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Kasachstan: Die unklare Bilanz der Januar-Unruhen

Etwas mehr als einen Monat nach dem „Blutigen Januar" sind die Folgen der Proteste in Kasachstan immer noch nicht geklärt. Obwohl offiziell eine Zahl von 227 Toten festgestellt wurde, wird diese von mehreren NGOs in Frage gestellt.

Protest Kasachstan
"Wir sind einfache Menschen, keine Terroristen" - Protestierende am 6. Januar 2022

Etwas mehr als einen Monat nach dem „Blutigen Januar“ sind die Folgen der Proteste in Kasachstan immer noch nicht geklärt. Obwohl offiziell eine Zahl von 227 Toten festgestellt wurde, wird diese von mehreren NGOs in Frage gestellt.

Auch einen Monat nach den Januar-Ergebnissen in Kasachstan sind die Opferzahlen immer noch unklar. Wie das kasachstanische Onlinemedium Masa Media am 15. Januar berichtete, vermeldete das Gesundheitsministerium des Landes den Tod von 225 Menschen (darunter 175 in medizinischen Einrichtungen), die infolge der sich mancherorts zu Unruhen entwickelten Proteste vom 2. bis zum 8. Januar starben.

Des Weiteren teilte das Ministerium mit, dass ab dem 5. Januar 2.677 Verletzte medizinische Hilfe benötigten, wovon [am 15. Januar] noch 265 in Behandlungen seien und 67 auf der Intensivstation lägen. Diese Bilanz wurde am 26. Januar nach oben korrigiert, als 227 Tote, darunter 19 Polizisten, und 4.578 Verletzte gemeldet wurden. Hinzu kommen wohl mehrere Hundert Fälle von Folter, schildert Radio Azattyq, der kasachstanische Dienst von Radio Free Europe.

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Diese offizielle Einschätzung hat jedoch viele Grauzonen geschaffen, wie die NGO Amnesty International in ihrem am 25. Januar veröffentlichten Bericht aufzeigt. Als die Zusammenstöße tobten und Präsident Qasym-Jomart Toqaev der Polizei befahl, ohne Vorwarnung das Feuer zu eröffnen, ließ er auch das Internet abschalten. „Die vollständige Abschaltung des Internets für mindestens einen Tag hat die Menschen ins Unbekannte gestürzt“, sagte die Bürgerrechtlerin Tatyana Chernobil gegenüber Amnesty International.

Viele Vermisste

„Diejenigen, die unabhängige Informationen liefern konnten, darunter Journalist:innen und Menschenrechtler:innen, sahen sich der Behinderung ihrer Arbeit und Repressionen ausgesetzt und wurden vom Präsidenten sogar öffentlich für das Schüren von Unruhen verantwortlich gemacht“, erklärt Amnesty International.

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Diese radikalen Behinderungen eines unabhängigen Informationsflusses haben dazu geführt, dass viele Menschen unerklärlich verschwunden sind. Etliche Journalist:innen wurden festgenommen, als sie versuchten, über die Ereignisse zu berichten. Einer von ihnen ist Daryn Nursapar. Der Redakteur der kasachstanischen Nachrichtenportals Altai News wurde 15 Tage lang inhaftiert, weil er über eine Kundgebung in der im Osten Kasachstans gelegenen Stadt Óskemen berichtet hatte.

Kasachstanische Freiwillige haben eine Datenbank erstellt, um anhand von Zeugenaussagen die Suche nach Vermissten zu optimieren. „Wir wollen Angehörigen helfen, die Vermissten zu finden, und eine Liste der Opfer zusammenstellen: die Festgenommenen, Verletzten und Getöteten während der tragischen Ereignisse im Januar 2022 in Kasachstan“, erklärten die Macher:innen der Plattform gegenüber Masa Media. Wie Fergana News berichtete, wurde am 4. Februar eine Liste mit den Namen von 173 Vermissten auf Facebook veröffentlicht.

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Am 25. Januar wurde eine unabhängige Untersuchungskommission gegründet. 10 bis 15 Personen werden Ursachen und Folgen der Januar-Ereignisse untersuchen, um eine rechtliche Bewertung des Themas vorzunehmen. Auch unter diesen Umständen bleibt die von der Regierung erklärte Opferzahl höchst fragwürdig.

Intransparenz der Polizei zu zivilen Todesfällen

Aus dem Bericht von Amnesty International geht hervor, dass eine Koalition kasachstanischer NGOs am ​​19. Januar erklärt hat, dass „die genaue Zahl der getöteten, verletzten oder anderweitig betroffenen Zivilist:innen, einschließlich der Toten, unbekannt bleibt“. Zu den wiederholten Abschaltungen des Internets während der Proteste und Unruhen kommt die mangelnde Transparenz der Polizei in Bezug auf zivile Todesfälle hinzu.

