darin, die Ablation, also das Schmelzen des Eises auf der Gletscherzunge durch wiederholte Drohnenuntersuchungen zu bewerten. Auf der Grundlage dieser Erhebungen erstellt man digitale Höhenmodelle für mehrere Zeiträume und schätzt die Schmelzrate mithilfe eines Geoinformationssystem (GIS).

Gleichzeitig werden wir direkte Beobachtungen entlang der Messlatten durchführen – wir werden über einen längeren Zeitraum mit einem Maßband messen und auch GPS-Messungen hinzufügen. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, den Fehler der Fernbestimmung der geschmolzenen Eisschicht zu schätzen. Wir gehen davon aus, dass wir im Vergleich zu den instrumentellen Messungen eine Fehlertoleranz von 5 cm haben“, versucht Kapitsa so deutlich wie möglich zu erklären.

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Jetzt sind die Glaziologen mitten in der Saison – sie sammeln Daten auf dem Gletscher und im Winter  werden sie sie verarbeiten. Ende September wird hier Schnee liegen. Die eigentliche Saison beginnt dann Ende März, wenn die Glaziologen die maximale Schneeansammlung auf dem Gletscher bestimmen. Nach Nauruz (Neujahr im persischen Kulturraum, N.d.Ü.), im April-Mai, legen sie die Daten für die maximale Schneeansammlung in der Regel fest. Der Gletscher beginnt zu schmelzen, und die Glaziologen gehen alle zehn Tage zu Schneeuntersuchungen. Außerdem müssen sie alle drei Stunden – von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends – zur meteorologischen Station fahren und Daten erheben. Ein Auto kommt hier bestenfalls ab Ende Juni hoch. In dieser kurzen Zeitspanne bis September muss man alle Vorräte, Lebensmittel und Ausrüstung zur Station zu bringen.

Obwohl der Gletscher seit so vielen Jahren untersucht wird, kann man nicht genau sagen, wie groß sein Volumen ist. Vor zehn Jahren kamen Glaziologen aus Moskau mit einem Georadar hierher und nahmen Messungen an dem zugänglichen Teil des Gletschers vor, die eine Dicke von 100 Metern ergeben haben. Aber dort, wo ein Aufstieg unmöglich ist, könne man nur schätzen, wie groß das Volumen sei. „Plus oder minus zwei Krokodile“, scherzt Kasatkin.

Wenn die Sonne untergeht, wird es kalt und der Ofen im Haus wird angeheizt: „Bei uns ist es das ganze Jahr Heizsaison“, lacht Kasatkin. Müde, aber zufrieden essen die Glaziologen zu Abend, trinken Tee, und einige gehen direkt ins Bett – ein langer, aber produktiver Tag liegt hinter ihnen.


Ich glaube, die Hälfte der Bevölkerung von Almaty weiß nicht, dass wir Gletscher haben. Ein lebendes Beispiel: Pavel, ein IT-Fachmann, hat früher für uns gearbeitet. Er und Kolia gingen zu einem See. Der Pik Sovetov war von dort zu sehen und Pavel meinte dieser sei aus Kalkstein. Nikolaj erklärte ihm, dass es ein Gletscher sei. Wir fragten ihn, woher das Wasser des Flusses komme? Er sagte: „Wie woher? Na aus dem Erdboden natürlich!“, – erinnert sich Kapitsa. Nikolai lacht: An diesem Tag konnte er seinen Kollegen nicht davon überzeugen, dass es sich um Gletscher handele. „Und Pavel war gebürtig aus Almaty!“

„Ich schlafe vor Aufstiegen immer schlecht“

Vasili Kapitsa arbeitet seit 2006 auf Tujyksu. Er kam hierher, als er an der Al-Farabi-Universität studierte: Seine Kommilitonen machten ein Praktikum am Institut für Geografie. Vasili kam zu Besuch, traf Nikolai Kasatkin auf der Veranda und wurde von ihm zu Schneeaufnahmen eingeladen. Es war der 24. Mai, der Geburtstag von Kapitsa.


