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Geschichten aus Ekibastus: „Hier verstecke ich mich vor den Leuten“ (2/2)

Erikbastus ist eine mittelgroße Stadt im Nordosten Kasachstans. Zu Sowjetzeiten war die Stadt vor allem für ihr Kraftwerk bekannt – doch heute hat sich viel verändert. Die Journalisten von tengrinews.kz haben sich auf den Weg in die abgelegene Stadt gemacht und haben mit ihren Kameras die Lebensrealität vor Ort abgelichtet. Novastan übersetzt die Fotoreportage mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. 

Debora Nischler 

Frau in ihrer ärmlichen Behausung im nordkasachischen Ekibastus

Erikbastus ist eine mittelgroße Stadt im Nordosten Kasachstans. Zu Sowjetzeiten war die Stadt vor allem für ihr Kraftwerk bekannt – doch heute hat sich viel verändert. Die Journalisten von tengrinews.kz haben sich auf den Weg in die abgelegene Stadt gemacht und haben mit ihren Kameras die Lebensrealität vor Ort abgelichtet. Novastan übersetzt die Fotoreportage mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. 

Dieses Foto zeigt ein Haus im Kreis von Ekibastus, in einem Dorf, das offiziell Block Nr. 208 heißt, von den Leuten aber Nachalowka – eine Bezeichnung für ein eigenmächtig errichtetes Dorf – oder Zigeunerdorf genannt wird. Die Einwohner erzählen, dass es hier in den 90er-Jahren, gelinde gesagt, unruhig zuging. Inzwischen aber habe sich alles grundlegend verändert, wie sie beteuern: Drogenabhängige und blutige Auseinandersetzungen gibt es schon lange nicht mehr, die Menschen gehen einer rechtschaffenen Arbeit nach, alle besitzen gültige Dokumente und die Kinder gehen zur Schule. Außerdem kommen seit Kurzem sogenannte Timurowzy hierher, so wurden in der Sowjetunion jugendliche Freiwillige genannt, die Familien und älteren Menschen Hilfe leisteten. Auch heute noch helfen sie einsamen Rentnern beim Holzhacken und Schneeschippen.

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In Ekibastus wird es Abend. Unweit des Stadtparks trifft sich in einem kleinen Tonstudio eine Gruppe junger Männer.

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Es handelt sich um die Hip-Hop-Gruppe Calypso. Die Jungs nehmen gerade einen Song auf, zu dem sie auch bald ein Video drehen wollen.

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Keiner von ihnen ist hauptberuflich Rapper, zumindest noch nicht. Den Großteil ihrer Zeit verbringen sie bei der Arbeit, die oft überhaupt nichts mit Musik zu tun hat.

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Einer von ihnen ist Timur Tuleubajew. Er ist 22, arbeitet als Gehilfe des Elektrolokführers im Kohlebau Bogatyr. „Früher habe ich einfach Gedichte geschrieben, nicht nur Liebesgedichte, sondern über das Leben allgemein. Jetzt mache ich Trap, eine basslastigere Form des Raps. Wir wollen den Song „Adrenalin“ aufnehmen, und zwar so, dass er richtig explosiv klingt. Und ein Video dazu drehen, mit heißen Autos und Backgroundtänzerinnen“, schildert Timur oder T2 – so sein Künstlername– die Pläne der Gruppe.

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„Eigentlich will ich Moskau erobern, ich sehe mich dort, auf den Bühnen Moskaus“, bekennt Timur. Gleichzeitig erklärt er, dass die Musik für ihn doch nur ein Hobby ist und er eigentlich in die Politik möchte. Übrigens macht er das in einem gewissen Sinne auch schon.

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Wenn er nicht gerade bei der Arbeit oder mit Hip-Hop beschäftigt ist, fährt Timur in den Block Nr. 208, nach Nachalowka.

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Hier vertritt er die Interessen eines Gebietsabgeordneten, der nebenbei auch Exekutivdirektor des Unternehmens ist, in dem Timur Tuleubajew arbeitet.

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Aktivisten hatten die Idee, eine Gruppe Timurowzy zusammenzutrommeln, die von Zeit zu Zeit nach den Dorfbewohnern sieht und für sie kleine Arbeiten erledigt. Timur war allein schon wegen seines Namens wie dafür geschaffen, dieses Projekt umzusetzen.

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„Ich habe die Timurowzy gegründet und zusammen helfen wir jetzt kinderreichen Familien, etwa indem wir Holz hacken, im Haus Glühbirnen auswechseln, oder bei einer Rentnerin Schnee schippen. An Neujahr waren wir im Kinderheim und haben den Kindern Glückwünsche überbracht“, erzählt der junge Mann.

