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Kolonialismus und Dekolonisierung. Sollten die Tadschik:innen ihre Vergangenheit überdenken?

Im Jahr 2024 jährt sich zum 100. Mal die Gründung der Tadschikischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, der ersten Staatsgründung der Tadschik:innen innerhalb der UdSSR. Was hat die Sowjetherrschaft dem tadschikischen Volk gebracht und wie haben sich die letzten Jahrzehnte für sie gestaltet? Die Mediengruppe Asia-Plus lud den renommierten, tadschikischen Wissenschaftler und Historiker Saifulloh Mullodjon ein, um eine Diskussion zum Thema Dekolonisierung in der tadschikischen Gesellschaft zu eröffnen.

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Im Jahr 2024 jährt sich zum 100. Mal die Gründung der Tadschikischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, der ersten Staatsgründung der Tadschik:innen innerhalb der UdSSR. Was hat die Sowjetherrschaft dem tadschikischen Volk gebracht und wie haben sich die letzten Jahrzehnte für sie gestaltet? Die Mediengruppe Asia-Plus lud den renommierten, tadschikischen Wissenschaftler und Historiker Saifulloh Mullodjon ein, um eine Diskussion zum Thema Dekolonisierung in der tadschikischen Gesellschaft zu eröffnen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann in den Ländern Osteuropas und später in den neuen unabhängigen Republiken der ehemaligen Sowjetunion ein Prozess der Neubewertung politischer, nationaler und kultureller Identitäten, der als Dekolonisierung bezeichnet wird.

Je nach politischem System und Interessenlage der herrschenden Elite verlief dieser Prozess in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Doch alle Staaten überlebten diese historische Phase und legten so den Grundstein für ihre politische und kulturelle Unabhängigkeit. Denn bei der Kolonisierung geraten Völker bewusst oder unbewusst unter den Einfluss einer fremden Zivilisation und opfern dadurch ihre eigene Geschichte, Kultur, Weltanschauung und Tradition.

Dekolonisierung bedeutet mehr als die politische Unabhängigkeit eines Landes. Es geht darum, die Folgen der Kolonialisierung zu beseitigen, das kulturelle Erbe zu schützen und wiederzubeleben, die Landessprache zu bewahren und den Menschen Raum zu geben, sich ihrer Geschichte zu erinnern und sie zu verstehen. Es geht auch darum, sich vom informationellen und ideologischen Einfluss eines anderen Landes zu befreien.

Die Erfahrung der Dekolonisierung in der Welt

Politikwissenschaftler:innen unterscheiden zwischen verschiedenen Arten der Dekolonisierung. Für unsere tadschikische Gesellschaft ist eine ruhige und ausgewogene Herangehensweise an das Thema am akzeptabelsten – ohne Forderungen an einen bestimmten Staat zu stellen und ohne den Drang, über die wesentlichen Ereignisse der Kolonialzeit und den Wert der Unabhängigkeit aufzuklären.

Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Unabhängigkeit – anstatt ein zentraler Wert für die Menschen zu sein – zu einem leeren und bedeutungslosen Konstrukt wird. An diesem nationalen Projekt sollten Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen beteiligt sein, von Ökonomen und Politikwissenschaftler:innen bis hin zu Historiker:innen, Sprach- und Kulturwissenschaftler:innen. Erst wenn ein wissenschaftlich fundiertes Projekt vorliegt, sollte der Staat mit der Umsetzung beginnen.

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Die erfolgreichen Länder der Welt haben zuerst ihre politische Unabhängigkeit erlangt und dann gezielt Projekte durchgeführt, um die Grundlagen ihrer Unabhängigkeit zu festigen und die Folgen des Kolonialismus zu beseitigen. Beispielsweise waren China und Indien früher ganz oder teilweise Kolonien westlicher Länder, aber in keiner Studie von Wissenschaftler:innen dieser Länder wird diese Seite der Geschichte mit Stolz erwähnt oder als „einziger Weg zu Heil und Glück“ bezeichnet. Vielmehr wurden in diesen Ländern Programme zur Überwindung der Folgen der Kolonialisierung durchgeführt, die China und Indien zu den heutigen Wohlstandsländern gemacht haben. Ähnliche Programme werden derzeit in den baltischen Staaten, Georgien, der Ukraine und Kasachstan durchgeführt, also in Ländern, die bis vor kurzem noch Teil der Sowjetunion waren.

In einigen dieser Länder (Lettland, Litauen, Estland, Ukraine und Georgien) wird diese Politik aktiv und entschlossen umgesetzt, in anderen (Aserbaidschan und Kasachstan) aus politischen Gründen eher vorsichtig.

