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Wer war Mirjaqyp Dulatuly? – Die Geschichte eines kasachischen Poeten

Der Dichter Mirjaqyp Dulatuly war einer der Vorkämpfer der kasachischen Autonomie. Anlässlich seines 137. Geburtstags erzählt Masa.media seine Geschichte. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Der Dichter Mirjaqyp Dulatuly war einer der Vorkämpfer der kasachischen Autonomie. Anlässlich seines 137. Geburtstags erzählt Masa.media seine Geschichte. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Myrjaqyp Dulatuly ist eine der Schlüsselfiguren der kasachischen Politik des frühen 20. Jahrhunderts. Zusammen mit seinen Freunden und Mitstreitern Ahmet Baıtursynuly und Álihan Bókeıhan gründete er die Zeitung „Qazaq“ und beteiligte sich wenig später an dem Versuch, die kasachische Autonomie – die Alash Orda – zu etablieren.

Wie viele andere Anhänger der Alash Orda wurde Dulatuly in der neu gegründeten UdSSR verfolgt und ständig vom NKWD überwacht. Bereits Ende der 20er Jahre wurde er in ein Lager verbannt, wo er schließlich starb.

Kindheit und Jugend

Myrjaqyp Dulatuly wurde am 25. November 1885 auf dem Territorium des heutigen Gebiets Qostanaı geboren. Seine Eltern verlor er früh, sodass er hauptsächlich von seinem älteren Bruder Asqar erzogen wurde. Im Alter von acht Jahren wurde der kleine Mirjaqyp zum Mullah des Auls geschickt, um bei ihm zu lernen. „Ich weiß nicht mehr, wie lange ich bei ihm studiert habe. Ich weiß nur, dass ich außer dem Auswendiglernen arabischer Gebete nichts gelernt habe“, sagte der Dichter später über diese Zeit seines Lebens und merkte dabei ironisch an, dass der Mullah ein äußerst unwissender Mensch gewesen sei.

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Im Alter von 12 Jahren wurde Dulatuly in die russisch-kasachische Schule des Gebiets Torģaı aufgenommen. Dort traf er den jungen Lehrer Ahmet Baıtursynuly, einen zukünftigen politischen Weggefährten und Freund. Nach dem Abschluss arbeitete Myrjaqyp mehrere Jahre als Dorflehrer.

Damals begann er Gedichte zu schreiben. Bereits 1907 wurden seine ersten Arbeiten in der Zeitung „Serke“ veröffentlicht. Zwei Jahre später erscheint seine berühmte Sammlung „Oyan, qazaq!“ („Wach auf, Kasache!“). Öffne deine Augen, wach auf, Kasache, hebe deinen Kopf,Verschwende deine Zeit nicht im Dunkeln.Die Erde ist gegangen, der Glaube ist geschwächt, die Situation ist schlimm geworden,Mein Lieber, du kannst dich nicht länger hinlegen.

Kampf gegen den Zarismus

1905 nimmt Myrjaqyp am Kongress des kasachischen Zweigs der Konstitutionell-Demokratischen Partei teil und engagiert sich seitdem aktiv in der Politik. Álihan Bókeıhan und Ahmet Baıtursynuly werden zu seinen engsten Mitstreitern. Zusammen verfassen sie die „Karkaralinsker Petition“ an Nikolaus II., in der sie Unterricht in kasachischer Sprache und die Rückgabe der von den Behörden beschlagnahmten Ländereien fordern. 1910 veröffentlicht Dulatuly das Buch „Unglückliche Jamal“ – der erste Roman in der Geschichte der kasachischen Literatur.

Er erzählt die Geschichte eines eigensinnigen und klugen Mädchens namens Jamal, das im Dorf heimlich eine moderne Ausbildung erhielt. Sarsenbaı – der Vater des Mädchens – beschließt, es mit dem dummen Sohn eines einheimischen Beys zu verheiraten. Das unglückliche Mädchen versucht mehrmals, ihrem traurigen Schicksal zu entgehen – und stirbt schließlich, als es bei einem Fluchtversuch in einer Schneewehe erfriert. Der Roman war sehr erfolgreich und wurde binnen weniger Jahre viermal aufgelegt.

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1913 zieht Dulatuly, nachdem er fast zwei Jahre für seine politische Tätigkeit abgesessen hat, nach Orenburg. Dort beteiligt er sich aktiv an der Gründung der Zeitung „Qazaq“ und schreibt regelmäßig für sie. Gleichzeitig bleibt er kreativ: 1914 nennt der Turkologe Wladimir Gordlewskij ihn und Abaı die prominentesten Vertreter der kasachischen Literatur.

