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Kirgistan: Armee in der Hauptstadt und neuer Premierminister

Nachdem die heterogene Opposition drei Tage lang erfolglos improvisiete, kehrte Kirgistans Präsident Sooronbaj Dscheenbekow am 9. Oktober auf die Bühne zurück - entschlossen, die Situation wieder in die Hand zu nehmen. Am Folgetag wurde bei einer außerordentlichen Parlamentssitzung Sadyr Dschaparow als Interimsregierungschef gewählt und Ex-Präsident Almasbek Atambajew wieder festgenommen. Ein Wendepunkt in der politischen Krise des Landes.

Nachdem die heterogene Opposition drei Tage lang erfolglos improvisiete, kehrte Kirgistans Präsident Sooronbaj Dscheenbekow am 9. Oktober auf die Bühne zurück – entschlossen, die Situation wieder in die Hand zu nehmen. Am Folgetag wurde bei einer außerordentlichen Parlamentssitzung Sadyr Dschaparow als Interimsregierungschef gewählt und Ex-Präsident Almasbek Atambajew wieder festgenommen. Ein Wendepunkt in der politischen Krise des Landes.

Kirgistans Präsident beginnt zu handeln. Nach fünf Tagen politischer Krise, die durch die umstrittenen Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 4. Oktober ausgelöst wurde, erklärte Sooronbaj Dscheenbekow, dass er bereit sei seinen Rücktritt in Erwägung zu ziehen, nachdem das Parlament eine verfassungsgemäße neue Regierung bestimmt habe. In der Folge akzeptierte der Präsident den Rücktritt von Ministerpräsident Kubatbek Boronow und entließ der Regierung.

Diese Entscheidungen wurden getroffen, nachdem der Präsident bisher durch seine Abwesenheit und eine abwartende Haltung glänzte. Zwischen dem 5. und 9. Oktober nahmen DemonstrantInnen zahlreiche Institutionen ein und befreiten mehrere Politiker aus dem Gefängnis. Dscheenbekow war währenddessen aus der Öffentlichkeit verschwunden.

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Nachdem Dscheenbekow seine Erklärung abgegeben hatte, kamen Demonstrierende aus verschiedenen oppositionellen Gruppen auf Bischkeks zentralem Ala-Too-Platz zusammen, wo AnhängerInnen des Politikers Sadyr Dschaparow die rivalisierende Lager von Ömürbek Babanow und dem ehemaligen Präsidenten Almasbek Atambajew angriffen und so Panik unter den Demonstrierenden schufen. Radio Azattyk, der kirgisische Dienst des amerikanischen Medienunternehmens Radio Free Europe, berichtet, dass mehrere Personen ins Krankenhaus eingeliefert wurden, darunter der junge Oppositionspolitiker Tilek Toktogasijew von der Partei Ata-Meken, der durch einen Steinwurf am Kopf verletzt wurde. Laut dem kirgisischen Nachrichtenportal 24.kg schoss ein Mann mit einer Pistole auf das Auto von Atambajew, welcher vom Platz floh.

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Diese Zusammenstöße ereigneten sich zu dem Zeitpunkt, als der Präsident den Ausnahmezustand für Bischkek verhängte und den Einsatz der Armee befahl. 24.kg berichtete, dass in der Nacht LKW-Kolonnen gesichtet wurden, die in die Hauptstadt fuhren, sowie dass Militärposten an den Zufahrtsstraßen der Stadt installiert wurden. Am 10. Oktober um 12 Uhr wurde dann die Stadt von der Armee abgeriegelt. Kontrollposten stehen an den wichtigsten Zufahrtsstraßen sowie auf dem Ala-Too-Platz, der als traditioneller Schauplatz von Protesten in Kirgistan gilt.

Dschaparow, Babanow, Atambajew: Die Rückkehr der alten Garde

Laut dem kirgisischen Nachrichtenportal Kaktus waren die drei Tage, nachdem die Behörden die Kontrolle über die Hauptstadt verloren hatten, von Massenrücktritten in Regierung und staatlichen Behörden sowie von Selbst-Ernennungen für Schlüsselpositionen geprägt. Bereits am Dienstag, dem 6. Oktober, zeigte sich der ehemalige Abgeordnete Sadyr Dschaparow entschlossen, die Macht zu übernehmen und ließ sich in einer nicht gesetzeskonformen Wahl von einem Teil des Parlaments zu Ministerpräsidenten ernennen. Die Vorsitzende der Fortschrittspartei Reforma Klara Sooronkulowa, die an besagter Sitzung teilnahm, sagte gegenüber Kaktus, dass Dschaparow und seine AnhängerInnen Druck auf die Abgeordneten gemacht hätten. Der Politiker war in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober aus dem Gefängnis befreit worden, wo er eine 11-jährige Freiheitsstrafe verbüßen sollte, da er 2013 einen Regionsgouverneur als Geisel genommen hatte. Wie Radio Azattyk berichtet, beschuldigt ihn nun der Rest der Opposition durch Gruppen der organisierten Kriminalität unterstützt zu werden.