„Kommst du mit uns? Dort ist alles anstrengend, schwierig“, warnte mich Nikolaj. Ich ließ mich nicht erschrecken und sagte zu. Wir kamen zu Fuß hier hoch, übernachteten, am Morgen gingen wir zur Schneemessung auf den Gletscher, kamen runter und am 28. Mai sprach ich mit Igor Severski – damals Leiter des Labors, jetzt unser wissenschaftlicher Direktor- und das war’s: Sie boten mir den Job an, ich sagte zu, und blieb dabei. Als ich die Stelle bekam, gab es hier keinerlei Licht: Es gab nur einen Generator mit einer Glühbirne, die abends eine halbe Stunde lang leuchtete.  Man musste auf den Hügel gehen, um Empfang zu bekommen. Übrigens ist mir aufgefallen, dass Mobiltelefone früher einen besseren Empfang hatten als heute.


2008 verließ Vasili Kapitsa wegen finanzieller Probleme und um sich um seine Familie zu kümmern zeitweise die Wissenschaft, aber er blieb immer in Kontakt mit seinen ehemaligen Kollegen. Dann gab es ein internationales Stipendium des Bonner Instituts für Geowissenschaften mit Schwerpunkt auf Moränenseen. „Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt irgendwo als Manager und Verkäufer. Sie riefen mich an und boten mir ein Gehalt halb so hoch wie das, was ich zu der Zeit bekam, aber immerhin viermal höher als mein Gehalt bevor ich die Station verlassen hatte. Ich sagte also zu und kam zurück. Jetzt zahlt der Staat, er verlangt aber auch einiges.

Man erwartet von uns, dass wir viele Artikel in hochrangigen ausländischen Fachzeitschriften veröffentlichen. Es kann eineinhalb Jahre dauern, bis eine einzige Publikation veröffentlicht ist: Erstmal wird sie überprüft, dann verfasst der Prüfer eine Bewertung… dabei dauert das Programm selbst erst zwei Jahre! Und wenn man die Bedingungen des Programms nicht erfüllt, bekommt man als Strafe für drei bis fünf Jahre keinen Zugang zu Stipendien für solche Projekte. Ich hoffe, wir können die Frist einhalten.“



Den ganzen Juli über wurden in der Kosmostation Bohrungen durchgeführt. Das ist einem Projekt mit der Schweizer Universität Fribourg zum Aufbau eines Netzes zur Beobachtung des Permafrostes in ganz Zentralasien. Laut Vasili begann diese Überwachung bereits in den 70er Jahren: „Damals hatten wir etwa 32 Bohrlöcher – von anderthalb bis 120 Metern Tiefe; dieses Jahr haben wir drei 32 Meter tiefe Bohrlöcher und ein 12 Meter tiefes Bohrloch gebohrt und Sensoren installiert, die die Temperatur des Bodens in jedem Meter messen, sowie andere Geräte.

Im Juli dieses Jahres wanderten unsere Glaziologen mit Wissenschaftlern aus Österreich entlang der Gletscher oberhalb des BAO (Akronym für Bolschoe Almatyskoe Osero, Großer Almaty-See N.d.Ü.), ebenfalls ein mit Steinen bedeckter Gletscher, der sich bewegt. Zwei Wochen lang sind wir mit ihnen dort lang gelaufen, haben geophysikalische Forschung betrieben. Es gibt eine Menge Kabel, man muss Batterien und anderes Zeug tragen, und es ist alles schwer. Heute laufe ich mit einer Drohne auf dem Rücken, und es fühlt sich an wie auf den Malediven, es ist so leicht.“ Dennoch erfordert diese Arbeit eine gute körperliche Fitness – selbst junge Menschen halten das nicht immer aus. Deshalb wird die Gesundheit der Spezialisten, die den Tujyksu besteigen, jährlich überprüft.

