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Kirgistan: Regierungspartei siegt bei „dreckiger“ Parlamentswahl

Am 4. Oktober wurde in Kirgistan ein neues Parlament gewählt. Als Wahlsieger gehen fast ausschließlich vermeintlich regierungstreue Parteien hervor. Am Folgetag erkennen mehrere Parteien die Ergebnisse nicht an, Tausende protestieren gegen Wahlfälschungen.  

Dschogorku Kengesch Kirgistan
Das Dschogorku-Kengesch in Bischkek, Sitz des Parlaments und des Präsidenten

Am 4. Oktober wurde in Kirgistan ein neues Parlament gewählt. Als Wahlsieger gehen fast ausschließlich vermeintlich regierungstreue Parteien hervor. Am Folgetag erkennen mehrere Parteien die Ergebnisse nicht an, Tausende protestieren gegen Wahlfälschungen.  

Die Kasachen sind wahrscheinlich einmal mehr schockiert vom kirgisischen Twitter-Feed“, schreibt der Politikexperte Azim Azimov auf dem Mikrobloggingdienst. Er spielt darauf an, wie offen Bürger in Kirgistan im vergleich zu ihren nördlichen Nachbarn ihre politische Meinung ausdrücken. Tatsächlich herrschen am Folgetag der Parlamentswahl in Kirgistan Wut und Trauer im lokalen Segment sozialer Medien, in denen die Mehrheit der Nutzer der Regierung gegenüber kritisch eingestellt sind.    

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Aus oppositioneller Sicht ist eingetreten, was befürchtet wurde. Laut den vorläufigen Wahlergebnissen geht die Partei Birimdik mit knapp 25 Prozent der Stimmen als Wahlsieger hervor. Birimdik gilt als präsidententreuer Nachfolger der zersplitterten Regierungspartei SDPK. Kurz dahinter kommt die Partei Mekenim Kyrgyzstan, die meist mit dem ehemaligen Zollbeamten Raim Matraimow in Verbindung gebracht wird. Laut internationalen journalistischen Recherchen ist Matraimow durch seine Einbindung in Schmuggel- und Korruptionsnetzwerke eine der einflussreichsten Personen des Landes.

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Mit je knapp neun Prozent und gut sieben Prozent der Stimmen schaffen es auch Kyrgyzstan und Bütün Kyrgyzstan ins Parlament. Kyrgyzstan ist somit die einzige Partei aus der vorherigen Wahlperiode, die den Wiedereinzug schafft. Sie wird meist mit dem weitreichenden Geschäftsholding Ayu in Verbindung gebracht und gilt als regierungstreue Partei. Die Partei Bütün Kyrgyzstan schafft es nach mehreren Versuchen erstmals ins Parlament und hat sich im Vorfeld der Wahl als Oppositionspartei identifiziert.  

Ein wenig repräsentatives Parlament

Somit hat vor allem das Geld gesiegt. Wie die kirgisische Onlinezeitung Kloop.kg bemerkt, haben Birimdik, Mekenim Kyrgyzstan und Kyrgyzstan zu dritt mehr Geld im Wahlkampf ausgegeben als alle anderen Parteien zusammen. Bütün Kyrgyzstan hat hingegen überdurchschnittlich viel Kapital aus relativ niedrigen Ausgaben geschlagen, verfügte aber bereits über eine gut organisierte Wählerbasis und wird vom Politikveteranen Adachan Madumarow angeführt.   

Alle weiteren 12 Parteien sind an der siebenprozentigen Sperrklausel gescheitert. Mekentschil trennen dabei nur 0,04 Prozent vom Einzug ins Parlament. Respublika, dessen Präsidentschaftskandidat Ömürbek Babanow bei der Wahl 2017 noch über 30 Prozent der Stimmen erhielt, liegt bei knapp sechs Prozent. Die langjährige Oppositionspartei Ata Meken schafft etwas mehr als vier Prozent. 1,82 Prozent der Wähler haben „gegen alle“ gestimmt, bei einer Wahlbeteiligung von durchschnittlich 56,2 Prozent.

