Die Gletscher des Tian-Shan-Gebirges gehören zu den wichtigsten Wasserreservoirs Zentralasiens, aber auch wirtschaftlich haben sie eine bedeutende Rolle für die Region. Angesichts der durch den Klimawandel veränderten Abflussmenge an Schmelzwasser drohen katastrophale Auswirkungen auf ganz Zentralasien.
Einer am 30. Januar auf der schweizerischen akademischen Plattform MDPI veröffentlichten Studie zufolge werden die Gletscher Zentralasiens am Ende des 21. Jahrhunderts die Hälfte ihres Volumens und ein Drittel ihrer Fläche eingebüßt haben. Diese Prognosen entsprechen dem Median-Ablauf der Untersuchungen, die von einem Team aus Hydrologen unter der Leitung von Maria Shahgedanova veröffentlicht wurden. Dennoch gehen die Forscher nicht davon aus, dass die Gletscher zur Gänze verschwinden werden. Die Auswirkungen für die auf das Wasser dieser Gletscher angewiesenen Bevölkerung drohen allerdings verheerend zu sein.
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Der Ausgangspunkt der Forschungen war die Erderwärmung und die damit einhergehenden Veränderungen des Niederschlags in der Region. Aufgrund der Tatsache, dass die Schmelzwassermenge im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts eine bisher nie dagewesene Spitze erreicht hat, überprüften die Wissenschaftler eine mögliche voranschreitende Austrocknung der Gletscher des Tian Shan.
Das Wasser des Tian Shan, eine strategische Ressource und wichtiger Wirtschaftsfaktor für vier Länder
Ein Großteil der Gletscher Zentralasiens, die sich über 2500 Kilometer erstrecken und die Täler Kasachstans, Kirgistans und Usbekistans, also einer der größten Bewässerungsflächen weltweit, mit Wasser beliefern, gehört zur Bergkette des Tian Shan. Ebenso versorgt das Schmelzwasser dieser Gipfel die autonome uigurische Region Xinjiang, deren auf Kohle, Erdöl und Erdgas basierende industrielle Produktion, unabdingbar für das Wachstum der chinesischen Wirtschaft ist.
Einschätzungen des hydrometeorologischen Zentrums der usbekischen Regierung zufolge liegt der Gletscherschwund in Usbekistan im Jahresdurchschnitt zwischen 0,2 und 1 Prozent pro Jahr, berichtete das russische Magazin Lenta.ru im Jahr 2014. Wenn es in diesem Rhythmus weitergeht, dann könnten sich im Jahre 2050 die Wasserreserven des Amudarja-Beckens um 10 bis 15 Prozent und die des Syrdarja, der längste und am zweithöchsten entspringende Fluss Zentralasiens, an dessen Lauf sich sechs usbekische Regionen (darunter die Hauptstadt Taschkent), drei kirgisische Regionen, zwei kasachische und eine tadschikische Region befinden, um 2 bis 5 Prozent verringert haben. All das würde zur Verwüstung von großen Landflächen führen und die Bemühungen Kasachstans, den nördlichen Teil des Aralsees zu bewahren, zunichtemachen.
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Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben zahlreiche Wissenschaftler vor möglichen Folgen der Gletscherschmelze im Tian Shan gewarnt, insbesondere in Hinblick auf die wirtschaftliche und staatliche Sicherheit der betroffenen Staaten. „Wenn sich die Wasserressourcen in Zukunft stark verringern, so könnte dies auch zu einem großen zwischenstaatlichen Konfliktpotenzial werden,“ hielt der Gletscherkundler der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL Daniel Farinotti im amerikanischen Wissenschaftsjournal Live Science fest. Aus der unter seiner Leitung durchgeführten Studie aus dem Jahr 2015 ging hervor, dass die Gletscher des Tian Shan viermal so schnell schmelzen wie der weltweite Durchschnitt.
Unterschiedliche Folgen je nach Gletschertyp
Unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Temperaturanstiegs der Luft in dieser Region, der am Ende dieses Jahrhunderts bei 3,5°C liegen wird, haben die Hydrologen unter der Leitung von Maria Shahgedanova die unterschiedlichen Fähigkeiten zur natürlichen Regeneration der Gletscher abgeschätzt. Dadurch weiß man beispielsweise, dass die Gletscher, deren natürliche Möglichkeiten zur Regeneration gering sind, und die, welche die Flüsse Turgen und Qaskeleng in der Region Almaty speisen, besonders gefährdet sind. Die Reduktion der sommerlichen Schmelzwassermenge wird auf 20 bis 30 Prozent geschätzt. Allerdings deuten die statistischen Ausarbeitungen auch darauf hin, dass andere Gletscher, deren Regenerationsfähigkeit als natürlich hoch eingeschätzt wird, wie etwa diejenigen, die die Flüsse Ili und Talgar speisen, keinen signifikanten Veränderungen unterliegen. Lediglich das Worst-Case-Szenario sieht im Frühling einen Anstieg der Wassermenge vor.
