Mit „Zentralasien durch die Linse von…“ präsentiert Novastan zentralasiatische Fotografinnen und Fotografen und ihre Arbeit.
Die in Kirgistan geborene Fotografin Irina Unruh kam als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland, wo sie bis heute lebt. Obwohl sie sich immer für Fotografie interessiert hat, entschied sie sich erst spät, sie zu ihrem Ausdrucksmittel zu machen. Mittlerweile arbeitet sie, inspiriert von den vielen Begegnungen weltweit, die sie im Laufe ihres Lebens als Lehrerin machte, auch als freiberufliche Fotografin. Irina widmet sich in ihrer Arbeit ihren Wurzeln und den Geschichten von Frauen und Mädchen in Kirgistan. Im Interview erzählt sie, wie ihre eigene Geschichte ihr Werk beeinflusst.
Name: Irina Unruh
Alter: 41
Heimatstadt und -Land: Warendorf, Deutschland
Nationalität und Staatsangehörigkeit: Deutsch
Novastan: Warum hast du die Fotografie als dein Ausdrucksmittel gewählt?
Irina Unruh: Ich komme ursprünglich aus Kirgistan, geboren 1979 in einer deutschen Familie in einem kleinen deutschen Dorf namens Telman, nicht weit von der heutigen Hauptstadt Bischkek entfernt. Im Alter von neun Jahren siedelte meine Familie 1988 nach Deutschland um, wo ich meine Schul- und Universitätsausbildung beendete. Die Fotografie faszinierte mich aber seit meiner frühen Kindheit in Kirgistan. Eine meiner Tanten hatte eine einfache analoge Kamera und war die einzige Person in meiner riesigen Familie, die unser einfaches Alltagsleben ein wenig dokumentierte. Ich erinnere mich, wie sie regelmäßig Bilder von uns zu meinen Eltern brachte. Es war magisch, all diese eingefrorenen Momente zu sehen. Als Kind konnte ich stunden damit verbringen, durch unsere zwei Familienalben zu blättern und verlor mich in den schwarz-weiß Bildern.
Später in Deutschland belegte ich während einer Projektwoche im 7. Schuljahr einen Fotokurs. Aber ich habe als Jugendliche nie darüber nachgedacht, Fotografin zu werden. Ich habe stattdessen Mathematik, Deutsch und Theologie studiert, um Lehrerin zu werden. Nach meiner Lehrerausbildung arbeitete ich viele Jahre als Lehrerin in verschiedenen Ländern (Costa Rica, Guatemala, Italien und Deutschland). In dieser Zeit bin ich viel gereist, immer mit meiner Kamera in der Tasche. Und erst während der fünf Jahre, die ich mit meiner Familie bis August 2018 in Rom lebte und arbeitete, entdeckte ich die Kamera als ein Instrument, um Geschichten zu erzählen. Denn ich wurde aufgrund meines slawischen Namens häufig zu meiner Herkunft befragt und musste oft viele Fragen zu Kirgistan beantworten. Im Jahr 2015 begann ich meine große Leidenschaft für die Fotografie zu erweitern, entschied mich für eine Teilzeittätigkeit als Lehrerin und widmete mich der Dokumentarfotografie. Ich nahm als Autodidaktin an verschiedenen internationalen Workshops mit großartigen Fotojournalisten teil, darunter Monika Bulaj, Karl Mancini und K M Asad. Derzeit arbeite ich freiberuflich als Dokumentarfotografin und weiterhin in Teilzeit als Lehrerin.
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Novastan: Wie reagieren die Menschen in deinem Land auf deine Fotos?
Während ich in Italien die Gelegenheit hatte, meine Bilder in zwei Ausstellungen in Rom zu zeigen, die auf großes Interesse stoß, gab es diese Gelegenheit in Deutschland bisher noch nicht. Meine Serie „I am Jamilia“ kam jedoch beim renommierten deutschen Felix Schoeller Photo Award auf die Shortlist und erhält vermehrt internationale Anerkennung. Aber grundsätzlich erlebe ich ein unglaubliches Interesse an den Bildern und Erzählungen aus Kirgistan. Für viele Menschen ist Kirgistan nach wie vor ein Land, von dem sie kaum oder noch nie etwas gehört haben.