Es hat somit ein leicht kleinerer Anteil von Wahlberechtigten an der Wahl teilgenommen als vor fünf Jahren. Laut Vizepremierminister Akram Madumarow konnten knapp eine halbe Million Bürger nicht wählen, weil sie ihre biometrischen Daten nicht registriert haben. Seit 2015 wird bei Wahlen in Kirgistan ein biometrisches Erkennungssystem genutzt. Im Kontext der Coronaviruspandemie wurden zudem Personen mit erhöhter Temperatur erst nach 18 Uhr in die Wahlbüros gelassen.

Zusätzlich zu einer relativ niedrigen Wahlbeteiligung schließt die Sperrklausel dieses Mal einen besonders hohen Anteil der Stimmen aus dem Parlament aus. Die vier gewählten Parteien liegen zusammen nur knapp über 65 Prozent der Stimmen. Vor fünf Jahren lag der Wert noch bei knapp 90 Prozent. „Eine tickende Zeitbombe haben die Regierenden geschaffen, so viele Stimmen sind auf der Straße geblieben“, kommentiert der Politikaktivist Nursultan Akylbek auf Twitter.

Proteste wegen Wahlfälschungen

Noch am Wahlabend haben mehrere Oppositionsparteien erklärt, sie erkennen die Wahlergebnisse nicht an. Die Parteien Reforma, Tschong Kasat, Ordo, Yiman Nuru und Meken Yntymagi haben sich vereinigt und zu einer Demonstration aufgerufen. Im Rahmen derer sind am Montagnachmittag laut Kloop.kg weit über 2000 Personen auf dem Ala-Too Platz in der Hauptstadt Bischkek versammelt. Auch Vertreter weiterer Parteien wie Respublika, Ata Meken, Bütün Kyrgyzstan und Mekentschil haben sich dem Protest angeschlossen. Weitere Demonstrationen finden in den Städten Talas und Naryn statt.   

Proteste gegen Wahlfälschungen versammeln am 5. Oktober in Bischkek mehrere Tausend Menschen (Quelle: Kloop.kg)

Wie ihr wisst, kommt keine Wahl in Kirgistan ohne Regelverstöße aus. Auch diese Wahl wird wohl keine Ausnahme“, schrieb Kloop.kg zum Beginn des Wahltags. Das unabhängige Medienunternehmen war selbst mit 120 Wahlbeobachtern daran beteiligt, Verstöße gegen das Wahlrecht zu dokumentieren. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war nur mit einer begrenzten Wahlbeobachtungsmission bei der Wahl vertreten, da die ursprünglich vorgesehenen 350 kurzfristigen Wahlbeobachter im Kontext der Coronavirus-Pandemie nicht einreisen konnten.

Während die biometrische Wählererkennung klassische Formen von organisiertem Wahlbetrug wie Karussell-Wählen und „Urnenstopfen“ deutlich erschweren, wurden dieses Jahr zahlreiche Hinweise für Stimmenkauf durch einzelne Parteien beobachtet. Außerhalb mancher Wahllokale standen zum Beispiel Personen, die Listen von Wählern führten, die vermeintlich für eine gegebene Partei stimmen sollten. Diese wurden teilweise auch durch Gesichtsmasken mit bestimmten Kennzeichen markiert. In anderen Fällen wurde gefilmt, wie Wähler nach dem Urnengang Geld erhielten.

Auch Brüche des Wahlgeheimnisses wurden in mehreren Fällen beobachtet. Meist standen Mitarbeiter von Wahlbüros zu nah an der Wahlurne oder schauten gar Wählern in der Wahlkabine über die Schulter. In anderen Fällen haben Wähler verbotenerweise ihren Wahlzettel fotografiert.

Schließlich stand bereits vor der Wahl die Nutzung des sogenannten „Forma-2“ Formulars in der Kritik, durch das Wähler beantragen können, in einem anderen Wahllokal als das ihrer Meldeadresse zu wählen. Laut Kritikern könnten Parteien solche Anträge nutzen, um ihre Wähler in anderen Regionen wählen zu lassen und es so über die regionale Sperrklausel von 0,7 Prozent zu schaffen. Fälle von kollektivem Wählertransport könnten auf eine solche Praxis hindeuten.

