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Kasachstans schrittweise Entfernung von Russland

ENTSCHLÜSSELUNG. Im Januar 2022 suchte Kasachstan noch die Unterstützung Russlands, um den teils gewalttätigen Protesten in mehreren Städten und möglichen Palastintrigen ein Ende zu setzen. Doch seit Beginn des Krieges in der Ukraine versucht Astana sich allmählich von diesem peinlichen und unsicheren Nachbarn zu distanzieren.

Toqaev Putin
Toqaev und Putin bei einem Gespräch im April 2019

ENTSCHLÜSSELUNG. Im Januar 2022 suchte Kasachstan noch die Unterstützung Russlands, um den teils gewalttätigen Protesten in mehreren Städten und möglichen Palastintrigen ein Ende zu setzen. Doch seit Beginn des Krieges in der Ukraine versucht Astana sich allmählich von diesem peinlichen und unsicheren Nachbarn zu distanzieren.

„Wir erkennen weder Taiwan noch Kosovo noch Südossetien und Abchasien an. Dieses Prinzip wird wohl auch in Bezug auf die quasistaatlichen Einheiten angewendet, die unserer Meinung nach Luhansk und Donezk darstellen.“Mit diesen Worten bekannte Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev am 15. Juni auf dem St. Petersburger Wirtschaftsforum Farbe: Sein Land wird den Krieg in der Ukraine nicht eindeutig unterstützen.

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Dies hinderte den kasachstanischen Präsidenten jedoch nicht daran, die Beziehungen zu seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin weiter zu pflegen: Am 19. August trafen sich die beiden Staatsoberhäupter in Sotschi, um ihre Wirtschaftsbeziehungen zu besprechen. Beide Seiten bekräftigten ihren Wunsch, die bilaterale Partnerschaft zu stärken, stellt die kasachstanische Onlinezeitung Astana Times fest. Toqaev und Putin trafen sich außerdem beim letzten Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) in Samarkand. Und in Bezug auf militärische Angelegenheiten nahmen kasachstanische Truppen an einem von Russland organisierten Manöver im August teil.

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Doch die diplomatischen Beziehungen bleiben vor allem auf der Oberfläche herzlich. Kasachstan, das seit Beginn der Teilmobilisierung in Russland laut Innenministerium mehr als 140.000 Russen über seine Grenzen gelassen hat, möchte nicht in den Krieg in der Ukraine hineingezogen zu werden und versucht gleichzeitig, seinen „großen Nachbarn“ nicht zu beleidigen, da dessen Reaktion ungewiss ist und möglicherweise Auswirkungen auf die nationale Sicherheit haben könnte.

Vorsichtige Diplomatie

Während der UN-Generalversammlung im September enthielt sich Kasachstan bei der Abstimmung zur Frage, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch per Videokonferenz das Rederecht erhalten könne. Gleiches gilt für eine Resolution, die ein Ende des Krieges und den Abzug russischer Truppen aus der Ukraine forderte, berichtet Radio Azattyq, der kasachstanische Dienst von Radio Free Europe. Eine Woche nach Beginn der russischen Invasion im Februar hatte Toqaev die Parteien aufgefordert, „Kompromisse zu suchen“.

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Dies fasst Kasachstans sorgfältige Diplomatie seit Beginn der russischen Invasion zusammen. Astana wahrt gegenüber dem Krieg in der Ukraine eine gewisse Neutralität, was sich aber immer schwieriger gestaltet. Kasachstan will Russland nicht direkt kritisieren und beschränkt sich darauf, an die Bedeutung der Verteidigung der territorialen Integrität und Souveränität der Staaten zu erinnern.

Kein Unterlaufen westlicher Sanktionen

Aber hinter den offiziellen Aussagen stehen auch Fakten. Wie Radio Free Europe berichtete, erklärte Toqaev auf dem St. Petersburger Wirtschaftsforum, Kasachstan werde sich nicht den westlichen Sanktionen widersetzen, um nicht seinerseits vom Westen missbilligt zu werden.

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Im September hat sich das größte Land Zentralasiens gegen die Legalisierung von Parallelimporten ausgesprochen und nach Angaben der kasachstanischen Nachrichtenagentur KazTag russische und belarusische Trucker daran gehindert, europäische Waren über Kasachstan zu importieren. Darüber hinaus hat die Halyk Bank, eine der wichtigsten Banken in Kasachstan, am 21. September die Aussetzung von Zahlungen mit der russischen Mir-Karte angekündigt.

Ein Austritt aus der OVKS?

Die Entfremdung Kasachstans und Russlands könnte auch Auswirkungen auf den militärischen Bereich haben. Nach den erneuten Zusammenstößen zwischen Aserbaidschan und Armenien seit dem 15. September haben sich in den sozialen Netzwerken Gerüchte verbreitet, dass Kasachstan plane, die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) zu verlassen, so die kasachstanische Nachrichtenagentur Tengrinews. Trotz des Dementis der Präsidialverwaltung und eines OVKS-Manövers vom 27. September bis 5. Oktober Militärübungen der OVKS in Kasachstan, wäre der Austritt des Landes aus dem Militärbündnis möglich. erklärt der Politikwissenschaftler Arkadij Dubnow in einem Artikel des kirgisischen Nachrichtenportals Kaktus.

