In Kasachstan leben sexuelle Minderheiten meist verdeckt und werden zu einem doppelten Leben gezwungen. Kasachstan hat gleichgeschlechtliche Beziehungen 1998 legalisiert, aber im Alltag müssen homosexuelle Menschen weiterhin mit Drohungen, Einschüchterungen und Angriffen rechnen. Im Februar 2015 hatte das kasachstanische Parlament nach dem russischen Modell ein Gesetz „über homosexuelle Propaganda unter der Jugend“ verabschiedet. Es wurde jedoch als Verfassungswidrig befunden.
Es gibt wenig Zahlen zur Lage der LGBT-Gemeinschaft. Die letzte Studie zum Thema veröffentlichte die Soros-Foundation-Kazakhstan im Jahr 2009. Von den 1000 befragten homosexuellen Personen meinten 81%, dass Schwule und Lesben „ständig der Abneigung der Allgemeinbevölkerung ausgesetzt waren und keinen Respekt erfuhren“.
Novastan übersetzt den dritten Teil der Reportage von The Open Asia über die LGBT-Jugend in Kasachstan. Hier geht’s zu Teil eins und Teil zwei.
„Als ich in die neunte Klasse ging, gab es in der achten einen Jungen – Artjom – und ich wusste, dass er schwul war. Ich habe mich ganz gut mit ihm verstanden, obwohl ich damals innerlich selbst gegen mein Schwulsein ankämpfte. Er war mein Freund. Und dann… (kurze Pause) kam seine weinende Schwester und sagte: ‚Artjom ist aus dem Fenster gesprungen‘. Offenbar hat er zu seinen Eltern gesagt: ‚Mama, Papa, mir gefallen Jungs‘. Sie haben ihn geschlagen, ihn beschimpft und verflucht, und am nächsten Tag, als sie zur Arbeit gegangen waren, hat er sich aus dem Fenster geworfen. Aus der vierten Etage. Er war wahrscheinlich einer der fröhlichsten Menschen, die ich kannte. Immer hat er gelächelt. Niemals hat er geflucht oder geschimpft, hat immer alles mit Demut hingenommen. In der Schule hat man ihn beleidigt, die älteren Schüler machten sich über ihn lustig. Er hat dann offensichtlich Schutz bei seinen Eltern gesucht und gedacht, dass sie ihm helfen, aber sie haben nur noch mehr Druck auf ihn ausgeübt. Ich kann mich erinnern, wie seine Mutter bei der Beerdigung geschluchzt hat, auf´s Grab hat sie sich geworfen. Und Artjoms Schwester hat zu ihren Eltern gesagt, dass sie ihnen das niemals verzeiht“, diese Geschichte erzählt Marat. Er ist 19 Jahre alt.
Auch er wuchs bei seiner Großmutter auf – Eltern hat er nicht. Marat kommt ursprünglich aus einem kleinen Städtchen im Norden Kasachstans. Seine Kindheit verlief ganz gewöhnlich: Schule, Freunde, im Winter Schlittschuh- und Schlittenfahren, im Sommer Angeln. Bei einem dieser Ausflüge zum Angeln am Fluss kam die jugendlich knabenhafte Hypersexualität wohl zum Tragen. Die Jungs, mit denen Marat seine ersten intimen Erfahrungen hatte, führen jetzt ein gewöhnliches Hetero-Leben. Einer von ihnen schaffte es sogar zu heiraten.
„Und ich habe begriffen, dass ich, verdammt noch mal, auf Typen stehe, dass ich für Mädchen überhaupt gar nichts empfinde. Wissen Sie, ich kann weibliche Schönheiten schon gut erkennen, aber mit ihnen schlafen möchte ich nicht. Ich wollte irgendwie Stärke – einen richtigen Mann wollte ich, ganz allgemein gesagt. Und ich habe verstanden, dass es nicht richtig ist und habe mich der Religion zugewandt. Zweieinhalb Jahre habe ich meine Wünsche, diese Bürde, ignoriert, gebetet. Ich hab gedacht: ‚Was wird meine Oma dazu sagen? Was wird meine Schwester dazu sagen?‘ Es fiel mir alles sehr schwer und ich habe mir eingeredet: ‚Ich darf das nicht, ich darf das alles nicht‘. Es war wirklich ein Albtraum. Ich habe…mich verschlossen. Ich habe versucht, mit niemanden zu reden…“ Nach diesen Worten schweigt Marat einige Zeit.