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Der Rückgang der Schmelzwasserabflussmengen im Sommer und der damit einhergehende Wassermangel könnten schwerwiegende Folgen für die Bewässerungssysteme auf den kasachstanischen Berghängen, einen der größten Wasserverbraucher, haben, während der Anstieg der Wassermengen im Frühling zu einem höheren Überschwemmungsrisiko führt. Das Best-Case-Szenario, das von den Hydrologen modellhaft dargestellt wurde, wäre ein Rückgang der Wassermengen im Sommer. Im schlimmsten Falle sieht das Szenario hingegen einen großen Anstieg der Temperaturen und eine starke Schnee- und Gletscherschmelze voraus.
Hermann Häusler, Geologieprofessor an der Universität Wien, hat die Risiken einer Gletscherschmelze des kirgisischen Teiles des Tian-Shan-Gebirges gegenüber der Deutschen Welle wie folgt beschrieben: Aufgrund des Abschmelzens der Gletscher kommt es zur Entstehung von Hochgebirgsseen in einer Höhe von bis zu 5000 Metern über dem Meeresspiegel. Unterschiedliche Naturphänomene können in der Folge zu einem plötzlichen Durchbruch eines solchen Sees führen, dessen Wassermassen sich dann ihren Weg durch die viel kleineren Wasserläufe bahnen. Dies entspricht etwa einigen hunderttausenden Kubikmetern Wasser, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, mitreißen. Unter den hunderten Gletschern Kirgistans stellen zirka zwei bis drei Dutzend aus diesem Grund eine große Gefahr für die dort ansässigen Menschen dar. Hermann Häusler stellt ebenso fest, dass die kirgisischen Gletscher aufgrund ihrer Größe und hohen Anzahl viel gefährlicher als ihre europäischen „Verwandten“ sind. Das Risiko für Wasserdurchbrüche sei ebenfalls um einiges höher.
Ein Problem für Umwelt und Politik von überregionaler Größenordnung
Bei der am 26. Februar in Bischkek abgehaltenen überregionalen Konferenz „Zentralasien. Eine Region jenseits von Konflikten“ haben einige regional tätige Wissenschaftler auf die massive Verschlechterung der Umweltbedingungen in Zentralasien hingewiesen. Laut der russischen Zeitschrift Komsomolskaja Pravda ging es dabei vor allem um die Frage des Gletscherschutzes. Die Teilnehmer beklagten das Fehlen von gemeinsamen länderübergreifenden Forschungsprojekten regionaler Experten, die dabei helfen könnten, einerseits tiefgehende Analysen zu tätigen und andererseits den betroffenen Ländern eine zu verfolgende politische Linie vorzuschlagen.
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Eine solche politische Linie wurde lange Zeit vermieden, da sie nicht mit der ökonomischen Strategie der Länder vereinbar war. Horst Machguth, ein Angestellter des World Glacier Monitoring Service der Universität Zürich, erwähnte gegenüber Radio Liberty Kirgistan, dass die Goldgewinnung ein zusätzlicher Faktor ist, der zur Zunahme des Abschmelzprozesses der Gletscher beiträgt. Laut dem Wissenschaftler setzen sich die chemischen Produkte, die zur Gewinnung des Goldes in der Kumtor-Mine verwendet werden, in Form von Staub auf den Gletschern des kirgisischen Teiles des Tian-Shan-Gebirges ab. Dieser Vorgang führt dazu, dass die Gletscher das Licht der Sonne weniger reflektieren und dadurch noch schneller schmelzen. Die neue Gesetzesvorlage „Über die Wasserressourcen“, die eine Klausel beinhaltet, die wegen der dargestellten Folgen die Schließung der Kumtor-Mine verlangt, wurde 2014 im kirgisischen Parlament vorgestellt. Die Produktion der Kumtor-Mine macht 10% des kirgisischen BIP aus, weshalb die Regierung dieses Gesetz nie verabschiedet und somit zu Gunsten der wirtschaftlichen Interessen des Landes entschieden hat.
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Auf lange Sicht können die Gletscher nur geschützt werden, wenn das Thema in eine allgemeine Strategie des Kampfes gegen die Klimaerwärmung eingebettet ist. Um die staatlichen Wirtschaftssysteme kurzfristig gegen die schädlichen Folgen der Gletscherschmelze zu schützen, sollte man die Art und Weise der Bewässerung überdenken und sowohl Präventiv- als auch Notfallstrategien für Überschwemmungen entwickeln. Jene sollten für die regionale Politik allerhöchste Priorität haben.
Anna Chtorkh
Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Andrea Baldauf
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