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Denn nach der Annexion von vier ukrainischen Gebieten am 29. September „wird der Kreml das Recht haben, die wirksamsten Mittel zum Schutz Russlands einzusetzen, einschließlich Atomwaffen“, erklärt der Politologe. Während der Demonstrationen im Januar 2022 hatte Toqaev um Unterstützung der OVKS gebeten, um die territoriale Integrität des Landes zu wahren. Nun könne „Russland versuchen, verbündete Länder für seine Militäroperation in der Ukraine zu gewinnen“, einschließlich Kasachstan, was entschieden gegen dessen Interessen wäre.

Sich dem russischen Einfluss entziehen

In der Öffentlichkeit versucht Kasachstan, sich mit verschiedenen Mitteln vom russischen Einfluss zu befreien. Die Absage der Militärparade am 9. Mai, dem wichtigen Feiertag in der Sowjetunion und in Russland, die bis dahin auch in Kasachstan gefeiert wurde, war bereits ein starkes Signal der Distanzierung. Wie das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast berichtete, hatte sich Präsident Toqaev zuvor entschlossen, eine Auszeichnung mit dem Alexander-Newski-Orden nicht anzunehmen. Russland verleiht diesen Orden im Allgemeinen an nationale Beamten oder bedeutende ausländische Politiker:innen.

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Beim offiziellen Besuch des kasachstanischen Präsidenten in Baku sprachen Toqaev und sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Aliyev nicht wie üblich Russisch. Vielmehr verwendeten sie ihre jeweilige Muttersprache, in denen sie sich dank gemeinsamer Wurzeln verstehen konnten.

Ein „eher hartes“ Gespräch mit dem russischen Botschafter

Auch der Fall des ukrainischen Botschafters in Astana, Petr Wrublewskij, weist auf ein angespanntes Verhältnis zwischen Kasachstan und Russland. Wrublewskij hatte Ende August Aufsehen erregt, als er im Interview mit einem kasachstanischen Blogger von Bemühungen sprach, bei den Kriegshandlungen in der Ukraine „so viele [Russen] wie möglich zu töten“. Wie das Onlinemagazin Esquire.kz berichtete, löste das Interview in Kasachstan eine rege Debatte aus, wobei der Botschafter im Hinblick auf die bedeutende russische Minderheit in Kasachstan der Anstiftung zum interethnischen Unfrieden beschuldigt wurde.

Der Fall wurde auch in Russlands Medien aufgegriffen. Nachdem Wrublewskij zunächst seinen Posten in Astana behielt, drückte die Vertreterin des russischen Außenministeriums Marija Sacharowa ihren Unmut darüber aus und nannte den Diplomaten einen „kämpferischen Russophoben“ und „abscheulischen Nationalisten“. Der Ton ihrer Kritik stoß wiederum auf Unverständnis vonseiten der kasachstanischen Diplomatie. Wie Radio Azattyq berichtete, bemerkte der Pressesekretär des Außenministeriums Aıbek Smadiıarov am 5. Oktober: „Ich möchte anmerken, dass der Ton ihrer [Sacharowas] Erklärung unserer Ansicht nach in Dissonanz zum Charakter der alliierten Beziehungen von Kasachstan und Russland als gleichberechtigte strategische Partner steht.“

Kurz darauf wurde Wrublewskij tatsächlich von der kasachstanischen Seite als unerwünscht erklärt und dem ukrainischen Außenministerium wurde ein Antrag auf Ernennung eines neuen Botschafters zugeteilt, so Vlast.kz. Während Smadiıarov kommentierte, die ukrainische Seite habe die Entscheidung „mit Verständnis“ angenommen, wurde auch der russische Botschafter in Astana zu einem Gespräch über den Fall und vor allem Sacharowas Erklärung ins Außenministerium geladen. „Das Gespräch war eher hart“, zitiert Vlast.kz die kasachstanischen Diplomatie.

Ein gefährliches Spiel?

Anspannungen als Folge der Entfremdung mit Russland scheinen sich aber bereits im Sommer bemerkbar gemacht zu haben. So musste zwei von Verladeterminals des Caspian Pipeline Consortium, über das Kasachstan 80 Prozent seines Öls exportiert, offiziell wegen technischer Probleme den Betrieb einstellen, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Dies deutet auf Spannungen zwischen Russland und Kasachstan hin, wobei Moskau Astana für die Nichtunterstützung russischer Positionen „bestraft“.

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Diese Spannungen wurden durch einen Facebook-Post des ehemaligen russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew verstärkt, in dem er die nationale Souveränität Kasachstans leugnete. Auch wenn der Post sofort nach der Veröffentlichung gelöscht wurde, da er laut russischen Beamten aus einem Hack resultiere, erwägen mehrere Analysten die Reproduktion des ukrainischen Szenarios in Kasachstan.

So weist der Forscher Temur Umarow darauf hin, dass die nördliche Region Kasachstans, Heimat vieler ethnischer Russ:innen ist und dass die lange Grenze zu Russland eine Bedrohung sein könne. Während eines Besuchs in der im Süden Kasachstans gelegenen Stadt Túrkistan am 27. September machte sich Präsident Toqaev tatsächlich Sorgen um die nationale Sicherheit: „In diesem Sinne müssen wir zuallererst an die Sicherheit unseres Landes denken … Für uns ist die territoriale Integrität und das Wohlergehen unseres Volkes das Wichtigste. Deshalb müssen wir Vorsicht und Geduld walten lassen, wir dürfen uns nicht von Provokateuren leiten lassen.“

Emma Collet Redakteurin für Novastan

Mit Ergänzungen von Florian Coppenrath

Aus dem Französischen von Robin Roth

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