Kasachstans Parlament Májilis ist am heutigen Dienstag, den 11. Januar, zu einer Sondersitzung zusammengekommen, in deren Rahmen Präsident Qasym-Jomart Toqaev Reformen und den baldigen Abzug der OVKS-Truppen ankündigte. Álihan Smaıylov wurde zum neuen Premierminister gewählt.
Kasachstan hat eine neue Regierung. Während einer Sondersitzung des Májilis wurde Interims-Premierminister Álihan Smaıylov am heutigen Dienstag, den 11. Januar, von den Abgeordneten einstimmig in seinem Amt bestätigt. Dies berichtet das kasachstanische Onlinemedium Masa Media.
Auch die Zusammensetzung der neu gebildeten Regierung, bestehend aus 19 Ministern und einer Ministerin, wurde mittlerweile von Parlament und Präsident genehmigt. Neben lediglich sieben neuen Minister:innen gehören dem Kabinett etliche Mitglieder der Vorgängerregierung an.
Álihan Smaıylov wurde 1972 geboren. Im Laufe der Jahre war er Assistent des Präsidenten, Finanzminister und zuletzt stellvertretender Premierminister. Nachdem Präsident Qasym-Jomart Toqaev infolge von Protesten am 5. Januar die Vorgängerregierung von Asqar Mamin entlassen hatte, war Smaıylov zum Interims-Premierminister ernannt worden. Während der Sitzung des Parlaments sprach auch Präsident Toqaev zu den Angeordneten. In seiner Rede äußerte er scharfe Kritik an verschiedenen Behörden und versprach umfangreiche Reformen.
Scharfe Kritik an den Behörden
Wie das kasachstanische Onlinemedium Orda berichtete, erklärte Toqaev in seiner Rede, dass gegen Kasachstan ein Terrorkrieg entfesselt worden sei. Der Feind habe extreme Grausamkeit gezeigt. Der Putschversuch scheiterte, obwohl er von Profis geplant worden sei. Er sehe es als seine persönliche Verantwortung, dass Almaty „so schnell wie möglich wiederhergestellt“ werde.
Scharfe Kritik äußerte Toqaev am nationalen Geheimdienst, dem Komitee für nationale Sicherheit (KNB). Dieser hätte bei den Ausschreitungen keine kritische Bedrohung der nationalen Sicherheit gesehen, obwohl die „Terroranschläge“ seit vielen Jahren vorbereitet worden seien. Darüber hinaus hätten in einer Reihe von Städten die lokalen KNB-Leitungen dessen Gebäude ohne Widerstand übergeben, während Waffen und Geheimdokumente dort verblieben. Der ehemalige KNB-Chef Kárim Másimov war am 6. Januar, einen Tag nach seiner Entlassung, wegen des Verdachts des Staatsverrats festgenommen worden.
Lest auch auf Novastan: Kasachstan – von Protesten, Palastintrigen und sozialer Ungleichheit Doch auch andere Teile des Staatsapparats mussten sich die Kritik des Präsidenten anhören. Wie Masa Media berichtet, forderte Toqaev, dass die Personalauswahl im öffentlichen Dienst verbessert werde. Beamte ohne Initiative würden Posten blockieren und junge Fachkräfte nicht nachwachsen lassen. Geringe Humanressourcen, Formalismus und Korruption würden zu einem geringen Vertrauen in die Behörden führen. Die Leitungen der Verwaltungsbehörden wüssten nicht, wie sie mit den Menschen kommunizieren sollen.
Politische und wirtschaftliche Reformen
In der Folge kündigte Toqaev ein Paket politischer und wirtschaftlicher Reformen an. „Es besteht die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft zu verändern. Wir brauchen eine neue Form eines Gesellschaftsvertrags. Kasachstan wird den Kurs der politischen Modernisierung fortsetzen“, erklärte der Präsident nach Angaben des kasachstanischen Nachrichtenportals Tengrinews.
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Laut Orda räumte er der Reform des Strafverfolgungssystems eine besondere Priorität ein. Es müsse verhindert werden, dass religiöser Extremismus und Kriminelle sich in den Gefängnissen verbünden. Auch die Arbeit interner und externer Nachrichtendienste müsse neu strukturiert werden.
In Bezug auf die Wirtschaft stellte Toqaev fest, dass die Einkommen aller Bevölkerungsgruppen mit der Wirtschaft wachsen sollen. Dies sei aber in Kasachstan nicht der Fall. Vielmehr seien Finanz- und Oligarchengruppen Nutznießer des Wirtschaftssystems.
„Dank des ersten Präsidenten [Nursultan Nazarbaev, Anm. d. Red.] ist eine Gruppe sehr profitabler Unternehmen und eine Schicht von Menschen, die selbst im internationalen Vergleich reich sind, im Land entstanden“, fügte der Präsident laut Masa Media hinzu. Diese sollen verpflichtet werden, jährlich Beiträge an einen neu eingerichteten, gemeinnützigen Sozialfonds zu entrichten.
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Auch in Bezug auf die Entwicklungsbank sieht Toqaev Reformbedarf. „Die Entwicklungsbank von Kasachstan hat sich in eine persönliche Bank für einen bestimmten Kreis von Menschen verwandelt, deren Namen wir alle kennen. Mit diesem Geld könnten kleine Unternehmen unterstützt werden. Es ist notwendig, die Aktivitäten der Bank zu reformieren“, erklärte der Präsident.
