Am 24. Oktober haben die Bürger:innen Usbekistans Shavkat Mirziyoyev mit 80,1 Prozent der Stimmen erneut zum Präsidenten des Landes gewählt. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage etwas verbessert zu haben scheint, beschreiben die von der französischen Redaktion von Novastan befragten Usbek:innen eine immer noch sehr geschlossene Gesellschaft. Eine Reportage.
Ohne große Überraschung wählten die Bürger:innen von Usbekistan am 24. Oktober den amtierenden Präsidenten Shavkat Mirzyioyev mit 80,1 Prozent der Stimmen in eine zweite Amtszeit. Damit steht er fünf weitere Jahre an der Spitze des Landes, das er bereits seit Dezember 2016 führt.
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Um mehr darüber zu erfahren, was diese Wahl für die Menschen in Usbekistan bedeutet, hat Novastan Bürger:innen nach dem Urnengang getroffen. Sie zeichnen ein anderes Bild der Lage im Land, als es gewöhnlich von der Regierung in hellen Farben gezeichnet wird.
Wählen? „Das ändert nichts an der Lage“
Erster Halt: Hoʻjakent, nordöstlich von der Hauptstadt Taschkent. Um die bergige Provinz um den Chorvoq-Stausee zu erreichen, muss man den Vorortzug nehmen, in dem die Sitze aus Holzbänken bestehen. Rund um den Bahnhof Ho’jakent, der im Winter von vielen Tourist:innen besucht wird, die in das Skigebiet Amirsoy strömen, ist die Infrastruktur gut, wenn auch verbesserungswürdig. Nähert man sich der Stadt, die seltener besucht wird, sieht es schon ganz anders aus. Als Taxifahrer Rasul, vor dem Wahllokal in einer Schule ankommt, erklärt er stolz, dass er nicht zur Wahl gegangen ist. „Ehrlich gesagt, sind wir in diesem Land in einer beschissenen Situation. Deshalb bin ich nicht zur Wahl gegangen. Ob es nun Karimov oder Mirziyoyev ist, wird nichts ändern“, sagt Rasul und erwähnt dabei den ehemaligen usbekischen Präsidenten Islom Karimov (1989-2016). Die Sonne scheint und die Tore der örtlichen Schule sind weit geöffnet. Zwei Männer, einer in Polizeiuniform, der andere in Zivil, stehen am Eingang Wache und beobachten die Umgebung sehr genau.
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Besucher:innen werden gleich beim Betreten von den beiden Männern angesprochen, die alle Dokumente kontrollieren. Nach dem Grund der Kontrolle gefragt, antwortet der Mann in Zivil, er sei Lehrer. „Verstehen Sie, es ist nur so, dass er (er zeigt auf den uniformierten Polizisten) kein Russisch spricht, also helfe ich ihm.“ Der ‚Lehrer‘ erklärt, dass er in der Schule, in der sich das Wahllokal befindet, gut arbeitet. Welches Fach er dort unterrichtet, kann er jedoch nicht sagen, obwohl es keine Sprachbarriere gibt. Solche ‚Paare‘ von Polizisten in Zivil und in Uniform sind an diesem sonnigen Sonntag in Usbekistan vor jedem Wahllokal zu sehen.
Fröhliche Wählerinnen und Wähler im Vordergrund
Die Wähler:innen lächeln und grüßen sich gegenseitig. Sie teilen diese Energie und erklären einstimmig und glücklich, dass sie für den scheidenden Präsidenten Shavkat Mirziyoyev gestimmt haben. Sie weigern sich jedoch, sich weiter zur Lage im Land zu äußern.
Die Sprachbarriere spielt sicherlich eine Rolle, aber der eigentliche Schuldige ist die heitere Atmosphäre rund um das Wahlritual. Die Wahl wird zum Fest stilisiert, um Bürger:innen zu mobilisieren und die Wahlenthaltung zu verringern, den eigentlichen Feind jedes autoritären Regimes. Zum festlichen Charakter gesellt sich die Angst, etwas Falsches zu sagen. Dieses Schema von oberflächlichen und positiven Gesprächen über den amtierenden Präsidenten wederholt sich endlos am Sonntag vor den Wahllokalen, sei es in den Regionen oder später am Tag in Taschkent.