Eine „sehr dreckige“ Wahl

Besonders in der Stadt Osch ist die Wahl sehr dreckig abgelaufen. Ich sage es ganz offen. Was für Wahlfälschungen wurden nur nicht seit dem Vormittag in sozialen Medien [gezeigt]“, erklärte selbst Iskender Matraimow von Mekenim Kyrgyzstan am Wahlabend. Er fügte hinzu, seine Partei hätte deutlich mehr Stimmen erhalten sollen. Dennoch erkannte der Parteileiter Mirlan Bakirow die Wahl an.

Insgesamt sind knapp 100 unterschiedliche Klagen bei der Wahlkommission eingegangen, laut dessen Vertreter Tyntschtyk Schajnasarow haben diese aber im Ganzen keinen Einfluss auf das Wahlergebnis. „Was jedoch einzelne Parteien oder einzelne Kandidaten angeht, so können ihre illegalen Aktivitäten womöglich Folgen haben. So können sie auch von der Wahl ausgeschlossen werden“, fügte er hinzu.

Lest auch bei Novastan: „1000 Som für eine Stimme“ – Vom Druck auf Wähler rund um die Präsidentschaftswahl

Die Wut der Protestierenden richtet sich nun einerseits gegen Regierung und Parteien, aber auch gegen die, die ihre Stimme verkauft haben. „Diese Wahlen sind legitim. Absolut vom Volk ausgegangen. Niemand hat eine Million Leute dazu gezwungen Geld anzunehmen. Das ist ein dummes und unverantwortliches Verhalten von erwachsenen Bürgern. Nicht Raim (Matraimow, Anm. d. Red) und nicht Birimdik sing schuldig, sondern die Bürger selbst“, erklärte der Politikexperte Azim Azimov am Abend auf Twitter.

Andere Beobachter verweisen aber auch auf die verzweifelten wirtschaftlichen Bedingungen, die gemeinsam mit einem politischen Desinteresse den Stimmenverkauf erklären können: „Ich weiss nicht, wie ich die armen alten Leute beschuldigen soll, die 2000 Som (etwa 21 Euro) Rente erhalten. Ihnen bleibt noch ganz wenig zu leben, sie glauben den Behörden nicht und verkaufen ihre Stimme für eine monatliche Rente“, schreibt zum Beispiel die Twitter-Nutzerin Aizada Marat.  

Auch Bektur Iskender, Mitgünder von Kloop.kg, sieht vor allem wirtschaftliche Ursachen an den Wahlmanipulationen: „Tatsächlich bleibt unser Hauptproblem die Armut. Wenn die Leute in Kirgistan nicht so arm wären, würden sie nicht so massiv Stimmen für so wenig Geld verkaufen“, erklärte er am Wahlabend.  

Das Demokratieglas halb voll oder halb leer

Kirgistans Parlamentswahl war allgemein gut geführt und Kandidaten konnten frei ihre Kampagne abhalten, aber glaubhafte Behauptungen zu Stimmenkauf bleiben ein ernstes Problem“, schreibt die OSZE in einem Pressestatement. So bleiben einerseits strukturelle politische und wirtschaftliche Probleme bestehen, andererseits deutet bei dieser Wahl ein verstärktes Augenmerk auf die Parteiprogramme wie auch die laufende Protestbewegung auf ein wachsendes politisches Bewusstsein. Auf die Weise konnte eine neue Aktivistenpartei wie Reforma bei ihrem Wahldebüt über 30.000 Stimmen hinter sich versammeln. „Wir haben eine Protestwählerschaft, sie hat sich nur unglaublich breit zwischen zahlreichen Parteien verteilt“, so Iskender.   

