Ungefähr zweitausend Pamir-Kirgisen leben isoliert auf den Hochebenen Nordafghanistans. Isoliert sind sie nicht nur wegen der Berge, sondern auch wegen der strengen, umliegenden Regimes in Afghanistan, Tadschikistan, China und Pakistan. Dinara Kanybek Kysy war mit einer Expedition im afghanischen Pamir Gebirge und erzählt dem Internetmagazin „Theopenasia.net“ von ihre Reise und vom Leben der ethnischen Kirgisen in Afghanistan. Wir übersetzen den Artikel mit der freundlichen Genehmigung der Redaktion.
Dinaras Leidenschaft für den Pamir hat begonnen, als sie im ersten Masterjahr studierte. Damals suchte sie ein Thema für ihre Diplomarbeit. Dinara hat sich schon immer für isolierte Gesellschaften interessiert und dafür, wie sie durch die Ereignisse in der Welt beeinflusst werden.
Zu der Zeit wurde in den Medien viel über die afghanische Kirgisen berichtet. Dinara wollte herausfinden, ob diese im Pamir ganz bewusst isoliert bleiben oder doch Kontakt mit der „Außenwelt“ suchen. Um Antworten auf ihre Fragen zu finden, suchte sie nach Möglichkeiten nach Afghanistan zu reisen und selbst zu erleben, wie die afghanischen Kirgisen leben.
„Mein Ehrgeiz war so stark, dass ich mir sogar die Bergspitzen des Pamir tätowieren ließ. Ich wäre auch allein dorthin gereist. Ich stand im Gespräch mit der afghanischen Botschaft und der Botschafter verlangte eine Elternerlaubnis. Ich war damals 25. Ich hätte keine Erlaubnis bekommen, mein Vater war gegen die Reise“, erinnert sich Dinara.
Eine humanitäre Expedition
Dinara hatte aber das Glück, sich einer Expeditionsgruppe aus Kirgistan anschließen zu können und mit ihnen in den Großen und Kleinen Pamir in Afghanistan zu fahren. Die kirgisische Regierung hatte diese Gruppe für die humanitäre und medizinische Unterstützung der Pamir-Kirgisen beauftragt.
„Ich kam durch einen glücklichen Zufall in die Gruppe. Nachdem ich eine Ausschreibung des Migrationsdienstes für eine humanitären Expedition zu den Kirgisen Afghanistans auf sozialen Netzwerken gesehen hatte, habe ich gleich dort angerufen. Nach einigen Gesprächen wurde ich aufgenommen, die Reise sollte aber erst zwei Jahre später stattfinden. Ehrlich gesagt, hatte ich keine Hoffnung mehr darauf“, erzählt Dinara.
Im vergangenen Oktober ging es aber endlich los. Dinara konnte zwar nicht einen ganzen Monat im Pamir verbringen, wie sie es wünschte, aber eine erste Bekanntschaft mit den Pamir-Kirgisen ist ihr gelungen:
„Bis zur Abreise konnte ich nicht glauben, dass mein Traum nach den zwei Jahren endlich in Erfüllung ging. Ich glaubte es erst, als ich bereits in Osch das afghanische Visum in meinem Pass sah.“
Kirgisen auf dem „Dach der Welt“
Die Reise führte durch den atemberaubenden Pamir-Bergpass. Aus dem Fenster war das bezaubernde Blau des Karakulsees zu sehen. Die nächste Station war Murghob in der autonomen Region Berg-Badachschan in Tadschikistan. Die Stadt liegt 3600 Meter über dem Meeresspiegel und ist die höchstgelegenste Stadt der ehemaligen Sowjetunion. Danach erreichte die Expedition schließlich den Pamir.
„Wie beeindruckend die Berge des Pamir sind! Man hat das Gefühl, man könne von den Gipfeln aus den Himmel berühren. Der Himmel ist dort anders. Er sieht aus wie ein umgedrehter Ozean, unglaublich schön!“
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Bald darauf erreichte die Gruppe schon die tadschikisch-afghanische Grenze, wo sie von den afghanischen Kirgisen empfangen wurden.