„Sie können sich die Atmosphäre, die wir unter Islom Karimov hatten, gar nicht vorstellen“
Es werden auch andere Meinungen geäußert, aber ziemlich weit von den Wahllokalen entfernt. Ein paar Kilometer weiter hält Timur an einem malerischen Aussichtspunkt über dem Chorvoq-Stausee, wo sich hinter dem klaren blauen Wasser die Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln auftürmen. Timur sagt, er sei für einen Tag aus Taschkent gekommen, um den Sonntag mit seinem Cousin in den Bergen zu verbringen. Der 26-Jährige arbeitet als Computeringenieur in der usbekischen Hauptstadt. Nachdem er gerade von einem zweijährigen Studienaufenthalt in Berlin zurückgekehrt ist, bietet er eine nüchterne Einschätzung der wichtigsten Herausforderungen Usbekistans. „Ich würde sagen, unsere größten Probleme sind geschlechtsspezifischer und ökologischer Natur: Viele Männer in Usbekistan haben eine extrem patriarchalische Einstellung zu Frauen und wollen, dass sie zu Hause bleiben, anstatt zu arbeiten“, sagt Timur. „Wir haben auch wenig Respekt vor der Umwelt: Das gilt insbesondere für den Aralsee und die Situation der Menschen, die um ihn herum leben. Aber das ist ein allgemeines Problem, die Gesellschaft hat eine perverse Einstellung zu diesen Themen“, fügt er hinzu.
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In Bezug auf die aktuelle Regierung ist Timur dennoch optimistisch. „Sie können sich die Atmosphäre, die wir unter Islom Karimov hatten, gar nicht vorstellen. Selbst in einer Gruppe von zehn Leuten konnten wir uns nicht treffen und unbesorgt Witze erzählen. Es war, als hätte jeder seinen Text schon vorbereitet“, beschreibt er. „Die Dinge haben sich in dieser Hinsicht geändert, auch wenn es in der Wirtschaft nur langsam vorangeht. Heute ist es viel einfacher, ein Geschäft zu eröffnen, ohne dass Leute, die mit der Regierung in Verbindung stehen, Schwierigkeiten machen oder Bestechungsgelder verlangen“, ergänzt Timur. „Natürlich ist dies nicht überall der Fall: Die so genannten ‚strategischen‘ Sektoren, also alles, was mit Infrastrukturen, Eisenbahnen und Immobilien zu tun hat, ist immer noch dem Staat vorbehalten. Aber es gibt viele Bereiche, in denen der Staat, nicht in der Lage ist, interessante Dinge zu tun; dies gilt insbesondere für den IT-Bereich, in dem ich arbeite. Also lässt die Regierung uns das tun! Auch wenn ich nicht sagen kann, dass wir uns mit Lichtgeschwindigkeit entwickeln„, sagt er abschließend.
Der Reichtum des Präsidenten
Weiter flussaufwärts wird die Landschaft majestätisch und das Land dünner besiedelt. Hier reihen sich mehrere Residenzen des usbekischen Präsidenten aneinander. Sie sind mit großen Ferienhäusern verbunden, die von Vertrauten des ehemaligen Staatschefs Karimov gebaut wurden. Einige Kilometer weiter taucht ein weiterer Wohnsitz auf, der noch imposantere Zäune aufweist. Diese hier gehört Präsident Mirziyoyev. „Er hat sich eine verdammte Residenz am Strand gebaut“, wiederholt Rasul im Laufe einiger Minuten mehrmals verzweifelt. „Ich weiß nicht einmal, wie viel es gekostet hat… Sie kommen im Sommer oft hierher, meist mit der ganzen Familie. Manchmal mit dem Auto, manchmal mit dem Hubschrauber“, erklärt er und zeigt auf eine gigantische moderne Villa, die unter Karimov gebaut wurde und nur schwer zu sehen ist. „Und sieh dir diese Wasserballons und Rohre an, die das Wasser aus dem Tank nach oben tragen. Meines Erachtens können die Ballons bis zu 20.000 Tonnen Wasser fassen, Gott weiß, warum er so viel braucht“, erklärt Rasul weiter. Sobald man den Haupteingang der Residenz passiert hat, ändert sich die Landschaft dramatisch. Die einheimischen Bäume wurden alle gefällt und durch junge Tannen und einige Sträucher ersetzt. Auch die Qualität der Straße verbessert sich deutlich.
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Das Wasserversorgungssystem ist genauso beeindruckend, wie Rasul es beschreibt. Kilometerlang zieht sich eine nagelneue Spirale aus Rohren und Wasserballons, die in der Sonne glänzt, entlang der Straße. Sie erweckt einen unwirklichen Eindruck, vor allem im Vergleich zu dem eher maroden Zustand der Infrastruktur an Orten, an denen der Präsident Mirziyoyev wahrscheinlich nicht vorbeikommen wird.