Auch mir passiert es manchmal: Wenn ich lange nicht aufgestiegen bin, bekomme ich Atemnot oder Kopfschmerzen. Wenn ich hierher komme, werde ich auf einmal schläfrig. Und aus irgendeinem Grund schlafe ich vor dem Aufsteigen immer schlecht. Ich denke: Schaffe ich es oder nicht? Das Auto ist ja alt – 2011, und die ganze Zeit auf solchen Straßen…“. Oft möchte seine Familie in die Berge fahren, wenn sie aber seinen Gesichtsausdruck sehen, verzichten sie darauf. Was er seiner Familie aber definitiv beigebracht hat, ist Wasser zu sparen. Da die Gletscher so stark schmelzen, müssen wir uns anpassen: Unsere Einstellung zum Wasser muss sich ändern.

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Ich wohne in Tastak, bei uns wird viel Klee angepflanzt. Jede Nacht, ob es regnet oder nicht, gießen sie es, sodass es schon wie ein Sumpf ist. Wenn ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, komme ich am Gandhi-Park vorbei, dort ist es dasselbe. Und das, obwohl alle schreien, dass wir Wasser sparen sollen. Kasachstan ist reich an Mineralien, wir haben aber Probleme mit dem Trinkwasser. Das Problem ist, dass die Leute das nicht verstehen wollen: Die öffnen den Wasserhahn und das Wasser fließt. Aber woher es kommt, wo es später hinfließt… das ist egal: Die Olympischen Spiele sind viel interessanter.“ In einigen Ländern versucht man, in den Bergen Stauseen zu bauen, um das Wasser aus den Gletschern zu sammeln. Daran leiden aber die darunter liegenden Landschaften, merkt Vassilii an.

Kapitsa hat die vorherige Generation von Glaziologen in einer sehr schwierigen Zeit abgelöst, aber selbst jetzt „ist das Gehalt eines jungen Spezialisten geringer als das eines Essenslieferanten. Natürlich versuchen wir, sie zu unterstützen und sie in einige ausländische Projekte einzubeziehen. Jeder will sofort gutes Geld verdienen, das verstehe ich sehr gut, so ist es nun einmal. Ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle tun würde.

„Ich bin solche Dinge immer noch nicht gewohnt.“

Es ist immer gefährlich hier: Das sind Berge, die können mal weniger und mal mehr Gefahr bedeuten. Alles kann passieren“, sagt Kasatkin, während er auf die Berge blickt. Er ist der Einzige hier, der sich an die Blütezeit der Tujyksu-Station erinnert: „Im Sommer trainierten hier die Skispringer. Sie hatten einen Dieselgenerator, eine elektrische Sauna und ein Badehaus, einen Heizkessel und eine Kantine. Als die Sowjetunion zu Ende ging, war es fast sofort vorbei, buchstäblich im nächsten Jahr. Alles, was man wegtragen konnte, wurde weggebracht. Sehen Sie das Gestell des Geländewagens dort drüben? Ich habe ihn noch laufen sehen. Die Union brach zusammen, und buchstäblich ein Jahr später kamen wir zurück, und es gab nur noch ein Gestell: Alles, was sich klauen ließ, war gestohlen worden“, erinnert er sich.

Die Gletscherstation befindet sich auf dem Gebiet eines Naturparks, daher gibt es keine Zäune, jeder kann hier frei eindringen, was für die Wissenschaftler ein Problem darstellt. Fünf Minuten Fußweg vom Stationsgebäude entfernt liegt ein kleiner See, auf dem Weg dorthin kann man Schläuche, Kabel und Rohre sehen, die aus den Felsen ragen – wie Überbleibsel einer früheren Zivilisation. Früher holten die Bergsteiger mit Rohren Wasser aus dem See, ihre Rundhütten wurden geheizt – in den 70er Jahren wurde ein Heizsystem erfunden. Jetzt nehmen die Glaziologen einen Eimer Wasser, erwärmen ihn auf dem Herd und waschen sich auf diese Weise. Nikolai Kasatkin kam 1989 zum ersten Mal nach Tuyuksa, als er noch Student  war und er eine Ausbildung zum geodätischen Ingenieur machte.