Auf den Seiten von „Qazaq“ kritisiert Dulatuly regelmäßig die zaristischen Behörden und fordert Reformen. In einem der Artikel stellt er fest, dass die Kasach:innen „nach Autonomie streben müssen: Wenn wir eine eigene Regierung und Armee haben, werden alle mit uns rechnen“. „Qazaq“ wird ständig unter enormem Druck stehen. Aber trotz aller Bußgelder und Schließungsversuche wird die Zeitung überleben und bis 1918 bestehen. Erst die Bolschewiki können sie endgültig schließen.

Revolution und Bürgerkrieg

Wie auch andere Anhänger:innen der Alash Orda stand Myrjaqyp dem bolschewistischen Umsturz von 1917 nicht besonders positiv gegenüber. Er hielt die Bolschewiki für Populist:innen, war selbst gegenüber den theoretischen Grundlagen ihrer Doktrin skeptisch und merkte an, dass „das geheime Kalkül der Anstifter dieses Aufruhrs gar nicht so nobel ist wie die von ihnen proklamierten Ziele“.

„Die Bolschewiki begannen den Aufruhr. Die Bolschewiki sind eine Gruppierung im Lager der Sozialdemokratischen Partei. Während alle anderen Parteien zustimmen, dass die höchsten Ziele schrittweise erreicht werden können, da es unmöglich ist, die Traditionen und Bräuche der Menschen an einem Tag zu ändern, wollen die Bolschewiki im Gegenteil alles zerstören, die Macht in ihre Hände nehmen und die Welt verändern. Die Idee der universellen Gleichheit der Menschen auf der ganzen Welt, der Zerstörung von Reichtum und Armut, der brüderlichen Liebe zwischen den Menschen ist die schönste Idee. Aber die Menschheit ist dem noch nicht gewachsen“, schrieb Dulatuly in seinem Artikel „Der Zustand des Staates“, der in der 248. Ausgabe von „Qazaq“ erschien. Im Laufe der Zeit wurde seine Haltung gegenüber den Bolschewiki noch ablehnender: Er sah die Methoden, die sie bereit waren anzuwenden, um an der Macht zu bleiben.

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„Das Zeitalter der Bolschewiki hatte begonnen. Die Leute weinten: Sie wurden am helllichten Tag ausgeraubt. Bürger wurden getötet, Frauen vergewaltigt, Eigentum zerstört. Und in dieser traurigen Zeit gibt es unter den Kasachen selbst welche, die zusammen mit den Bolschewiki Willkür begehen. Sie verleumden die Würdigen und erschießen sie. Sie zerstören die Besten der Besten. Wenn das Zeitalter der Bolschewiki lang ist, wird die Schönheit des Landes verschwinden“, kritisierte Myrjaqyp die Bolschewiki in dem Artikel „Die Geheimnisse vieler enthüllt“.

Der Artikel erschien in der 264. Ausgabe von „Qazaq“ – der vorletzten der Zeitung. In der Folge mussten die Alash-Aktivisten Kompromisse mit den sowjetischen Behörden eingehen: Die Weißen, deren Niederlage immer offensichtlicher wurde, weigerten sich hartnäckig, die kasachische Autonomie anzuerkennen. Myrjaqyp nahm regelmäßig soziale Aktivitäten auf, bekam eine Stelle in der Parteizeitung der Bolschewiki in Turkestan. Als 1921 in Kasachstan eine Hungersnot ausbrach, unternahm Myrjaqyp große Anstrengungen, um sie zu beenden. Dank seiner Agitation wurden in 2-3 Monaten etwa 15.000 Rinder gesammelt und an die hungernde Bevölkerung verteilt.

Die Sowjetzeit

Myrjaqyp versuchte, sich in den Sowjetstaat einzufügen. Er unterrichtete und half bei der Veröffentlichung von Lehrbüchern. Von 1922 bis 1926 lehrte Dulatuly auch am Kasachischen Institut für öffentliche Bildung. Die neue Regierung traute ihm und seinen Mitstreitern jedoch nicht.

Bereits 1928 verfolgte ihn der NKWD. „Wir schliefen zu Hause, als sie plötzlich laut an die Tür klopften: Sie brachen sie fast auf. Nachdem alle aufgewacht waren, betraten sechs Personen das Haus. Meinem Vater wurde ein Durchsuchungsbefehl gezeigt und das Haus wurde durchsucht. Alle Dinge wurden auf einem Haufen gesammelt. Wir hatten große Angst – ich werde diesen Tag nie vergessen. Mein Vater nahm seinen Ehering ab und steckte ihn meiner Mutter an die Hand. Er sagte zu uns Kindern: Ihr seid noch jung. Bisher habe ich euch nicht gesagt, wer ich war.Er sah mich an und sagte: „Ich habe darauf gewartet, dass du erwachsen wirst. Wir haben gerade deinen 13. Geburtstag gefeiert. Ich bin froh, dass ich dabei war. Hör auf deine Mutter, schwänze keinen Unterricht, sei ein guter, ehrlicher Mensch. Lass kein Unglück dich berühren.“ Während er sprach, störten sie ihn nicht, sie ließen ihn sprechen. Ich wollte zu ihm rennen, aber sie stießen mich weg. Ich habe geschrien und geweint, aber ich konnte nichts tun“, erinnerte sich Myrjaqyps Tochter Gúlnar Dulatova an die Verhaftung ihres Vaters.