Die Pamir-Kirgisen sagen zur Begrüßung „Tasassysby?“ („Sind Sie sauber?“), zur Überraschung der Kirgisen aus Kirgistan, die „Salamatsysby?“(„Sind Sie Gesund?“) gewohnt sind.
„Der Weg bis zu den kirgisischen Siedlungen war recht lang. Als wir ankamen, war es schon dunkel und die Stimmung im Dorf wurde ganz aufgeregt vor Gastfreundlichkeit. Ich war ungeduldig, diese Leute kennenzulernen, die ich nur aus Fotos, Videos und Berichten kannte. Ich floh vor der Aufregung in die benachbarte Jurte. Dort traf ich Umulgusun, die eine Zigarette rauchte während sie den Beschik (eine kirgisische Wiege) schüttelte, in dem ihr einen Monat altes Baby friedlich schlief“, erinnert sich Dinara.
Die meisten Frauen im Pamir rauchen, das wird nicht als Schande betrachtet. Die Zigaretten werden vor allem aus dem benachbarten China importiert.
Isoliert von der Welt
„In Kirgistan leben wir in einer offenen Gesellschaft. Wir haben keine klare Klassenteilung. Wo man geboren wird bestimmt nicht unbedingt, wer man wird. Man kann die Umstände immer überwinden und etwas erreichen, wenn man sich anstrengt. Im Pamir ist es anders. In der Isolierung kommt kaum rebellische Stimmung auf. Viel wird so hingenommen, wie es ist.“
„Ich habe keine Fernseher in den Jurten gesehen, aber auf dem Dach eines Winterhauses stand eine Satellitenschüssel.“
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„Für die Nachtbeleuchtung benutzt man Sonnenkollektoren. Ich denke, sie kommen von Händlern oder aus den benachbarten afghanischen Dörfern und Städten. Eine internationale Organisation, die lange mit dem Wakhan-Kirgisen (eine weitere Volksgruppe aus den östlichen Tälern des Pamir Wakhan-Korridor, Anm. d. Ü.) gearbeitet hat, hat die Solaranlagen beschafft.“
In Afghanistan lebt das kirgisische Volk für sich. Die ärmeren von Ihnen haben noch nicht einmal Papiere. Das ist eines der größten Probleme.
Der Alltag und die Traditionen
Mehr als viertausend Meter über dem Meeresspiegel beginnt die Bergtundra. Das Klima ist dort sehr hart. Es wächst nur grobes Gras, von dem sich Yaks und Schafe ernähren können. Es gibt keinen einzigen Baum. Die afghanischen Kirgisen züchten nur Yaks, Kamele und Schafe. Andere Tiere überleben hier nicht.
„Während meines Aufenthaltes, habe ich nicht gesehen, wie und wo die Menschen aufs Klo gehen. Auch die Morgentoilette konnte ich nicht beobachten. An Trinkwasser mangelt es dort nicht. In der Nähe der Siedlungen gibt es immer einen Fluss, aus dem man Trinkwasser holt“, beschreibt Dinara.
„Die Hauptwärmequelle in den Jurten ist der Ofen. Er steht in der Mitte und sein Schornstein mündet in das Tündük (Öffnung in der Mitte des Jurtendachs). Man nutzt ihn auch zum kochen. Für die Lebensmittel zahlt man durch Tauschhandel. Man tauscht Provisionen gegen Vieh. Die reichen Pamir-Kirgisen haben ein Motorrad. Wenn ich mich richtig erinnere, kostet das ungefähr 12 Schafe“, erklärt sie.
Liebe ist kein Konzept
Liebe ist kein Konzept für die Pamir-Kirgisen. Die Hochzeiten verlaufen nach dem Prinzip: „Ich habe ein Schaf, du hast eine Tochter.“ Daher können viele junge Menschen keine Heirat leisten. Die kleinste Mitgift sind hundert Schafe. Arme Familien tauschen ihre Kinder: Sie geben ihre Tochter ohne Mitgift zur Ehe und müssen im Gegenzug keine Mitgift für die Braut ihres Sohnes zahlen.