In Kasachstan werden keine Glaziologen ausgebildet, alle Stationsmitarbeiter haben andere Berufe: Unter ihnen gibt es einen Geographen, einen Bergsteiger, aber meistens ist der Beruf des Glaziologen mit der Geodäsie verbunden, hier gibt es Hydrologen, Morphologen und so weiter. „Als ich Geodät wurde, wurden alle geodätischen Vermessungen mit optischen Theodoliten, Nivelliergeräten und Latten durchgeführt, alle Bilder standen auf dem Kopf, und von GPS hörten wir erst am Institut – ein Lehrer erzählte uns, dass die Amerikaner irgendein System erfunden hätten“, erinnert sich Kasatkin. Jetzt ist alles sogar physisch einfacher – man muss keine schweren Theodoliten auf den Berg tragen, und mit Hilfe einer Drohne und Computerprogrammen ist es möglich, „ein Forschungsvolumen zu erreichen, das ein Geodät in seinem ganzen Leben nicht schaffen könnt“.

In den 1989-90er Jahren absolvierte Kasatkin ein Praktikum am Tujyksu, 1993 schloss er sein Studium ab, „ein paar Jahre hin und her, dann die stürmischen 90er Jahre, als Leute, die 20-30 Jahre in Unternehmen gearbeitet hatten, entlassen wurden. Wer braucht schon einen jungen Fachmann? Ein paar Jahre lang war ich Kaufmann, und dann habe ich mich erinnert: Es gibt das Geographische Institut, wo ich mein Praktikum gemacht habe. Aber damals dachte ich, dass ich im Tourismus tätig sein sollte – ich hatte damals schon eine Familie, die ich ernähren musste, und ich wollte im Tourismus Geld verdienen“. 1995 kam Nikolaj zum Geographischen Institut und bot an, Touristen von Shymbulaq nach Tujyksu zu fahren, aber er wurde abgelehnt und nahm einfach einen Job als Glaziologe am Tujyksu und am Großen Almaty-See an.

Und dann starben die alten Glaziologen alle, jemand ging, und es stellte sich heraus, dass ich mit meinem Fachgebiet, mit meiner Ausbildung, gerade noch für dieses Geschäft geeignet war. Ich musste mich irgendwie in den Prozess einbringen, und dann gefiel es mir, und das war’s.“ Jetzt ist Kasatkin für zwei Stationen verantwortlich, diese untersuchen offenliegendes Eis, Permafrost und vergrabenes Eis: „Ich bin sowohl Permafrostforscher als auch Glaziologe, wie Truffaldino aus Bergamo. Nicht, weil mich jemand dazu zwingt, sondern weil es interessant ist.“ Als ich ihn nach der nächsten Generation von Glaziologen frage, winkt er ab: „Sprechen Sie mit jungen Leuten, was sie denken, aber Gott hat Vasja zur Glaziologie geschickt, das ist eine Tatsache. Ich wüsste gar nicht, wie ich das sonst erklären sollte“.

 Kasatkin sagt, dass in den letzten Jahren Geld für die Glaziologen bereitgestellt wurde, dass endlich neue Geräte gekauft wurden und dass neue Technologien und mit ihnen das 21. Jahrhundert in Tujyksa Einzug gehalten haben: „Das ist eine große Erleichterung! Als wir umgeschult wurden, mussten wir uns natürlich das Hirn zermartern, vor allem, weil uns niemand etwas beibrachte, wir mussten uns die neuen Geräte irgendwie selbst aneignen. Und wie viele Koordinaten wir jetzt verwenden, hätte ich mir nie träumen lassen“.