„Die Menschen haben wirklich weniger Angst“
Die Rückfahrt nach Taschkent erfolgt mit einem Sammeltaxi. Während der Reise spricht Stas, ein 30-jähriger Usbeke russischer Herkunft, der in der usbekischen Hauptstadt geboren und aufgewachsen ist, über seine Vision von Usbekistan. Wie Timur versucht auch er, optimistisch in die Zukunft zu blicken. „Die Lage im Land ist durchschnittlich, aber besser als unter Karimov. Vor allem hat sich die Atmosphäre verändert, und die Menschen haben wirklich weniger Angst. Die Preise sind in den letzten Jahren stark gestiegen, aber auch die Löhne, und nach und nach öffnen wir uns der Welt“, sagt Stas. „Als Fahrer für ein Unternehmen, das Kohle in der Region Chorvoq verkauft, erhalte ich monatlich zwei Millionen Sum (160 Euro). Ich arbeite zehn Tage am Stück, dann habe ich zwanzig Tage frei. Es ist nicht viel Geld, aber ich glaube, dass man in jeder Situation versuchen kann, über die Runden zu kommen.“
„Meine freien Tage verbringe ich in der Küche eines Restaurants in Taschkent, wo ich Schaschlik zubereite. Dann versuche ich, ein Auto zu mieten, das ich auf Kredit gekauft habe, um mehr Geld zu bekommen, und ich habe andere Ideen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen“, erzählt Stas. „In unserem Land funktioniert es so: Wenn man die Energie hat, etwas für sich selbst zu tun, kann man mehr oder weniger friedlich leben. Tut man es nicht, wird man nicht viel bekommen. Auf der anderen Seite haben wir in gesellschaftlichen Fragen noch viel zu tun. Ich sehe viele junge Menschen, die mit 19 oder 20 Jahren heiraten, oft weil ihre Eltern sie dazu zwingen. Wir müssen das Bewusstsein der Menschen für diese Dinge wirklich ändern“, sagt Stas.
„Sie haben vielleicht den Eindruck, dass in unserem Land alles in Ordnung ist“
„Wenn man als Ausländer mit den Menschen spricht, könnte man den Eindruck gewinnen, dass in unserem Land alles in Ordnung ist“, kommentiert Yulia*, eine 25-jährige Russin aus Taschkent, die wir in der Hauptstadt treffen. „Die Realität ist, dass die meisten Menschen sehr stark in ihren Familien verwurzelt sind und sich auf ihre traditionellen Werte konzentrieren. Deshalb betrachten sie alles, was um sie herum geschieht, als normal. Zweitens haben sie große Angst vor einem Regimewechsel, denn aus ihrer Sicht ist das nur eine Gelegenheit für einen neuen Diktator, seine Taschen und die seiner Freunde zu füllen“, sagt sie.
„All dies hat seine Wurzeln im Bildungsniveau, das in Usbekistan immer noch sehr niedrig ist: Deshalb haben die Menschen Angst vor jeder Veränderung. In Taschkent haben wir oppositionelle Blogger und Journalisten, die sich nicht scheuen, die Regierung zu kritisieren. Aber ohne große Fortschritte im Bildungswesen wird sich die politische Situation im Land nicht ändern“, ergänzt Yuliya, die im Bereich des Marketings tätig ist.
„Zwei weitere Probleme, die ich sehe, sind die Korruption, die buchstäblich alle Bereiche unseres Lebens verschlingt, und das System des ‚Pilusgoh‘, das uns von der Grundschule an beigebracht wird. Die Idee hinter diesem System ist, dass man versucht, sich von seiner guten Seite zu zeigen, wenn jemand vorgesetztes kommt. So erhält man ‚Pluspunkte‘“, beklagt Yuliya. „Bei Kontrollen so zu tun, als sei alles in Ordnung, und dann zu anderen Zeiten nichts zu tun, ist leider immer noch das Grundprinzip unserer Gesellschaft, und ich sehe nicht, dass sich das in naher Zukunft ändern wird“, resümiert die junge Frau.
Am Abend des 25. Oktober, dem Tag nach Schließung der Wahllokale, änderten die großen digitalen Werbetafeln, die bis dahin die fünf offiziellen Präsidentschaftskandidat:innen nacheinander präsentiert hatten, von einem Moment auf den anderen ihren Inhalt, sobald die Zentrale Wahlkommission die Ergebnisse bekannt gab. Auf allen Plakatwänden stand dann eine einzige Botschaft: „Mirziyoyev – Tabriklaymiz – wir gratulieren [Präsident] Mirziyoyev“. Das Bild eines politischen Systems, das immer noch stark von den Machthabern kontrolliert wird, könnte nicht besser illustriert werden.
Karol Luczka Journalist für Novastan.org
Aus dem Französischen von Florian Coppenrath
*Der Name wurde geändert
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