Des Weiteren sprach er sich für ein fünfjähriges Moratorium für die Erhöhung der Gehälter von Angeordneten und Regierungsbeamten aus. Den zunächst friedlichen Proteste, die am 2. Januar in Westkasachstan ausgebrochen waren und sich am 4. Januar auf andere Landesteile ausweiteten, lagen vor allem politische und soziale Motive zugrunde. Ursache war das soziale Gefälle im Land, das weite Teile der Bevölkerung in Schulden und Existenznöte trieb.
OVKS-Truppen vor dem Abzug
Darüber hinaus kündigte Toqaev an, dass die Truppen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), die er am 5. Januar zur Unterstützung ins Land gebeten hatte, kurz vor dem Abzug stehen. Wie Masa Media berichtet, erklärte er, dass die Hauptmission des OVKS-Friedenskontingents abgeschlossen sei. Der Abzug beginne in zwei Tagen und werde innerhalb von zehn Tagen abgeschlossen sein. Die hauptsächlich russischen Truppen wurden vor allem in Almaty stationiert.
Erst gestern hatte Toqaev an einer außerordentlichen Sitzung der OVKS teilgenommen, in deren Rahmen er den Regierungschefs der OVKS-Staaten für ihre Hilfe dankte. Während des Treffens versprach der kasachstanische Präsident, sein Land werde in naher Zukunft weitere Beweise für die Vorbereitung und Durchführung einer terroristischen Aggression vorlegen. Wie die russische Tageszeitung Kommersant berichtet, bezeichnete er die Ereignisse als Putschversuch und erklärte, dass die Streitkräfte „nicht gegen friedliche Demonstranten eingesetzt wurden und werden“.
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Belege für seine wiederholten Äußerungen, dass sein Land Opfer des internationalen Terrorismus geworden sei, lieferte Toqaev indes nicht. Zweifel an der offiziellen Version bestehen vor allem, nachdem am 9. Januar der TV-Sender Khabar 24 ein „Geständnis“ eines ausländischen „Terroristen“ ausgestrahlt hatte, in dem der Mann behauptet, dass er gegen Bezahlung nach Kasachstan gekommen sei, um an den Plünderungen teilzunehmen.
Es stellte sich aber heraus, dass es sich bei dem offensichtlich zuvor misshandelten Mann um den bekannten kirgisischen Jazzmusiker Wikram Rosachunow handelt, der auf einer Konzertreise in Almaty war. Nach einer Intervention Kirgistans wurde der Musiker am 10. Januar ohne Anklage freigelassen und konnte nach Kirgistan zurückkehren.
Am 11. Januar berichtete dann das in Lettland ansässige Onlinemedium Meduza, dass der russische Milliardär Igor Rybakow gegen seinen Willen in Kasachstan festgehalten werde, da auch er für einen Terroristen gehalten werde.
Auch der Politologe Dosym Sátbaev hegt Zweifel an der offiziellen Version. „Sie sagen, dass in Almaty bewaffnete Gruppen versucht haben, die Macht zu ergreifen. Aber normalerweise wird die Macht in der Hauptstadt ergriffen. Sie sagen, es seien 20.000 gut ausgebildete Angreifer gewesen. Aber wer waren sie? […] Es gibt Zahlen, einige Hinweise, aber es gibt keine Tatsachen, dass diese bestimmte Person zu dieser und jener Gruppe gehört“, erklärte er gegenüber dem Kommersant.
Stabile Lage
Vor dem Parlament erklärte Toqaev außerdem, dass die Lage mittlerweile stabil sei. In Almaty, wo die Gewalt am stärksten ausgeprägt war, nimmt das Leben allmählich wieder seinen Lauf. Der öffentliche Verkehr funktioniere wieder auf seinem Minimum, der Finanztransfer sei wieder aktiv, teilte Orda am 10. Januar mit.
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Während der Flughafen von Almaty noch immer außer Betrieb ist, scheint sich der Flugverkehr in anderen Landesteilen zu stabilisieren. Wie das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast berichtet, möchte „Turkish Airlines“ in den kommenden Tagen die Flugverbindungen nach Nur-Sultan, Aqtaý und Túrkistan wiederaufnehmen. „Air Astana“ teilt in einer Pressemitteilung mit, dass die Airline am 7. Januar den Betrieb am Flughafen Nur-Sultan wieder aufgenommen habe und eine Reihe von nationalen und internationalen Zielen ansteuere – darunter Frankfurt, Moskau, Istanbul und Dubai.
Laut Behördenangaben wurden bis zum 11. Januar 9.900 Menschen festgenommen. Zu den Todesopfern liegen immer noch keine offiziellen Zahlen vor. Einzig bekannt ist, dass 17 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet wurden. Während die Internetverbindung noch am Abend des 10. Januar erneut unterbrochen war, scheint sie am heutigen 11. Januar wieder stabil.
Inwieweit sich die Lage dauerhaft beruhigt hat, bleibt abzuwarten. Der angekündigte Abzug der OVKS-Truppen deutet darauf hin, dass der Machtkampf innerhalb der Eliten, den einige Analysten hinter den Ereignissen der letzten Woche gesehen haben, zugunsten von Qasym-Jomart Toqaev entschieden wurde. Ob die von ihm heute versprochenen Reformen umgesetzt werden und ob sie geeignet sind, das Vertrauen in seine Präsidentschaft wiederherzustellen, werden die kommenden Wochen zeigen. edit: Das Zitat von Dosym Sátbaev und die genaue Anzahl der neuen Minister:innen wurde am 12. Januar nachträglich ergänzt.
Robin Roth, Chefradakteur von Novastan
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