Nikolai Kasatkin liebt die Berge seit seiner Kindheit – er wuchs im Mikrodistrikt Orbita auf und verbrachte seine gesamte Freizeit mit Wanderungen in den Bergen, aber er ist nie Ski gefahren und hat auch nie Bergschuhe anprobiert. „Ich bin an diese Aussichten immer noch nicht gewöhnt, ich laufe jedes Mal aufs Neue mit offenem Mund herum und schaue mich um, bin euphorisch. Ich komme immer wieder und immer ist es schön: Ich habe Glück mit meinem Job, es wäre eine Sünde, sich zu beschweren. Wenn es nach mir ginge, würde ich in den Bergen leben, nicht nur leben, sondern etwas erforschen. Wenn man die Natur studiert, egal wie hochtrabend es klingt, lernt man sich selbst kennen. Der Mensch ist ein Teil der Natur, und um mehr über uns selbst zu erfahren, müssen wir die Gesetze der Natur mehr studieren. Ich lebe mein Leben und genieße es, solange Gott das Licht nicht ausgeschaltet hat. Es wird eine Zeit kommen, in der das Licht einfach ausgeht und das war’s dann. Solange genieße ich es einfach, und ich arbeite so lange ich kann.

Manchmal ist das Wetter hier so, dass es nicht mal das Ministerium für Notfallsituationen hierher schafft.

Der 32-jährige Nachwuchsforscher Berik Koszhanov stürzte heute in einen Fluss von einem halben Meter Tiefe, obwohl er einen Klettergurt trug: „Die Ränder sind glitschig, wie eine Katze in der Badewanne“, lacht er und erinnert sich an den „Arbeitsmoment“.

Berik Koszhanov


Ich komme selbst aus dem Flachland und bin durch Zufall in den Bergen gelandet. Ich weiß noch, wie ich 2012 das erste Mal hier übernachtet habe, als ich ein Praktikum machte. Ich bin nachts aufgewacht, weil sich mein Hirndruck ausglich, meine Ohren pfiffen und es war, als würde Luft entweichen. Danach hatte ich keine Probleme mehr mit der Akklimatisierung“, so Berik, der aus Westkasachstan, aus einem Dorf in der Nähe von Aqtöbe, stammt. Er studierte an der Fakultät für wissenschaftliche Geografie der Abay KazNPU (Universität in Almaty) und absolvierte während seines Studiums ein Praktikum am Institut für Geografie, wodurch er 2012 nach Tujyksa kam. Er arbeitet hier seit neun Jahren und hat heute Schichtende.

Er gibt zu, dass ihn die Ruhe der Station angezogen hat: „Das Leben hier ist gemäßigter, einfacher, die Natur, mit Murmeltieren in der Nähe. Ich bin kein Fan von vielen Menschen, von Lärm und Krach, und hier bin ich ganz allein und ruhig. Obwohl es in den letzten Jahren, nach Covid, viele Touristen hier gab, war es früher besser (lacht). Aber trotzdem ist es hier angenehmer, besonders wenn die Stadt im Sommer stickig ist. Alles ist ruhig, es ist anstrengend, aber es ist interessant. Es ist vor allem körperlich hart. Besonders im Winter ist es ein Abenteuer, hierher zu kommen. Die Entfernung von Shymbulaq bis hierher beträgt neun Kilometer. Und wir gehen zu Fuß mit einem Rucksack, in dem sich Essen und Kleidung befinden. Manchmal mussten wir hüfthoch im Schnee laufen. Es kommt vor, dass wir von Shymbulaq bis zum Mynshylky-Damm den ganzen Tag laufen solange es Tageslicht gibt. Und von dort aus müssen wir hierher genauso lange laufen. So ist das, wenn das Wetter wirklich schlecht ist.“

Die Glaziologen hier arbeiten in Schichten – eine Schicht dauert zehn Tage, dann gibt’s 20 Tage Pause. „Es gibt sechs Mitarbeiter, drei Schichten. Aber im Sommer müssen wir oft länger in der Station bleiben, weil wir mit dem ganzen Personal arbeiten müssen – um Daten zu sammeln oder um – wie jetzt – bei Reparaturen zu helfen.“