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Als Reaktion auf diese Machtdemonstrationen konzentrierte sich eine ursprünglich von der Jugend getragene Bewegung mit Forderungen nach politischer Erneuerung auf eine weitere wichtige Figur der kirgisischen Politik: Ömürbek Babanow. Der Millionär und Gründer der Partei Respublika war als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2017 angetreten, aber nach Eröffnung eines politisch motivierten Verfahrens gegen ihn aus dem Land geflohen. Im August 2019 nutzte er die Wirren, die durch die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Almasbek Atambajew ausgelöst wurden, um nach Kirgistan zurückzukehren, aber gleichzeitig seinen Rückzug aus der Politik anzukündigen. Bereits am 6. Oktober habe er sein Comeback gegeben, zunächst als Mitglied des unter anderem von elf Parteien getragenen Koordinierungsrates, erklärt das unabhängige kirgisische Nachrichtenportal Kloop. Nach Auflösung des Koordinierungsrates am 9. Oktober haben vier Oppositionsparteien (Respublika, Ata Meken, Bir Bol und Reforma) in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Titel „Die letzte Hoffnung“ Babanow als Interims-Ministerpräsidenten vorgeschlagen.

Auch Ex-Präsident Atambajew, der in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober von den Demonstrierenden aus dem Gefängnis befreit wurde, kehrte auf die Bühne zurück. Atambajew, der 2017 die Einleitung der Ermittlungen gegen Babanow genehmigt hatte, mobilisierte nun seine AnhängerInnen und schloss sich letzterem an, indem er laut Angaben von Kaktus am 9. Oktober mit ihm auf dem Ala-Too-Platz erschien.

Die Jugend für Pragmatismus

Die Unterstützung Babanows durch die von einer neuen Generation von AktivistInnen und Fachleuten angeführten Reforma-Partei sorgte für Überraschung. Wie das amerikanische Nachrichtenportal Eurasianet in einem Porträt der Partei erklärt, umfasst ihr Programm die Lustration, eine für den postsowjetischen Raum typische Forderung nach einer „Säuberung“ der Institutionen, indem alle Personen, die in strittige Angelegenheiten verwickelt sind, von politischen Funktionen ausgeschlossen werden, was einen großen Teil der kirgisischen politischen Klasse betrifft. Parteichefin Sooronkulowa erklärte die Entscheidung gegenüber Kaktus: „Die Situation ist jetzt sehr schwierig, und die jungen Leute können mit den gegenwärtigen Umständen unzufrieden sein, weil sie wollten, dass junge und tadellose Leute an die Macht kommen. Aber jetzt brauchen wir erfahrene Politiker“. Die Entscheidung der Reforma-Führung, sich den „alten“ Parteien anzuschließen, wurde jedoch intern scharf kritisiert, wie das Parteimitglied Esen Rysbekow auf Facebook betont. Die junge Partei könnte irgendwann implodieren.

Als Zugeständnis an die Jugend schlugen die vier Parteien Tilek Totkogasijew, einen jungen Aktivisten der Partei Ata Meken, als Vize-Premier vor. Totkogasijew war vor der Auflösung des Koordinierungsrates von diesem für das Amt des Ministerpräsidenten vorgeschlagen worden. Laut Radio Azattyk versprach er am 9. Oktober zusammen mit Babanow und Atambajew den jungen Progressiven, die sich auf dem Ala-Too-Platz versammelt hatten, „neue Gesichter“ in der Übergangsregierung. „Wenn unsere Kandidaturen vom Parlament unterstützt werden, werden Ömürbek Babanow und ich nicht an den Parlamentswahlen teilnehmen. Wir haben diese Vereinbarung getroffen, um saubere Wahlen abzuhalten und die Macht an die nächste Regierung zu übergeben, die vom nächsten Parlament gewählt wird“, erklärte Totkogasijew. Der Politiker wurde von AnhängerInnen Dschaparows mit Steinen beworfen, verlor das Bewusstsein und wurde laut 24.kg ins Krankenhaus eingeliefert.