Die Männer tragen keine Trauringe. Stattdessen setzen sie einen schön beschmückten Hut auf. Bei Frauen ist die Unterscheidung einfacher: Eine Unverheiratete Frau trägt ein rotes Kopftuch, nach der Hochzeit trägt sie ständig ein weißes.
Polygamie ist üblich bei den Pamir-Kirgisen. Die reichen Männer haben mehrere Frauen.
Gesundheitsprobleme
Im Pamir gibt es weder Ärzte, noch Lehrer oder Heiler. Zur Expedition gehörten auch ein Gynäkologe, ein Kinderarzt, ein Kardiologe und ein Internist.
„Ich habe ihnen manchmal geholfen. Sehr viele alte und junge Kirgisen beklagten sich über Herzprobleme. Das hat uns gewundert und der Arzt bat sie zu zeigen, wo genau es weh tut. Es stellte sich heraus, das einige einfach das Herz mit dem Magen verwechselten. Fast alle zeigten auf ihren Verdauungstrakt. Wegen der schlechten Ernährung leiden sie oft an Magenprobleme“, erklärt Dinara.
„Es gab auch einen anderen Fall: Ein Mann kam zur Untersuchung und sagte, er könne seinen kranken Bruder nicht mitbringen. Er bat um Medizin, wusste aber nicht, woran sein Bruder litt. Als er die Symptome beschrieb wurde klar, dass es sich um Frostbeulen handelte. Es ist schon überraschend: Im Winter sind es 50 Grad unter Null, aber man erkennt nicht, wenn jemand erfriert.“
Manchmal können auch die Ärzte nichts machen. „Ein 13-jähriges Mädchen hatte sich schon vor langem einen Arm gebrochen, er wurde nicht richtig geschient und ist jetzt krumm. Ich wollte ihr sehr helfen, aber in solchen Situationen kann man nichts machen. Das ist kein Einzelfall. Die Eltern schauen einen sehr hoffnungsvoll an und beten um Medikamente gegen die Brüche. Sie verstehen nicht, dass es keine gibt“, bedauert Dinara.
Eine hohe Kindersterblichkeit
Die hohe Kindersterblichkeit liegt am Ärztemangel aber auch an den Geburten. In der Regel hilft bei einer Geburt immer die Person, die gerade in der Nähe ist.
„Sehr viele Frauen erzählten in aller Ruhe, dass sie fünf bis acht Kinder verloren haben. Für sie ist das eine gewöhnliche Sache. Es gab Frauen, die 13 Kinder geboren haben, von denen nur drei überlebt haben. Viele Kinder sterben einige Tage nach der Geburt“, erzählt Dinara.
Die Aga-Khan-Stiftung versucht, den Pamir-Kirgisen zu helfen und hat im Großen Pamir ein Krankenhaus gebaut. Aber um es aus dem Kleinen Pamir zu erreichen, braucht man mindestens drei Tage. Aus dem Großen Pamir dauert der Weg einen Tag, aber auch von dort gehen kaum Pamir Kirgisen zum Krankenhaus. Die medizinische Versorgung dort ist kostenlos. Es liegt also nicht am Geld, eher an der Gewohnheit.
Aber die Situation verbessert sich: Die Ärzte machen ständig Rundfahrten und halten Statistiken fest. Langsam beginnen die Pamir-Kirgisen, die ärztliche Pflege in Anspruch zu nehmen.
Eine einseitige Ernährung
Die Nahrung im Pamir ist sehr fleisch- und reislastig, enthält aber sehr wenig Salz. Brot ist ein wertvolles Produkt und wird auch hart gegessen.
Die einzige Milch, die es gibt, ist Yak-Milch. Sie schmeckt ganz anders als Kuhmilch: Sie ist sehr fetthaltig, dafür geben Yaks nur wenig Milch. Sechs Kühe geben ca. 2-3 Eimer Milch, sechs Yaks hingegen nur 2-3 Liter. Die Milch wird auch zu Käse, Ayran und zu Kurut verarbeitet.