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Berik Koszhanov ist nun schon die dritte Woche hier, am nächsten Tag wird er in die Stadt fahren, heute hat er seine Wäsche gewaschen, die über dem Ofen trocknet: „Ich muss wieder wie ein Mensch aussehen und ein wenig runterkommen“. Wenn er nach Almaty kommt, schreibt er Berichte, was mehrere Tage in Anspruch nimmt. „Die grundlegendste Arbeit, die wir im Sommer auf dem Gletscher haben, ist die Schneevermessung alle zehn Tage, außerdem müssen wir manchmal jeden zweiten Tag Latten bohren, wie heute. Heute haben wir sechs-sieben Latten gebohrt. Es gab Schichten, in denen wir um sechs Uhr morgens losgefahren sind und erst abends vom Gletscher zurückkamen, den ganzen Tag über haben wir nichts anderes gemacht als Bohren. Wir hatten 2016-2017 einen Rekord: ich und ein anderer Mitarbeiter haben 58 Latten an einem Tag gebohrt. In diesem Jahr schmolzen die Latten sehr stark und wir bohrten jede einzelne neu.

Vor etwa vier Jahren bekam die Station Internet – davor erfolgte die Kommunikation per Walkie-Talkie mit der Station Mynshylky. Bevor es Internet gab, hat Berik viel gelesen – die Bibliothek in der baufälligen Hütte ist umfangreich und bietet für jeden Geschmack etwas. Er erinnert sich daran, dass er, bevor es Wi-Fi gab, mit einem einfachen Tastentelefon herumlief. Zu Hause hatte er einen Laptop, und das genügte, um mit der Welt verbunden zu sein: „An manchen Orten war es ohne Verbindung schwierig, aber andererseits war ohne Verbindung vielleicht alles ruhiger, es gab manchmal weniger Aufregung. Wir haben uns inzwischen an das Internet gewöhnt, aber es kann schwierig sein, ohne auszukommen, vor allem, wenn wir am Tisch sitzen und wir über etwas diskutieren, das man nicht googeln kann. Aber damals haben wir mehr gelesen, und heute sind Bücher eher Ausstellungsstücke“.


Alle drei Stunden muss ein Mitarbeiter Messungen an der Wetterstation vornehmen. Die sieht ganz nah aus, aber wenn das Wetter schlecht wird und Nebel aufzieht, kann man sich jederzeit verirren. „Ich orientiere mich hier sehr gut, aber wenn es neblig ist, ist nicht einmal klar, wo der Hang ist, wolang was verläuft. Einmal habe ich mich auf dem Weg zur Baustelle verlaufen, und an einem anderen Tag wehte der Wind sehr stark, ich lief den Weg entlang und wurde einfach weggeblasen. Ich kletterte hinauf und wurde wieder hinunter geblasen. In diesem Sommer gab es viel Regen und Gewitter, und ein Teil der Ausrüstung verbrannte.“ Berik erinnert sich daran, wie eine riesige Batterie vom Blitz getroffen wurde, der buchstäblich ins Haus einschlug und die Geräte beschädigte. Koszhanov sagt, er habe kürzlich eine Liste der schlimmsten Orte in Kasachstan gesehen, auf der auch die Station Tujyksu aufgeführt war – sie wurde mit Pripjat verglichen. Aber er hat sich längst an diesen Ort gewöhnt und sieht an ihm nichts Beängstigendes.


Vielleicht liegt es daran, dass einige der Häuser hier auf den ersten Blick verlassen wirken und auf dem Gelände seltsame Skulpturen aus Holz stehen – Berik nennt sie „Totems“ -, von denen keiner der Stationsbewohner weiß, wer sie gemacht hat. Vielleicht hat jemand aus der älteren Generation der Glaziologen in den einsamen Abenden gern geschnitzt. Aber all das, ebenso wie Wolken, Berge und Bäder, zieht Touristen an, und die Wissenschaftler müssen ihnen erklären, was Glaziologie ist und warum sie nicht in diesen Häusern übernachten können.