Dann, erzählt er, ergab sich eine Gelegenheit und er zog nach Almaty um. Damals war er gerade 16 und schlug sich irgendwie durch. Mal wohnte er bei Freunden, mal bei Bekannten, jobbte und nahm sich ein Zimmer.
„Ich brauchte einfach meine Freiheit. Nicht so wie Kinder, die sich so schnell wie möglich von ihren Eltern losreißen wollen. Ich wollte mich einfach nicht mehr verstecken und A….Angst haben. Das war das allerschlimmste – diese Angst. Angst zu haben, dass es irgendwer erfährt, dass es Probleme gibt, dass niemand es versteht, für das ganze Leben gebrandmarkt zu sein, und das in unserem kleinen Städtchen. Aber in Almaty fühlte ich die Freiheit. Ich habe gefühlt, dass ich hier nicht der einzige dieser Art bin, dass ich lebe und keine Angst habe, meine Gefühle zu zeigen. Ich hatte erste Beziehungen und habe mein eigenes Leben aufgebaut. Verdammt, es ist doch super, wenn du keine Angst haben musst, einen Menschen zu küssen, irgendwohin auszugehen – das ist ein unglaubliches Freiheitsgefühl.“
„Oma, ich bin schwul“
Marat war so von diesem Freiheitsgefühl berauscht, dass er zuhause anrief und gestand: „Oma, ich bin schwul“. Als sie die Neuigkeiten einigermaßen verdaut hatte, sagte sie, er solle nicht zurückkommen, solange er sich nicht geändert hat – und falls er sich nicht ändert, solle er niemals wieder zurückkommen. Marats Bruder verflucht ihn noch bis heute und meint, dass es für solche Menschen keinen Platz auf der Welt gibt. Marats Schwester gibt sich gleichgültig.
Mit 16 Jahren sah er sich also in einer fremden Stadt alleine mit seinen Problemen konfrontiert. Die Euphorie ging schnell vorbei.
Und Marat wurde regelmäßig geschlagen. Er war noch keine 17 Jahre alt als er in einem kleinen Café anheuerte. Irgendein Bekannter erzählte Marats Chef von der verborgenen Seite seines Mitarbeiters. Zuerst erhielt Marat eine Tracht Prügel, dann die Kündigung. Daraufhin zog Marat nach Astana, aber schon nach ein paar Tagen in der Hauptstadt wurde er in einer Unterführung zusammengeschlagen, sie waren zu fünft und berauschten sich daran, Marat, am Boden liegend, zu treten. Danach lag Marat lange im Krankenhaus. In Moskau verprügelte ihn ein Taxifahrer. Irgendwer hat irgendwo…die Geschichten nehmen kein Ende.
Suizidgedanken
Marat ist sogar schon Vater geworden. Es ergab sich, dass er auch eine Beziehung zu einem Mädchen hatte. Sie bekam ein Kind, aber sie erlaubt es Marat nicht, den kleinen zu sehen. Marat ist eigentlich ein Mensch mit einer sehr positiven Lebenseinstellung. Allem, was ihm im Leben passiert, begegnet er mit Humor, scherzt über sich selbst. Aber er gibt auch zu, dass er schon Gedanken an Suizid hatte und immer noch hat:
„Als ich in Astana gewohnt habe, hatte ich einen Kumpel in meinem Alter, Serjoscha. Morgens haben wir uns noch gesehen und dann am Abend habe ich erfahren, dass er sich aufgehängt hat. Er hatte auch zuhause erzählt, dass er schwul ist. Sein Vater hat ihn zusammengeschlagen, nannte ihn Abschaum, da hat er sich aufgehängt. Für mein kurzes Leben habe ich schon viele Suizide mitbekommen. Dabei waren es immer, soweit ich sie kannte, gute und liebe Menschen. Ich bin 19 und schon vier Menschen, die ich kannte, haben sich umgebracht. Weil man sie nicht verstanden hat, weil sie Angst hatten, weil sie es schwer hatten. Wie kann das sein? Wie soll es einem Kind gehen, wenn es keine Unterstützung erfährt? Nicht alle kommen damit zurecht und werden stärker. Und was ist, wenn ich mal 40 bin? Wie viele Menschen habe ich dann schon überlebt? Wenn ich denn selbst noch so lange lebe.“
„Egal was für ein Schwuler du bist, es gibt eine männliche Ehre, und wenn diese verletzt wird, tut das sehr weh.“
Alleine in einem Jahr begingen in Kasachstan laut Daten des staatlichen statistischen Komitees 1172 Jugendliche im Alter von 10 bis 29 Jahren Suizid. Nach Angaben von UNICEF belegt Kasachstan bei Suiziden von Jugendlichen ab 14 Jahren weltweit den zweiten Platz.
