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Die Roma von Taschkent: Besuch in einem Viertel, das für neugierige Fremde geschlossen ist

In Taschkent, wie in allen größeren Städten Usbekistans und ganz Zentralasiens, sind Luli-Roma keine Seltenheit. Ein Besuch in dem Viertel „Chashma“ (Usbekisch für „Frühling“), am Rande der Hauptstadt auf dem Vodnik-Massiv im Bezirk Bektemir, in dem nur Luli-Roma leben. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Die Luli-Roma gelten als Zigeuner und schmutzige Bettler. Sie leben ausgegrenzt am Stadtrand von Tashkent

In Taschkent, wie in allen größeren Städten Usbekistans und ganz Zentralasiens, sind Luli-Roma keine Seltenheit. Ein Besuch in dem Viertel „Chashma“ (Usbekisch für „Frühling“), am Rande der Hauptstadt auf dem Vodnik-Massiv im Bezirk Bektemir, in dem nur Luli-Roma leben. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Was mit „Luli“ gemeint ist, ist nicht klar belegt. Einige Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe glauben, dass das Wort von „Schuga“ stammt. Es wird angenommen, dass ihre Vorfahren aus Ägypten stammten, und das Wort „Schuga“ „suchende Menschen“ bedeutet. Sie nennen sich selbst Mugat. Die Sprache der Luli ist einer der Dialekte der tadschikischen Sprache, daher werden sie in Pässen oft als Tadschiken vermerkt.

Luli sind sunnitische Muslime, obwohl die meisten von ihnen nicht viel religiösen Eifer zeigen. Frauen verdecken ihr Gesicht nicht, wenden sich nicht ab und gehen nicht weg, wenn sie einen Fremden sehen, sie werden auch leicht in die Gespräche der Männer miteinbezogen. Frauen stellen das Haupteinkommen für die Familie, obwohl der Mann ohne Frage als Familienoberhaupt gilt. Hochzeiten finden in der Regel im Haus der Braut statt, aber auf Kosten der Familie des Bräutigams. Einige Bräuche ähneln denen der europäischen Roma, wie z.B. die Lösung von Konflikten und die Anwesenheit eines Gemeindevertreters zur Kontaktaufnahme mit der Außenwelt.

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Das ungerechte Bild von „schmutzigen Bettlern“

Fergana-Korrespondenten begaben sich in das Stadtviertel Chashma, um zu versuchen, mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen. Aleksandr Barkovsky, ein bekannter Artist und Videokünstler aus Taschkent, der sich seit fast zehn Jahren mit diesem Thema beschäftigt, führte uns Korrespondenten durch die Welt der Luli-Roma: Er besucht diese Mahalla [Stadtviertel, Anm. d. Redaktion] regelmäßig, macht sich mit ihren Bewohnern vertraut und fotografiert sie mit seiner Kamera, um aus diesen Bildern malerische Collagen zu erstellen. Unterwegs erzählt der Künstler, warum er sich von den Luli so angezogen fühlt.

Die Suche nach einem positiven Bild der Roma sei zum Teil verbunden mit der Aufforderung verschiedener humanitärer Stiftungen und Institutionen, die sich wünschen, in ihrer Komfortzone zu bleiben, sagt Barkovsky. „Die Luli-Roma zogen mich zunächst wegen ihrer Marginalisierung an – oder wegen ihrer Fähigkeit, innerhalb des Systems frei zu bleiben. Ich würde vorschlagen, unser Bild eines „positiven Helden“ in den Hochglanzmedien zu überdenken und zu hinterfragen, ob man zum „erfolgreichen Mann“ nur als Gazprom-Manager oder Wall-Street-Broker werden kann“, so Barkovsky.

Die Mahalla Chasma. In diesem Stadtviertel am Rande Tashkents leben die Luli-Roma, ausgegerenzt von der restlichen Bevölkerung.