Aber es gibt Zeiten, in denen sie hier um Hilfe bitten: „Einmal klopfte einer der Touristen mitten in der Nacht an – Pupillen geweitet, Panikattacke, Bergkrankheit – das passiert, wenn man nicht an die Berge gewöhnt ist und beschließt, dort die Nacht zu verbringen. Touristen fragen oft nach dem Weg, oder bitten darum, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Eines Tages kam ein Tourist und sagte: ‚Setz mal den Kessel auf, während ich zum See gehe‘. Hier ist es manchmal wie in einem Café! Manche Leute kommen ganz ruhig und bitten um Hilfe, dann ist das kein Problem, aber wenn sie unverschämt sind, dann schallt es aus dem Wald so, wie sie hineinrufen.“

Manche dann erzählen anderen: „Da oben hat jetzt ein wütender Kasache Dienst“ (lacht). „Ich bin der einzige Kasache, der auf dem Station arbeitet, und sie erinnern sich eher an mich. Vor anderthalb Monaten brach sich ein Tourist auf dem Weg hinter einem benachbarten Hang ein Bein. Er und andere Touristen waren dort unterwegs, genau wie zwei Spezialisten aus Kazselesaschita, die aufstiegen, um sich den See anzuschauen. Sie kamen dann zu mir, um die Stadt zu kontaktieren. Schließlich rief ich Mynshylky an, und das Ministerium für Notsituationen kam zum Einsatz. Es dauerte einen halben Tag, um sie zu retten. So etwas passiert ständig, vor allem im Frühjahr, wenn jemand von einer Lawine erwischt wird. Gerade zu dieser Zeit meinen Skifahrer auf Berge steigen zu müssen, sie lösen selbst Lawinen aus. Und manchmal ist das Wetter hier so, dass selbst der Noteinsatzdienst hierher kommen kann.

Koszhanov lacht, denn nicht einmal alle seine Verwandten verstehen, was er das ganze Jahr über in den Bergen sitzt. Sergej Gebel, ein Hilfsingenieur, arbeitet seit vier Jahren hier. „Als ich zum ersten Mal hierher kam, war es für mich wie ein Märchen, alles war neu, alles war so interessant, ich bin den einen Berg hinaufgelaufen, ich bin den zweiten Berg hinaufgelaufen, ich wollte alles lernen, alles fotografieren, alles riechen, alles anfassen“.

Sergei Gebel

Gebel weiß, wo man Pilze, Himbeeren, Weidentee und andere Pflanzen pflücken kann, und er scheint alle einheimischen Murmeltiere zu kennen, die das Gebiet der Station unter sich aufgeteilt haben: einige leben in der Turnhalle, andere unter Fässern, das mutigste – unter dem Haus. Es kommt ganz nah an uns heran – wohlgenährt und schön. Früher gab es hier einen Hund, aber der ist weggelaufen, sie wollten eine Katze anschaffen, aber anscheinend sind nicht alle Mitarbeiter dafür. „Mit einem Kätzchen würde es mehr Spaß machen, aber ohne haben wir mehr Murmeltiere“, lacht Sergei.

Berik Koszhanov und Ilia Shechev kann man als die junge Generation von Glaziologen bezeichnen, aber Berik gibt zu, dass er sich eindeutig nicht als solcher fühlt, weil er vieles nicht weiß, vor allem, wie man Geräte repariert. „Was die Wissenschaft betrifft, so trifft das wahrscheinlich nicht auf uns zu, sondern auf diejenigen, die im Büro sitzen, denn wir sind nur Sammler von Informationen, wir analysieren sie nicht. Man sagt uns, wir sollen messen, und wir geben die Informationen weiter, und ein Team, das mehr Mitarbeiter hat als wir, bearbeitet sie. In regelmäßigen Abständen erfahren wir dann das Ergebnis. Ich kann es irgendwie sehen, aber ich habe keine konkreten Zahlen in der Hand.

Manchmal fragen wir uns und sind dann überrascht, wie stark sich der Gletscher zurückzieht. Aber das ist verständlich, das Klima ändert sich. Erinnern Sie sich an den Sturm in Shymbulaq im Jahr 2011? Warum ist das passiert? Weil die Berge kalt sind, die Stadt aber sehr heiß wurde und der Temperaturunterschied einen starken Wind verursachte, der alles zu zerstören begann. Und wenn es keine Gletscher mehr gibt, wird sich die Stadt noch mehr aufheizen, weil die Wassergräben leer sind, die die Stadt sehr stark abkühlen“.

