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Tadschikistan: Erst über Bildung und Arbeit nachdenken, dann über Dekolonisierung

Der Politologe Muhammad Schamsuddinow nimmt Stellung zu der Dekolonisierungsdebatte in Tadschikistan. Er zieht Bilanz über den Wert der Sowjetzeit für den Lebensstandard der tadschikischen Bevölkerung. Außerdem stellt er die Frage, ob Tadschikistan einen eigenen Nationalstaat erbaut hätte, wenn die Staatsgründung nicht durch die Bolschewiki, sondern durch andere Kräfte erfolgt wäre.

Politologe Muhammad Schamsuddinow. Quelle: asiaplustj.info

Der Politologe Muhammad Schamsuddinow nimmt Stellung zu der Dekolonisierungsdebatte in Tadschikistan. Er zieht Bilanz über den Wert der Sowjetzeit für den Lebensstandard der tadschikischen Bevölkerung. Außerdem stellt er die Frage, ob Tadschikistan einen eigenen Nationalstaat erbaut hätte, wenn die Staatsgründung nicht durch die Bolschewiki, sondern durch andere Kräfte erfolgt wäre.

Von welcher Art Nationalstolz und Identität kann die Rede sein, wenn Tadschik:innen von Kindesbeinen an davon träumen, in Russland zu arbeiten? [ein Großteil der Bevölkerung Tadschikistans wandert – zumindest für eine gewisse Zeit – als Arbeitsmigrant:innen nach Russland aus. Anm. d. Red. Novastan.]

Diese Frage stellt der tadschikische Politikwissenschaftler Muhammad Schamsuddinow und diskutiert, inwiefern es sinnvoll ist, von einer Dekolonisierung in Zentralasien zu sprechen und welche Gestalt diese haben sollte. Er fragt danach, wie sich nationale Identität eigentlich konstituiert und erläutert, warum es wichtig ist, die eigene Geschichte zu achten. (…)

Dekolonisierung in Tadschikistan

Die Dekolonisierung sollte alle gesellschaftlichen Bereiche umfassen. Bei der Identitätsbildung geht es um mehr als die Verbreitung immaterieller Ideale. Wenn wir ständig von der Größe unserer Vorfahren, unserer Kultur und unserer Geschichte sprechenund unsere Landsleute trotzdem von Kindesbeinen daran denken nach Russland auszuwandern, um dort ihr Brot zu verdienen, von welcher Art von Dekolonisierung des Geistes und des Denkens können wir dann sprechen?

Tadschikische Migranten Quelle: asiaplustj.info

Dekolonisierung erfordert die umfassende Entwicklung des Staates. Dasselbe gilt für die nationale Identität. Um unseren Verstand und unser Denken, um unsere Identität zu dekolonisieren und um auf das eigene Land stolz zu sein, muss – die Wirtschaft entwickelt, müssen Arbeitsplätze geschaffen und der Lebensstandard verbessert werden. Es muss auch in Technologie und Innovation investiert werden, Bildung und Kultur müssen vorangebracht werden. Die nationale Idee darf sich nicht nur auf die Geschichte stützen. Sie muss auch zukunftsgerichtete Entwicklungskonzepte beinhalten. (…)

Lest mehr auf Novastan: Kolonialismus und Dekolonisierung. Sollten die Tadschik:innen ihre Vergangenheit überdenken?

Die frühe Sowjetära in Zentralasien

Heute wird insbesonders im intellektuellen Milieu alle Schuld auf den Bolschewismus geschoben. Dieser sei nicht nur für die historische Tragödie der zwanziger Jahre verantwortlich, sondern auch für die Zerstörung der lokalen Identität, für die negative Beeinflussung der Geschichte und für die Änderung der damaligen Schriftsprache [und des Alphabets – Anm. der Red. von Novastan].

Betrachtet man jedoch die historischen Ereignisse, die sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Region abspielten, bevor die Kommunist:innen kamen, lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen. Ausgangspunkt der Betrachtung stellen die Entwicklungen dar, die in der Region zu dieser Zeit stattgefunden haben. In dieser Analyse geht es nicht um Sympathie für die Bolschewik:innen, auch nicht um die Rechtfertigung ihrer Handlungen. Vielmehr basiert die Analyse auf einer pragmatischen geopolitischen Analyse.

Erstens gab es in der Region drei mittelalterliche Staaten (falls man sie überhaupt als ‚Staaten‘ bezeichnen kann, denn die Region lebte noch in der vormodernen, traditionellen Gemeinschaft. Was heute unter einem (National-)Staat verstanden wird, ist ein Produkt der Moderne): das Emirat Buchara und die Khanate Kokand und Chiwa,  welche von turk-stämmigen Herrschern regiert wurden (was Folgen hätte haben können, auf die weiter unten eingegangen wird).

Zweitens verbreiteten sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Ideen des Panturkismus und des Dschadidismus (modernistische Reformbewegung) in der Region und fanden hier Anhänger.