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Mirjaqyp verbrachte mehrere Monate in Einzelhaft, isoliert von der Außenwelt. Dann wurde er zum Tode verurteilt, aber bald wurde die Strafe in 10 Jahre Gefängnis geändert. „An jenem Tag kamen wir zum Bahnhof. Ein roter Waggon stand da, seine Fenster waren vergittert. Draußen stand eine Wache. Wir sind dorthin gelaufen. Als mein Vater unsere Stimmen hörte, schaute er aus dem Fenster – und ich begann vor Freude zu weinen. Mein Vater sagte zu mir: „Weine nicht, Liebes, weine nicht. Ich komme wieder und wir sehen uns.“ Er fragte, wie es Mutter, den Verwandten und Freunden gehe, ob zu Hause alles in Ordnung sei. Als Antwort nickte ich nur mit dem Kopf. Der 24. Juni 1929 war der letzte Tag, an dem ich meinen Vater gesehen habe“, beschrieb Gúlnar Dulatova das Treffen mit Myrjaqyp.

Danach wurde er in das Moskauer Butyrka-Gefängnis verlegt. Zwei Jahre später wurde Dulatuly in das berüchtigte Solowetzker Sonderlager verlegt. Dort arbeitete Myrjaqyp unter schwierigen Bedingungen weiter und schrieb für die Zeitschrift „Solowetzki-Inseln“. Die Wärter im Lager verspotteten oft die Vertreter der Turkvölker und betrachteten sie nur als Arbeitskraft. Dies lag auch daran, dass viele turksprachige Gefangene kein Russisch sprechen konnten. Um die Situation ein wenig zu verbessern, erstellte Myrjaqyp im Lager ein turko-russisches Wörterbuch auf mittlerem Niveau. Diese Arbeit wurde geschätzt: Die Aufzeichnungen wurden aktiv unter den Gefangenen verteilt und dutzende Male kopiert.

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Während seines Aufenthalts im Lager nahm Dulatuly auch an Sanitätskursen teil. Er begann auf der Krankenstation zu arbeiten und schrieb ein Lehrbuch über Geometrie. Myrjaqyp hatte große Angst um seine Familie und lehnte deshalb den von Mustafa Shoqaı vorgeschlagenen Fluchtversuch nach Frankreich ab. Gleichzeitig korrespondierte er weiterhin mit seinen Freunden Álihan Bókeıhan und Ahmet Baıtursynuly. In Briefen nannten sie sich oft mit Spitznamen, wie „Sohn der Steppe“ (Bókeıhan) oder „Madiyar“ (Dulatuly).

Myrjaqyps Frau, die ihn einmal im Lager besuchte, hielt auf dem Rückweg bei Álihan Bókeıhan an. Bald darauf erhielt Dulatuly eine Postkarte von ihm: „Mein Licht Madiyar. Gaıa und Altaı, die zwei Tage übernachtet haben, sind heute abgereist. Ich schreibe dir, während sie aufbrechen. Ehemann M in Almaty. „Was nützen Freiflächen, wenn deine Stiefel klein sind“, kam mir dieses Sprichwort in den Sinn. Umarmung, Áli.“

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Mirjaqyp führte diese Korrespondenzen bis zu seinem Tod fort. „Meine lieben Myrjaqyp und Myrzagazy, seid ihr noch da? Wie geht es mit der Gesundheit? Wo ist Gazimbek? Ich kam hierher, um mit meiner Frau und meiner Tochter zusammen zu sein, und bin seit letztem September hier. Da ich keine Antwort von euch erhalten habe, schreibe ich erneut. Gebt Bescheid, sobald ihr den Brief erhalten habt. Küsse, Ahmet“, schrieb Baıtursynuly ihm in einem seiner Briefe. Am 5. Oktober 1935 starb Myrjaqyp Dulatuly im Lazarett des Lagers. Seine sterblichen Überreste wurden erst 1992 nach Kasachstan transportiert. Myrjaqyps Tochter versuchte während der Sowjetzeit immer wieder, seine Rehabilitierung zu erwirken. Dies wurde jedoch erst kurz vor dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1988 erreicht.

Masa.media

Aus dem Russischen von Robin Roth

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