Warum ist die Suizidrate gerade bei kasachischen Jugendlichen so hoch?
„Das ist eine schwierige Frage, auf die man sogar in einer umfangreichen Studie von UNICEF keine eindeutige Antwort findet. Zumindest kann man aus der Studie schließen, dass sich die Gründe für Suizid nicht von denen in anderen Ländern der Welt unterscheiden“, erklärt Swetlana Bogatyrjowa, Leiterin eines Projekts (www.teenslive.kz), das auf die Hilfe Jugendlicher ausgerichtet ist.
„Im Laufe einer unabhängigen Analyse ist unsere Organisation zu folgender Antwort gekommen: Die Zahlen sind so hoch, weil es bei uns kein adäquates System der Hilfeleistung für Jugendliche und deren Familie gibt. Das Problem wird stigmatisiert und die Leute trauen sich nicht, einen Psychologen aufzusuchen. Sich an einen privat praktizierenden Psychologen zu wenden ist für die meisten Leute sehr teuer und überhaupt ist die Praxis, sich an einen Psychologen zu wenden, bei uns kulturell kaum entwickelt. Die Qualifikation der „kostenlosen“ Psychologen an Schulen und Krankenhäusern ist sehr niedrig, und an den Universitäten gibt es auch keine „Suizidologie“ als Fachrichtung.“
Aber wie hoch ist der Anteil der Jugendlichen, bei denen vor allem die sexuelle Orientierung eine der Ursachen für Suizid darstellt? Es stellte sich heraus, dass in Kasachstan ganz einfach keine Daten dazu existieren. Dieses Thema ist äußerst tabuisiert, sogar mehr als der Suizid an sich. Unter dem Aspekt der sexuellen Orientierung wird Suizid in Kasachstan nicht untersucht. Selbst die Studie von UNICEF über Suizid bei kasachischen Jugendlichen erwähnt diesen Faktor nicht.
Dabei wurden sowohl die Jugendlichen, die einen Suizidversuch unternommen hatten, als auch die Angehörigen und Lehrer derjenigen befragt, denen der Suizid gelang. Wahrscheinlich wollten die Jugendlichen oder die Angehörigen nicht darüber sprechen – nicht einmal nach deren Tod.
Ganz Kasachstan schockierte im Sommer 2015 ein Video, auf dem zu sehen war, wie zwei Mädchen Hand in Hand von einem 14-stockwerkigen Hochhaus in Astana sprangen. Einer der Autoren des Materials sagte, dass die beiden ein Paar gewesen seien.
Er erzählte, dass diese Mädchen nicht verstanden und nicht akzeptiert wurden…Ihre Geschichte zu hören und sich die Bilder vor Augen zu rufen war nicht ertragbar, es auf Tonband aufzuzeichnen auch nicht.
Der Jugendliche, der ihre Geschichte erzählte, erwies sich in diesem Moment als viel erwachsener als der Journalist, der eigentlich doppelt so alt ist. LGBT-Jugendliche sind eigentlich gar keine Jugendlichen, sondern Erwachsene.
Die Redaktion von Open Asia
Aus dem Russischen von Manuel Rommel
Thomas Wolfrum, 2017-04-10
Eine sehr interessante Reportage über ein Thema, für das ich viel übrig habe, aber viel zu selten etwas darüber finde. Ich möchte wirklich danken für diesen Bericht.
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