Mein Projekt „Kyrgyzstan diary“ ist meine persönliche Sicht auf das postsowjetische Land. Ich sehe die Dichotomie zwischen dem Modernen und dem Alten. Ich versuche durch meine unterschiedlichen Bilder meine Reisen in Kirgistan zu dokumentieren. Denn für die Serie „I am Jamilia“ reise ich sehr viel durch ganz Kirgistan, lerne wundervolle Menschen kennen, die mich zu sich nach Hause einladen, mit denen ich zusammen esse und bei denen ich schlafe. Sie erzählen nicht nur, sondern geben mir Einblick in ihr Leben in Kirgistan. Das Dokumentieren von alltäglichen Situationen und besonderen Momenten hilft mir in erster Linie, das Land in all seinen Facetten besser kennen zu lernen. Es sind meine persönlichen Erfahrungen und Begegnungen mit einem Land, zu dem ich mich stark verbunden fühle. Jedes Mal, wenn ich das Land meiner Kindheit besuche,entdecke ich neue, unscheinbare Momente des täglichen Lebens. Manchmal nur kurze Augenblicke, die vielleicht unwichtig erscheinen. Aber alles in allem vervollständigen sie mein Verständnis von Kirgistan.
Welches ist dein aktuelles oder nächstes Fotoprojekt?
Ich arbeite weiterhin an dem Projekt „I am Jamilia“, in dem ich Frauen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen Regionen in Kirgistan interviewe und porträtiere, deren Ehe durch den Brauch von Ala kachuu (Übersetzung: „eine Frau nehmen und weglaufen“) entstand. Da ich mit diesem Projekt eine Thematik aufgreife, die unglaublich vielschichtig ist, möchte ich dieses Projekt weiter mit Sorgfalt, Geduld und Respekt fortführen. Die bisherigen Portraits von betroffenen Frauen sind zwar der Mittelpunkt meiner bisherigen Arbeit, doch ich bin dabei, die Arbeit zu erweitern. Mir ist es wichtig, die Frauen nicht als Opfer darzustellen, sondern die tiefe psychologische Dimension hinter dem Brauchtum Ala Kachuu aufzugreifen. Und diese betrifft nicht nur die Frauen, sondern eine ganze Gesellschaft. Mir haben beispielsweise Eltern berichtet, wie hilflos sie sich aus unterschiedlichen Gründen fühlten, als ihre Tochter entführt wurde. Ich sprach mit einem jungen Mann, der mit 18 Jahren aus einer Angst heraus seine Freundin heiratete. Denn kurz zuvor wurde sie von einem unbekannten Mann entführt. Es gelang ihm gemeinsam mit ihrer Familie, seine Freundin aus der Heiratssituation zu „befreien“. Aus der Angst heraus vor einem erneuten Brautraub entschlossen die beiden zu heiraten.
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Eine junge Studentin schrieb mir, dass sie eine permanente Angst mit sich trage, sie könnte auf offener Straße entführt werden. Wenn sie in der Öffentlichkeit sei, beobachte sie mit Wachsamkeit alles, was um sie herum geschehe. Mir sind aber auch positive Geschichten in diesem Zusammenhang sehr wichtig, die nicht nur Hoffnung auf weitere Veränderungen geben, sondern zeigen, dass diese Veränderung durch individuelle Entscheidungen bereits stattfindet. Mich hat insbesondere ein Gespräch mit einem älteren Mann sehr bewegt. Er ist der einzige aus seiner Generation in einer großen Verwandtschaft, der seine Frau bewusst nicht als seine Braut geraubt hat mit der Begründung: Ich habe als Kind erlebt, wie unglücklich und verletzt meine Mutter durch ihren Brautraub war. Mein Wunsch ist es, all diese Facetten von Ala kachuu aufzugreifen. Deswegen erweitere ich dieses Projekt und werde weiter an dieser Thematik arbeiten. Aber gleichzeitig möchte ich weiterhin vom alltäglichen Leben in Kirgistan durch unterschiedliche Begegnungen berichten. Dabei besuche ich auf meinen Reisen beispielsweise immer das Dorf Telman, in dem ich eine liebenswerte Familie vor zwei Jahren kennenlernte, die mir ans Herz gewachsen ist. In „Swallows in my world“ erzähle ich von ihrem Leben. Es ist keine spektakuläre Geschichte mit großen Besonderheiten oder besonderen Persönlichkeit. Es ist eine Geschichte, die vom kirgisischen Leben erzählt. Und ich hoffe, eines Tages meine eigene familiäre Geschichte erzählen zu können. Es wäre eine historische Arbeit über die Geschichte der sogenannten Russlanddeutschen.