Was die Ideen zur Gründung eines tadschikischen Staates betrifft: Existierten damals solche Ideen und Unterstützer solcher Ideen? Gab es Menschen und Intellektuelle, die die Gründung eines tadschikischen Staates forderten? Gab es Leute, die für die Gründung des tadschikischen Staates gekämpft haben? Bedauerlicherweise gab es zu der Zeit, als die Kommunist:innen kamen, keine ernstzunehmenden Ideen für eine tadschikische Staatsgrüdung und keine Anhänger derartiger Konzepte. Dementsprechend fehlten die Voraussetzungen für den Aufbau eines tadschikischen Staates. Diese Bedingungen wurden erst nach der Ankunft der Bolschewiki geschaffen, als die national-regionale Abgrenzung in der Region begann. Erst mit der Ankunft der Bolschewiki fingen die Menschen an, sich für die Schaffung eines tadschikischen Staates einzusetzen.

„Wir müssen lernen, diesen Teil unserer Geschichte zu respektieren.“

Was die panturkistische Idee betrifft, lassen sich einige Vermutungen anstellen, welche Folgen diese in der Region gehabt hätten. Hätte sich die Region vom Russischen Reich und den Bolschewiki befreit, wäre ein einheitlicher Turkstaat entstanden. Der Panturkismus war damals stark genug, um dies zu realisieren. Und es gab tatsächlich Versuche, ein solches Projekt zu verwirklichen. Man denke an den Feldzug Enver Paschas, der die Schaffung eines einheitlichen Turkstaates anstrebte und von der lokalen Intelligenzia und der Elite unterstützt wurde.

Wer hat die Bildung eines einheitlichen Turkstaates (der auch die Bevölkerung Tadschikistans umfasst hätte) in der Region verhindert? Wer hat die Gründung eines tadschikischen Staates gegen die Idee des Panturkismus unterstützt? Die Bolschewiki.

Lest mehr auf Novastan: Die sowjetische Geschichte Zentralasiens (1/2)

Persönlichkeiten, die heute in Tadschikistan als Staatshelden verehrt werden, bewegten sich damals in einem Umfeld, in dem die Idee des Panturkismus dominierte. Die Tadschik:innen wurden nicht als unabhängige Nation und Volk betrachtet.

Damit soll nicht gesagt werden, dass die Bolschewiki von dem Wunsch beseelt waren, dem tadschikischen Volk zu einem eigenen Staat zu verhelfen. Tatsächlich geschah dies aus geopolitischen Gründen (um den Einfluss des Panturkismus zu untergraben, sowie aus geopolitischen Interessen im Zusammenhang mit dem benachbarten Afghanistan).

Man kann also mit Recht sagen, dass unter der Sowjetunion die Grundlagen des tadschikischen Nationalstaates gelegt wurden. Unter der Sowjetunion begann die nationale Identität Gestalt anzunehmen, als sich das tadschikische Volk zum ersten Mal seit langer Zeit als eine Nation mit einem eigenen Nationalstaat erkannte. Die Grundlagen des modernen tadschikischen Nationalstaates wurden also in der UdSSR geschaffen, und als diese zerbrach, war sie das Fundament für einen unabhängigen Nationalstaat.

Lest auch auf Novastan: Wie vor 100 Jahren die Bolschewiki das Emirat von Buchara und das Khanat von Xiva zerstörten

Kundgebung 1925 in der Tadschikischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik. Quelle: asiaplustj.info

Ein Staat entsteht nicht von selbst. Es herrschte zwar der Kommunismus und das Konzept des Nationalstaates stand irgendwo an zweiter oder dritter Stelle, aber es gab das Verständnis in den Köpfen der Menschen, dass es einen tadschikischen Staat gibt. Dasselbe gilt auch für andere Länder der Region. Vor der Ankunft der Sowjets in der Region gab es keine Nationen, Nationalstaaten und Identitäten. Diese Konzepte sind Produkte der Moderne, sie existierten damals nicht in der Region.

Unter der Sowjetunion wurden auch die Grundlagen für eine neue Kultur, Bildung, Gesundheitsversorgung, Industrie, Eisenbahnen und Autobahnen gelegt. Die Sowjetunion baute Schulen, Universitäten, schöne Theater, Kinos, Fabriken, neue Maschinen, garantierte erschwingliche Preise für Waren, Gleichheit; sie brachte eine gebildete Bevölkerung hervor und entwickelte die Wissenschaft.

Die Sowjetunion brachte große Errungenschaften mit sich. Weshalb behandeln wir diesen Abschnitt der Geschichte Tadschikistans mit Verachtung? Wir sollten lernen, diesen Teil unserer Geschichte zu respektieren. Fangen wir an ihn zu achten und stolz auf ihn zu sein.

(…)

Muhammad Schamsuddinow für Asiaplus

Gekürzt aus dem Russischen von Berenika Zeller

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