Im Großen Pamir trennt der Fluss Pandsch die Pamir-Kirgisen von einer großen Straße (wenn auch keine sehr belebte). Es gibt zwaar viel Fisch im Fluss, der kommt aber kaum in der lokalen Küche vor.
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Merkmale der traditionellen Kleidung
Viele kennen die traditionelle Kleidung der Pamir-Kirgisen von den Bildern weltberühmter Fotografen. Allerdings ziehen tragen es nur die Frauen. Die Männer ziehen Lederjacken und goldene oder vergoldete Uhren vor.
„Ich vermute, dass die Pamir-Kirgisen mit ihren traditionellen Kleidung ihre Identität ausdrücken wollen. Damit zeigen sie, dass sie Kirgisen, keine Afghanen oder Tadschiken sind. Die Farben ähneln denen, der Südkirgisischen Trachten. Die Kleidung ist sehr hell und reich verziert. Dazu habe ich auch eine Hypothese: Die Landschaft beeinflusst auch den Stil. Es gibt kaum Farben in dieser Gegend, was die Menschen vielleicht zu umso bunterer Kleidung und Schmuck inspiriert“, so Dinara.
Die Damenkleidung passt gar nicht zum Pamirer Klima. Sie ist aus Satin genäht und bietet keinen Schutz bei kaltem Wetter. Die Frauen tragen diese Kleidung das ganze Jahr, aber im Winter tragen sie noch etwas warmes darunter.
Die Schafs- und Yakwolle wird nicht für Kleidung verwendet, sondern weggeschmissen. Bei der Kälte sollte eigentlich jeder Wollsocken und Filzstiefel haben.
Etwa 2100 Kirgisen im Pamir
Laut dem kirgisischen Migrationsdienst leben heute etwa 2100 ethnische Kirgisen im Großen und Kleinen Pamir. Manche Politiker und Experten betonen schon seit Jahren, dass sie sich dort nicht länger halten können. Nach der Expedition sorgt sich die Regierung um ihre Umsiedlung und sieht vor, dieses Jahr 30 Familien nach Kirgistan umzusiedeln.
Nachdem sie sich selbst ein Bild von der Lage gemacht hat, hält Dinara die Diskussionen um die Umsiedlung für übereilt: „Es ist offentsichtlich, dass ein Umsiedlungs- und Integrationsprogramm langfristig und nachhaltig geplant werden muss. Die, die vorschlagen, alle einfach herzuholen und irgendwo in die Berge umzusiedeln, sehen sie nur als Gäste. Aber es geht nicht nur um den Empfang. Wir müssen uns auch gut überlegen, wie wir sie in die lokale Gemeinschaft integrieren und versuchen, ihre Welt zu verstehen. Die Lage der Kirgisen, die bereits umgesiedelt wurden, ist leider nicht so rosig.“
„Außerdem bin ich gegen die Idee einer Umsiedlung. Ich finde diese Lösung vor allem arrogant. Wir reden über Menschen, nicht davon, Tiere von einem Lebensraum in einen ähnlichen umzusiedeln“, meint Dinara.
„Es ist noch zu berücksichtigen, dass Afghanistan kaum die Auswanderung von Zweitausend seiner Bürger genehmigen wird. Auch wenn es seltsam klingt, hat dieses Gebiet ein großes touristisches Potential. Nicht selten wird sie von Extrem-Reisende besucht.“
Außerdem wird zur Zeit ein großer Grenzposten gebaut, an dem die Interessen von fünf Staaten vertreten werden. Vielleicht beeinflusst das auch den Wakhan. „Es wäre sinnvoller, jährlich ein oder sogar zwei Forschung- und Hilfsprogramme zu organisieren. So könnte man sich an der tatsächliche Lage vor Ort orientieren und die Freiwilligen, Ärzte und Lehrer könnten zur Politik gegenüber der Pamir Kirgisen beitragen. So wäre ihnen eher geholfen“, schlägt Dinara vor.
Iwan Januschkewitsch
Theopenasia.net
Aus dem Russischen von Sobira Majidowa
Bilder von Dinara Kanybek Kysy