Welches Foto von dir magst du am liebsten und warum?
Das ist eine sehr schwierige Frage, denn ich sehe hinter meinen Bildern nicht einfach einen abgelichteten Moment. Für mich sind meine Bilder mit Individuen, mit besonderen Begegnungen, Situationen, Gerüchen und Stimmungen verbunden, was unmöglich ist auf einem Bild wiederzugeben. Wenn ich meine eigenen Bilder betrachte, ist es so, als wäre ich wieder an diesem Ort und in diesem Augenblick. Zu meinen Lieblingsbildern gehört eine Aufnahme, die ich im September 2017 zwischen Sarytschelek und Taschkömür von einem Schulmädchen aufnahm, dass auf einer hohen und schmalen Bordsteinkante an einer Landstraße von der Schule nach Hause geht. Es war eine zufällige Situation, die ich einfangen konnte. Aber für mich steckt hinter diesem Bild eine tiefe Symbolik für das Land Kirgistan und meine Arbeit in Kirgistan.
Womit beschäftigst du dich neben der Fotografie?
Die Fotografie ist wesentlicher Teil meines Lebens und gehört zu mir einfach dazu. Sie zieht sich durch alle Bereiche meines Lebens und meines Alltags hindurch. Ich verbringe mit meiner Familie, insbesondere mit meinen beiden Kindern, und meinen Freunden so viel Zeit wie möglich. Meine Kinder haben meinen Blick auf unsere Welt, auf das Leben, auf menschliche Beziehungen, auf unsere Welt grundlegend verändert. Meine fotografische Arbeit entsteht somit nicht nur aus meinem Blickwinkel als Frau, sondern auch als Mutter. Da ich weiterhin noch in Teilzeit als Lehrerin arbeite, bleibt mir nicht all zu viel Zeit. Was ich aber in mir trag,e ist eine große Neugierde und „innerliche Unruhe“, die mich immer wieder zu neuen Orten, zu neuen Begegnungen und Unternehmungen führen.
Wenn du die Gelegenheit hättest, drei Fotografen in Zentralasien zu benennen, wen würdest du auswählen?
Mir fallen direkt folgende drei Fotografen ein: der Dokumentarfotograf Elyor Nemat aus Usbekistan, dessen Arbeit mir sehr gut gefällt, da er einen authentischen Einblick in das Leben und die Herausforderungen in Zentralasien gibt. Des weiteren schätze ich die Arbeit des kirgisischen Fotografen Shailo Djekshenbaev. In seinen Bildern vermag er die Veränderungen in seinem Heimatland während der letzten Jahrzehnte zu zeigen. Und als dritten möchte ich den Fotografen Matthieu Paley nennen. Er stammt zwar nicht aus Zentralasien, sondern aus Frankreich, doch er dokumentierte über mehr als ein Jahrzehnt die harten Lebensbedingungen kirgisischer Nomaden in der hochgelegenen Landschaft des abgelegenen Afghanistan und machte mit seiner Arbeit auf die dortige Situation der Pamir Kirgisen aufmerksam.
Wir zeigen eine Auswahl von Fotos der Serie ‚I am Jamilia‘ in der Irina Unruh Frauen in Kirgistan porträtiert, deren Leben durch die als Brautraub bekannten Praxis des Ala-Kachuu in oft jungen Jahren eine radikale, teils schmerzhafte Veränderung bedeutete. Für mehr Bilder besucht ihre Webseite, oder folgt ihr auf Instagram: @irinaunruh.
Die Entführung von Bräuten kann zwei verschiedene Formen annehmen: Eine echte erzwungene Entführung oder eine inszenierte. In Kirgistan hat sich dieses Phänomen, das als uralte Tradition gilt, nach der Unabhängigkeit ausgeweitet. Ursprünglich in aller Stille und ohne Gefahr, hat sich die Tradition im Lauf der Zeit sehr verändert und nimmt immer wieder gewalttätige Züge an. Schätzungsweise 50 Prozent der Ehen beginnen heutzutage mit einer Entführung; zwei Drittel davon sind keine einvernehmlichen Entführungen. Eine von fünf Frauen kennt ihren künftigen Ehemann vor der Entführung nicht. Irina Unruh portraitiert diese Frauen und lässt sie ihre Geschichten erzählen.
Interview : Veronika Haluch
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