„Und wohin mit dem Müll, den wir gedankenlos in Plastiktüten wegwerfen? Wer sortiert ihn, wer säubert die Märkte und Straßen der Stadt, wer sammelt Altpapier, Auberginen, Metallschrott…? Die Luli-Roma haben diese schwierige und wenig prestigeträchtige Aufgabe übernommen, die Abfälle unserer Gesellschaft wiederzuverwerten. Im Gegenzug erhielten sie von uns das Bild von „schmutzigen Bettlern“, eine verächtliche Haltung und Probleme mit dem Gesetz,“ schließt der Künstler.

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Als wir vor Ort ankommen, sagt Barkovsky, dass die Chashma Mahalla unter der besonderen Kontrolle des Innenministeriums und des Staatssicherheitsdienstes stehe.  Angestellte des Sicherheitsdienstes besuchten regelmäßig dieses Gebiet innerhalb und im Umkreis, und beträten die Häuser, in denen jeder Bewohner bei ihnen registriert sei. Er warnt: „Es ist ungewiss, wie die Anwohner auf uns reagieren werden, und nicht selbstverständlich, dass irgendjemand offen zu uns sein wird.“

Wir suchen den Vorsitzenden des Chashma-Mahalla-Ausschusses, Zafar, auf. Er weicht dem Interview aus, verweist auf dringende Angelegenheiten und übergibt an seine Stellvertreterin Zulfiya Irgasheva. Zusammen mit dieser älteren Frau gehen wir tief ins Viertel hinein, und die Leute kommen aus ihren Häusern, um uns zu sehen. Sie sind offensichtlich interessiert.

Wortkarge Gesprächspartner

Alexander schenkt ihnen Bilder, die er vor fünf Jahren aufgenommen hat, in der Hoffnung, dass es uns bei der Kontaktaufnahme helfen wird. Dies bleibt leider erfolglos. Die Menschen sind nicht geneigt, über sich selbst zu erzählen. Ein kleines bisschen gelingt es, mit einer alten Frau namens Nigora Xamdamova zu sprechen. Es stellt sich heraus, dass sich in ihrem Haus drei Familien mit je fünf Personen befinden. In ihrer Familie gibt es neben ihrem Ehemann drei Kinder. Ihre Eltern hatten eine Ausbildung, sie arbeiteten im Mahalla-Ausschuss. Ihr Ehemann, Abduhamid Xamdamov, „ruht sich derzeit in Samarkand aus“, und sie selbst „kauft und verkauft“ Kleidung in der Yangiabad-Kaserne in Taschkent.

Ein Mann mittleren Alters namens Sodir ist noch wortkarger. Das Einzige, was von ihm herausgefunden werden kann, ist, dass er in derselben Yangiabad-Kaserne im privaten Transport tätig ist und Eisen, das von den Bürgern von Taschkent gekauft wurde, hauptsächlich Ersatzteile für Autos und Sanitärartikel (Rohre und Batterien), in ihre Häuser bringt. Und Frauen aus seiner Familie, genau wie Nigora Xamdamova, verkaufen verschiedene Dinge weiter.

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Damit endet das Interview mit den Roma – von den übrigen Bewohnern der Mahalla gelingt es uns noch nicht, etwas zu erfahren. Aber Zulfiya Irgasheva, Stellvertreterin des Vorsitzenden der Mahalla und Beraterin für Familie, Frauen und Mädchen, erklärt sich bereit, mehr über ihr kulturelles Erbe zu erzählen.

Die Luli-Roma gelten als Zigeuner und schmutzige Bettler. Sie leben ausgegrenzt am Stadtrand von Tashkent

Sie ist seit 2011 in ihrer Position tätig. Heute arbeitet sie in der Chashma Mahalla. 108 Wohnungen, 651 Familien – das sind 1405 Personen, von denen nur 260 minderjährig sind. Junge Bräute bleiben meist zu Hause und erziehen ihre Kinder. Alle Kinder, die älter sind, studieren an der örtlichen Sekundarschule Nr. 293 – in den Klassen 1 bis 11. Obwohl im Jahr 2011 nicht mehr als 20 Jugendliche zur Schule gingen.