Rückkehr zu Gesetz… und Ordnung

Obwohl die ersten drei Tage der Krise von Verwirrung und Desorganisation der anwesenden Kräfte geprägt waren, hat das politische Vakuum zu wenig Gewalt geführt. Trotz der völligen Abwesenheit der Sicherheitskräfte herrschte in Bischkek eine relative Ruhe, wo laut 24.kg etwa 10.000 Menschen sich spontan in unbewaffnete Volksbrigaden („Druschiniki“) organisiert haben, um mit Erfolg Ordnung durchzusetzen. Bereits am 7. Oktober wurden das Weiße Haus, in dem das Präsidialamt und das Parlament untergebracht sind, sowie die meisten strategischen Gebäude wieder in Ordnung gebracht. Seitdem werden sie Tag und Nacht von den Druschiniki, bei denen viele junge Leute mitwirken und die auch für die Sicherheit der Geschäfte sorgen, bewacht.

Eine Kolonne Militärlastwagen in der Nähe des Ala-Too-Platzes

Diese Mobilisierung der Bevölkerung für die Einhaltung der Gesetze spiegelt sich in den wiederholten Aufrufen während der Krise wider, „in den Bereich des Gesetzes zurückzukehren“, also den Übergang nach den Regeln der Verfassung zu organisieren.

In diesem Zusammenhang erklärte die Wahlkommission am 9 Oktober, dass sie einen Termin für neue Parlamentswahlen bis zum 6. November ankündigen werde, also innerhalb eines Monats nachdem die letzten Wahlen als ungültig erklärt wurden. Außerdem beschloss sie, dem Generalstaatsanwalt und dem Innenministerium die Erklärung der 12 Wahlverlierer zu übermitteln, in der diese den pro-präsidialen Parteien Birimdik, Mekenim Kyrgyzstan und Kyrgyzstan (die insgesamt 107 der 120 Sitze erhalten hätten) Wahlbetrug vorwerfen und darauf hinweisen, dass diese Verstöße zu einem Verbot der Teilnahme an den Wahlen führen könnten. Gleichzeitig rät die Kommission dem Parlament, eine Senkung der derzeit geltenden 7-Prozent-Hürde in Betracht zu ziehen, um die Repräsentativität zu erhöhen.

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Dschaparow erneut vom Parlament bestätigt

Bei einer außergewöhnlichen Parlamentssitzung am 10. Oktober bestätigte schließlich etwas mehr als die Hälfte der Abgeordneten Sadyr Dschaparow im Amt des Interimspremierministers. Sie ignorierten dabei die Stellung des obersten Gerichtshof, der noch am Vortag gegenüber Radio Azattyk erklärte, Dschaparows Verurteilung sei noch in Kraft, wodurch er keinen Regierungsposten einnehmen könne. Ein Großteil der Minister bleibt weiter im Amt. Dschaparow bestätigte zuweil, der Präsident Sooronbaj Dscheenbekow sei bereit zurückzutreten, äußerte sich jedoch unklar zu der Organisation von neuen Parlamentswahlen.

Das Parlament muss in einer weiteren Sitzung noch die Ausrufung des Ausnahmezustands in Bischkek genehmigen oder ablehnen. Dieser ist am 10. Oktober in Kraft getreten und soll bis zum 21. Oktober dauern. Laut 24.kg beinhaltet dies die Einführung einer Ausgangssperre, die mögliche Vertreibung nichtansässiger Personen, die die öffentliche Ordnung stören, aus der Hauptstadt, aber auch und vor allem das Verbot von Demonstrationen.

Während das Parlament tagte, wurde der ehemalige Präsident Almasbek Atambajew gemeinsam mit einigen seiner Mitstreiter von den Sicherheitskräften festgenommen. Atambajew war Anfang der Woche etwa zeitgleich mit Dschaparow aus dem Gefängnis befreit worden. Ihm wird die Organisation von Massenunruhen in Bischkek im Laufe der Woche vorgeworfen.

In sozialen Medien reagierten die meisten NutzerInnen entrüstet über die Ernennung Dschaparows und die jüngsten politischen Entwicklungen. Doch manche Stimmen sind optimistischer, wie der Geschäftsman Danijar Amanalijew: „Wir verlieren jetzt nur deshalb die Hoffnung, weil wir naiv an das Wunder das Wandels innerhalb einer Woche glaubten. […] Wir sind dem Ziel – einem freien, sicheren und entwickelten Kirgistan – viel näher als noch vor einer Woche. Die Tatsache, dass Menschen, die viele nicht mögen, jetzt Macht haben, ändert an diesem Fortschritt rein gar nichts„, schrieb er auf seinem Telegram-Kanal.

Pia de Gouvello, Redakteurin für Novastan in Bischkek
Florian Coppenrath, Novastan.org

Aus dem Französischen von Robin Roth

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