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Radio Azattyq sammelte in einem am 19. Januar veröffentlichten Artikel Zeugenaussagen, um den Verlauf der Ereignisse vom 6. Januar in Almaty, einem der gewalttätigsten Tage der Unruhen, nachzuzeichnen. Die New York Times ihrerseits veröffentlichte am 31. Januar einen Artikel mit unveröffentlichten Zeugenaussagen mehrerer kasachstanischer Bürger, die festgenommen, gefoltert und bestenfalls freigelassen wurden.

Der Artikel beschreibt auch die tragische Opfergeschichte von Erlan Jagiparov. Am 6. Januar machte sich der 49-jährige Kasache auf den Weg, um zu sehen, was im Zentrum von Almaty passiert. Eine Stunde später rief er einen Freund an, um ihm mitzuteilen, dass er von der Nationalgarde festgenommen wurde. Danach hat niemand etwas von ihm gehört.

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Seine Familie fand ihn sechs Tage später im Leichenhaus – nackt, verstümmelt, mit Handschellen gefesselt, mit einer gebrochenen Hand, Gesichtsverletzungen und Schusswunden in Brust und Unterleib. Seine Familie fordert immer noch eine Untersuchung der Todesumstände. Seit der Veröffentlichung der Geschichte von Erlan Jagiparov haben viele Familien wegen ähnlicher Tatsachen Anzeige erstattet und warten auf die Eröffnung einer Untersuchung.

Das Volk ist kein Terrorist

Zwischen den unterschiedlichen Zeugenaussagen gibt es einen gemeinsamen Nenner: Die friedlichen Demonstrierenden fanden sich plötzlich inmitten von Kriegsschauplätzen mitten auf der Straße wieder. Ajar Bimamir, ein Bewohner Almatys, erklärte gegenüber Radio Azattyq, dass die Masse der Demonstrierenden Plakate mit Aufschriften wie „Das Volk ist kein Terrorist“, „Blauhelme mit Waffen sind keine Blauhelme“ oder „Nicht schießen, nicht treffen“ hielten. Der Artikel beschreibt auch die Verwirrung, die herrschte, als die Soldaten das Feuer eröffneten. Die einen sprechen von russischen Soldaten, andere von kasachstanischen.

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Ein anderer Zivilist beschrieb gegenüber Radio Azattyq Autos, die von Kugeln durchlöchert waren, und Soldaten, die durch Schüsse die Evakuierung von Verwundeten verhinderten. Unter dem Druck ausländischer NGOs und kasachstanischer Menschenrechtsaktivist:innen veröffentlichten die Behörden schließlich eine offizielle Zahl der Todesopfer in Almaty. Diese beläuft sich auf 149 Opfer, darunter 11 aus den Reihen der Polizei. Es werden allerdings keine näheren Angaben gemacht, ob diese durch gewalttätige Demonstrierende starben oder von Querschüssen aus eigenen Reihen getroffen wurden.

Unverhältnismäßiger Einsatz von Gewalt

In einem detaillierten Bericht vom 26. Januar, der mehrfach aktualisiert und in einem Video zusammengefasst wurde, hat die NGO Human Rights Watch (HRW) Dutzende Videos und Zeugenaussagen geprüft, um die genaue Chronologie der Ereignisse in Almaty zwischen dem 4. und 6. Januar nachzuvollziehen. Diese Analysen zeigen, dass die Behörden gegen Demonstrierende unverhältnismäßige Gewalt anwendeten. „Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass die Sicherheitskräfte ohne ersichtlichen Grund das Feuer eröffnet und mindestens zehn Menschen getötet haben“, sagte der Forscher Jonathan Pedneault gegenüber HRW.

Die NGO betont in ihrem Bericht auch, dass die unverhältnismäßigen Gewaltakte der Polizei gegenüber friedlichen Demonstrierenden vor der Ansprache des kasachstanischen Präsidenten stattgefunden hatten, in der die Sicherheitskräfte angewiesen wurden, ohne Vorwarnung zu schießen. Als Reaktion auf diese Rede forderte HRW Präsident Toqaev auf, diesen Schießbefehl zurückzunehmen.

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Wie Fergana News berichtet, reagierte Kasachstans Regierung am 3. Februar auf diesen Bericht, indem sie die Fälle von „unverhältnismäßiger Anwendung von Gewalt, rechtswidriger Inhaftierung, Folter und Misshandlung von Häftlingen“ verurteilte. Angesichts der Forderungen nach Aufklärung, die unter anderem vom Europäischen Parlament erhoben wurden, versprachen die Behörden, dass Licht auf diese Ereignisse geworfen werde. Wie das kasachstanische Nachrichtenportal Informburo berichtete, wies Präsident Toqaev am 22. Januar die Generalstaatsanwaltschaft und das Innenministerium an, jeden Todesfall gründlich zu untersuchen. Jedoch ohne dass bisher weitere Einzelheiten bekannt gegeben wurden.

Elliot Obadia, Redakteur von Novastan

Aus dem Französischen von Robin Roth

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