Warum brauchen die Tadschik:innen die Dekolonisierung?

Der Abriss des Lenin-Denkmals im Herbst 1991 war einer der Auslöser des Bürgerkrieges. Während der gesamten militärisch-politischen Auseinandersetzung im Jahr 1992 wurde dieses Ereignis von den Konfliktparteien immer wieder erwähnt, was bei einem Teil der Bevölkerung des Landes, insbesondere bei den Anhänger:innen des Sowjetsystems und der kommunistischen Führung, zu sehr scharfen Reaktionen führte.

Wenig später wurden allein in der Lenin-Allee (der heutigen Rudaki-Allee) sechs weitere Statuen des „Führers des Weltproletariats“ entfernt, danach verschwanden still und leise Hunderte weiterer Denkmäler aus der Sowjetzeit. Außer ein paar Journalist:innen nahm niemand Notiz davon. Das heißt, es wurde ein stiller Weg gewählt, um das Erbe der Vergangenheit zu beseitigen. Ein weiterer Schritt zur Beseitigung des kolonialen Einflusses war die Rückkehr zu tadschikischen Namen, die 2007 begann und bis heute andauert.

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Die gesamte Bevölkerung (nicht nur Fachleute und Gelehrte) sollte die Eroberer (ob Griechen, Araber, Mongolen oder Russen) bei ihrem richtigen Namen nennen. Die Menschen müssen verstehen, dass derjenige, der unser Land einst eroberte, in erster Linie seine politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgte und dass ein Eroberer niemals ein „Retter“ oder „Befreier“ sein kann.

Als objektive Realist:innen unserer Geschichte haben wir nicht das Recht, die Augen vor den offensichtlichen Wahrheiten zu verschließen. Nur so können wir aus der Vergangenheit lernen und eine bessere Zukunft aufbauen.

Vorgeschichte/Der Hintergrund

In den ersten Jahren der sowjetischen Herrschaft (1923-1947) wurde auf Geheiß der sowjetischen Führung immer wieder betont, dass Zentralasien vor der Revolution eine Kolonie gewesen sei. Dies geschah, um den lokalen Intellektuellen und der breiten Öffentlichkeit zu erklären, dass die Sowjetunion, die das Russische Reich ablöste, etwas anderes und viel besseres sei. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts änderte sich jedoch die Sichtweise der Sowjetunion auf dieses Thema – die damaligen Ereignisse wurden anders bewertet, man begann, nur noch von den „Vorteilen“ der Eroberung Zentralasiens zu sprechen.

Dies ging so weit, dass Wissenschaftler:innen in Tadschikistan und anderen zentralasiatischen Ländern begannen, von einer „Annäherung“ oder gar einem „freiwilligen Anschluss“ der Region an Russland zu sprechen. Angesichts der Tatsache, dass die Russ:innen selbst diesen Prozess als Eroberung bezeichneten, erschien dies natürlich absurd.

Als beispielsweise Kaiser Alexander II., der Eroberer Zentralasiens, 1881 ermordet wurde, errichtete man an seinem Grab eine Gedenktafel mit den Verdiensten des Zaren. Eines dieser Verdienste war die „Eroberung Zentralasiens“. Auch russische Gelehrte wie M. Terentjew, K. Abaza bevorzugten in ihren Schriften das Wort „Eroberung“.

Der amerikanische Wissenschaftler Willard Sunderland hat in einer seiner Studien die Besonderheiten der Kolonialpolitik der europäischen Länder gegenüber den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aufgezählt und Russland als ein Land mit einer spezifischen Kolonialpolitik bezeichnet.

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Auch der zeitgenössische russische Historiker Sergej Abaschin schreibt in seinen Forschungen über die Eroberung Zentralasiens und charakterisiert die Region als Kolonie.

In unseren Nachbarländern wurden zahlreiche Studien über die Eroberung Zentralasiens und die Folgen des Anschlusses dieser Gebiete an Russland durchgeführt. In Tadschikistan ist dieses Thema jedoch noch nicht ernsthaft diskutiert und erforscht worden. Einige Werke, die sich mit der Etablierung der Sowjetherrschaft in der Region befassen, sprechen nur von den „einzigartigen Errungenschaften“ dieses Systems, während andere diese Ereignisse als „Verbrechen und Verrat“ des Sowjetregimes charakterisieren.

Sajfullochi Mullodchon
Asia Plus

Aus dem Russischen von Usmon Rakhmonov

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