Lest auch bei Novastan: Ein spielerischer Einstieg in die Wahlprogramme von Parteien: Der Shailoo-Mat

Die endgültigen Wahlergebnisse werden nach manueller Zählung der Wahlzettel und Berücksichtigung der Klagen innerhalb von 20 Tagen bekannt gegeben. Bis dahin kann noch viel passieren, vor allem vor dem Hintergrund des beginnenden Protests, auf dem mitunter auch Forderungen nach Neuwahlen geäußert werden. Auch Mekentschil könnte es als fünfte Partei noch ins Parlament schaffen.     

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Sollte es beim aktuellen Wahlergebnis bleiben, so bleibt es erst einmal bei einem politischen Status Quo, wenn auch höchsten 47 Abgeordnete des scheidenden Parlaments ein neues Mandat erhalten können. Aber es steht auch noch offen, wie sich das Verhältnis zwischen den vier Parteien im Parlament gestalten wird. Besonders Birimdik und Mekenim Kyrgyzstan könnten sich als zwei unterschiedliche Machtpole letztendlich in einem Konkurrenzverhältnis wiederfinden.

Ich warte schon darauf, dass Mekenim Kyrgyzstan und Birimdik nicht in einer Koalition sein werden. Besonders wenn Birimdik jetzt eine Koalition mit Kyrgyzstan macht und Mekenim Kyrgyzstan in die Opposition drängt und sie sich dann noch untereinander anfeinden“, prognostiziert Iskender. „Dann wird Mekenim Kyrgyzstan solch eine unterdrückte Oppositionspartei und wird sich an Kloop wenden, damit wir darüber berichten, wie sie unfair behandelt werden.“      

Florian Coppenrath
Novastan.org

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Kommentare (4)

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Karl, 2020-10-5

Danke für die rasche Berichterstattung über die Wahl.

Was mich noch sehr freuen würde, ist eine kurze Beschreibung der Programme bzw. der Ausrichtung der wichtigsten Parteien.

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Münchhoff, 2020-10-5

Auch von mir ebenfalls vielen Dank und Anerkennung für die schnelle und gut verständliche Analyse des Wahlergebnisses. Trotz des deutlich erkennbaren Einflusses des Geldes auf die Wahl, zeigen die Reaktionen der Menschen auf den Straßen, dass sie die Demokratie in Kirgistan leben und erhalten wollen.

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Schütz, 2020-10-13

Seid einem leider nur dreiwöchigen Aufenthalt in Kirgisistan in 2016, geht mir dieses liebgewonnene Land nicht mehr aus dem Kopf und ich versuche ein wenig dran zu bleiben – neuerdings mit Ihrer Hilfe. Danke dafür.
Wenn von Clan-Machenschaften / Einflüßen die Rede ist, stehen dann auch ausländische Interessen (Rußland, China, Türkei) hinter diesen Clans?
Ich habe das Land wie folgt erlebt: Grandiose Schönheit, liebenswerte und zumindest im ländlichen Breich besonders gastfreundliche Menschen, Verfall und willkürlicher Aufbau in den Städten. Eingezwängt in seiner geopolitischen Lage zwischen Rußland (in eine Handelsunion gezwungen), China (schaft Abhängigkeiten durch Infrastrukturprojekte und Investitionen) und islamisierten kleineren Staaten (Grenzkonflikte, Exklaven), die vor allem durch eine islamistische Türkei (Schulen, Universität) Einfluß nehmen. Ich habe auch erlebt, dass in der Hauptstadt Banner die Straßen überspannten, die zur Bewahrung der bunten islamischen Tradition aufriefen und sich gegen die Vollverschleierung wandten – das machte Hoffnung.
Ich hoffe sehr, dass das Miteinander in Kirgisistan nicht unter den machtpolitischen Einflüssen leiden wird und wünsche dem Land eine entsrechend ausgerichtete Politik und vor allem auch gesellschaftlich getragene Exekutive, die sich um ihre BürgerInnen kümmert. Nur welche Parteien stehen gerade dafür?
Mit Sorge um ein liebenswertes Land mit liebenswerten Mitmenschen
Hans-Uwe Schütz

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