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Ilia Shechev, 23, ist der jüngste Mitarbeiter der Station, ein glaziologischer Techniker, der seit zweieinhalb Jahren hier arbeitet. Davor arbeitete er in der Skistation Shymbulaq und ist eine seltene Mischung aus Bergsteiger und Glaziologe. Im Alter von sechs Jahren bestieg er seinen ersten Gipfel – den Komsomol-Gipfel – er lacht darüber, dass seine Eltern es damals nicht geschafft haben. Und im Alter von 16 Jahren erhielt er ein internationales Zertifikat als Ausbilder für Bergtourismus. In seiner Freizeit führt er neben seiner Schicht als Bergsteiger Touristen in die Berge. „Die Arbeit des Glaziologen ist interessant, denn wenn man in den Bergen ist, um Messdaten zu nehmen, muss man zur Molodjoschka laufen – zu diesem Gipfel dort drüben, dort steht das Gerät, und an einem Tag kann man die ganze Schlucht rauf und runter laufen.

Ilia Shechev


Ilia weiß nicht, ob er sein zukünftiges Leben mit der Gletscherbeobachtung verbinden wird. Er überlegte, ein Studium zu unternehmen, aber er ist sich noch nicht sicher: „Das Bergsteigen reizt mich, manchmal möchte ich 20 Tage lang an einem Trekking teilnehmen, aber dann komme ich von der Schicht herunter und möchte in der Stadt sein, mich ausruhen. Ich vermisse nicht die Schicht, ich vermisse die Berge. Die ersten fünf Tage hier zähle ich die Tage. Die Höhe macht mir sehr zu schaffen, ich werde müde, und in den letzten Tagen der Schicht fühle ich mich sehr angeschlagen.“

Ich habe ihn gefragt, ob er den Film „Majak“ über zwei Männer gesehen hat, die zusammenarbeiten und allmählich verrückt werden, und er hat gelacht, denn hier gebe es schließlich W-LAN. Ilja zeigt uns das Haus, in dem Revutaitė früher wohnte. Letztes Jahr wurden hier einige Reparaturen vorgenommen, weil Glaziologen aus Zentralasien zum Workshop kamen – sogar eine neue Holztoilette wurde eingebaut. Jetzt ist das Haus geschlossen – der Ofen funktioniert dort nicht. Wir schauen uns alte Zeitschriften an – eine auf Litauisch, „Orakel“, alles Mögliche an Mystik – aber die Glaziologen selbst sind sehr pragmatisch und frei von Esoterik und anderem Mystizismus. Es gibt keine Legenden über schwarze Bergsteiger oder Bigfoot, sie sagen, dass es hier nur Bergziegen und Schneeleoparden gibt, aber niemand hat letztere gesehen. Sogar Bären und die gibt es am Großen Almaty-See.


Am Morgen werden wir von heftigem Regen geweckt – es ist heiß in Almaty um diese Zeit. Hier ist es +5 Grad und Nebel hat sich über die Berge gelegt. Kapitsa und Kasatkin schauen in den Himmel: Nein, heute bleibt der Himmel bewölkt. Bei dieser Expedition kann die Drohne nicht mehr abheben. Gut, dass sie gestern Zeit den Tag genutzt haben. Kapitsa sagt allen, sie sollen zusammenpacken, Ilia, Sergei und Berik bleiben in der Station – seine Sachen hatten keine Zeit zum Trocknen und er wird morgen zu Fuß hinuntergehen.



Nächste Woche kommen die Zoologen zu uns, sie brauchen ein paar Schmetterlinge“, warnt Kapitsa.

Svetlana Romatschkina (Text) und Daniyar Musirov (Fotos) für Vlast

Aus dem Russischen von Giulia Manca

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