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Unter den Absolventen gibt es Mädchen, die diese Schule mit einer Goldmedaille abgeschlossen haben, aber sie haben sich nicht für eine höhere Ausbildung eingeschrieben, weil sie alle geheiratet haben. In den letzten Jahren haben jedoch 11 Jugendliche aus der Mahalla das College abgeschlossen. Viele Kinder besuchen einen Sportkomplex, in dem sie Boxen, Karate betreiben, Ringen und Fußball spielen. Einige gehen in die Klasse des Mahalla-Komitees, wo sie Dame und Schach spielen und sogar Bücher lesen.

Der „Rais“ der Mahalla

Beraterin Irgasheva kennt dieses Viertel seit 1989, als sie als Verkäuferin in einem nahe gelegenen Geschäft zu arbeiten begann. Zu dieser Zeit war die Siedlung klein und galt nicht als Mahalla, das Mahalla-Komitee wurde hier erst 1996 gegründet. Seit 2008 ist ihr Vorsitzender Kuntugmush Axkulov. Wie sich herausstellte, ist Zafar nur sein Spitzname. Niemand nennt ihn dabei „Baron“. Früher gab es Barone unter den Roma in Usbekistan, aber jetzt werden sie „Rais“ (Usbekisch für „Vorsitzender“) genannt.

Die ganze Mahalla ehrt den vorbildlichen Familienvater und Vater von vier Kindern Axkulov im höchsten Maße und gehorcht jedem seiner Worte. Er ist Mitglied des Oliy Majlis (Parlament) und wurde zweimal in dieses Amt gewählt. Ende letzten Jahres wurde ihm der Orden Mahalla Fahri („Stolz der Mahalla“) verliehen, den er vom Hokim der Stadt [=Bürgermeister, Anm. d. Red.] Jahongir Artykhodjaev erhielt.

Auf die Frage der Journalisten, ob nur „Zigeuner“ in der Mahalla lebten, erklärte Irgasheva, dass die Bewohner sich nicht „Luli-Zigeuner“ nennen. „Vielleicht betrachten sie sich intern als Luli Roma, aber niemand von außen hat das Recht, sie so zu nennen, es wird als unschön angesehen“, betont Irgasheva.

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Seit 2011 gibt es in der Chashma Mahalla keine Straßenbettler mehr. Nach einer Reihe von Regierungskampagnen, die auf ein Verbot des Bettelns abzielten, einschließlich 15-tägiger Haft, wurde das Betteln eingestellt, sagte die stellvertretende Vorsitzende Irgasheva. Fast 30 Frauen aus der Mahalla arbeiten jetzt offiziell (laut Arbeitsbuch) als Hausmeisterinnen bei der Bektemir Bezirksverwahltung in Taschkent.

In unmittelbarer Nähe der Chashma Mahalla, an der Suvsoz-Straße, befindet sich ein Wohnviertel, das aus zehn typischen zweistöckigen Häusern besteht. Laut dem Vorsitzenden des Hausausschusses namens Fai beantragten die Bewohner des Bezirks vor zwei Jahren bei der Bezirksstaatsanwaltschaft, einen Zaun zwischen ihren Häusern und der Chashma Mahalla zu errichten. Als Gründe wurden unter anderem häufiger Kleindiebstahl und Rowdytum von Nachbarn genannt. In der Mahalla waren sie zunächst dagegen und sahen darin eine Diskriminierung. Dann stimmte Zafar zu, und ein gedämpfter Eisenzaun tauchte zwischen dem Chashma und den zweistöckigen Häusern auf.

Ob es half, ist eine große Frage. Stereotypen, Vorurteile und gegenseitiges Misstrauen sind nicht verschwunden, das Zusammenleben ist nicht einfacher geworden.

Sid Janischew für Fergana News

Aus dem Russischen von Hannah Riedler

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