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Timur führt uns zum Haus einer älteren Frau, bei der seine Gruppe schon gewesen ist. Die Hütte ist baufällig, nur das Dach ist neu – gesponsert von besagtem Abgeordneten.

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Wir klopfen, aber lange Zeit tut sich nichts. Erst als wir schon gehen wollen, nähern sich schließlich Schritte und die Tür öffnet sich.

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Hier wohnt Nadeschda Dmitrijewna Iwanowa. Sie ist 56 und lebt inzwischen alleine in der Hütte. Früher trug sie die Post aus, aber aufgrund von Hörproblemen konnte sie den Beruf nicht mehr ausüben. Bei der Post arbeitet sie immer noch, jetzt aber als Putzfrau.

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„Mein Einkommen ist sehr bescheiden, es ist einfach nicht möglich, hier alles in Ordnung zu bringen. Der Abgeordnete hat mir das Dach machen lassen, aber hier ist doch sonst noch so viel zu tun. Und so lebe ich, verstecke mich vor den Leuten, es ist mir peinlich, richtig unangenehm, das Haus zu betreten“, sagt die Frau.

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In der Hütte ist es kühl. Wir fragen nach, ob Nadeschda Iwanowa heute den Ofen eingeheizt hat. Nach kurzem Zögern antwortet sie: „Die Kohle, die ich säckeweise gekauft hatte, ist mir ausgegangen. Vor dem Schlafengehen heize ich. Dieses Jahr hat die Kohle irgendwie nicht gereicht und so lebe ich dann halt. Ich bin schon daran gewohnt.“

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Gleichzeitig aber sagt sie, dass die Kohle geliefert wird. Und dass der Ofen auch tagsüber angeheizt ist, bestätigen die Nachbarn.

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Ich habe einen Arbeitsvertrag als Putzfrau bei der Post. Ich verdiene wenig, insgesamt 19.000 Tenge (rund 55 Euro). Davon lebe ich. Die Timurowzy sind vorbeigekommen, haben Schnee geschippt, Holz gehackt und Kohle gebracht“, erzählt Nadeschda Iwanowa.

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„Die Sachen hier in der Hütte gehören nicht mir, das ist alles noch von meinen Eltern. Ich habe kein Geld etwas zu kaufen. Modern sind hier nur der Fernseher und der Kühlschrank“, sagt sie.

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Nadeschda Iwanowa hat immerhin noch Verwandte hier im Dorf. Nebenan wohnt die Familie ihrer Nichte, diese hat eine Tochter namens Elena, die ihre Großtante oft besuchen kommt.

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In dieser Hütte wohnen die Verwandten von Nadeschda Iwanowa. Unser unerwarteter Besuch hat vor allem die Neugier des kleinsten Bewohners geweckt, er lugt durch das Fenster zu uns heraus.

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Manchmal ist es auch Nadeschda Iwanowa, die ihre Nichte und deren Tochter besucht. In die Stadt fährt sie nie. „Da will ich nicht hin. Dafür braucht man Geld“, meint sie.

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Der Stiefvater von Elena, Nikolai Stantschewski, kümmert sich zurzeit um ein Feld, das zu einer Datscha gehört (wer weiß, vielleicht ist es dasselbe Feld, auf dem die Einwohner von Ekibastus das Gemüse für ihre Konserven anpflanzen? Siehe Teil 1 der Fotoreportage).

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Dieser Arbeit geht er allerdings nur im Winter nach. Im Sommer bedient er landwirtschaftliche Maschinen.

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Abgesehen von den baufälligen Hütten, gibt es hier in Nachalowka auch ganz ungewöhnliche Gebäude.

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Wir werden auf dieses Gebäude hier aufmerksam, aus dem laute Musik dringt.

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Eine Aufschrift auf dem Eingangstor warnt gleich vor mehreren gefährlichen Hunden. Wir gehen trotzdem hinein.

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Gefährliche Hunde sind keine zu sehen. Dafür treffen wir einen sehr freundlichen Mann namens Dmitri.

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Er repariert hier LKWs, das Gelände nutzt er als Depot, lebt aber selbst in der Stadt.

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Hier im Dorf sehen wir auch einige verwahrloste Hütten.

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Nachalowka wird auch als Zigeunerdorf bezeichnet. Es heißt, hier lebten früher vorwiegend Roma. Die gibt es übrigens nach wie vor.

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Einer von ihnen erzählt, dass sich ihr Leben heute grundlegend davon unterscheidet, wie es mal war.

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„Früher kam es hier ständig zu Ausschreitungen, alle hatten Angst. Stellt euch vor, 300 Zigeunerfamilien lebten hier und jede Familie hatte fünf bis zehn Kinder. Sie stachen und schossen sich gegenseitig ab, wenn es feuchtfröhlich zuging, deshalb fürchteten sich die Leute. Etwa seit zehn Jahren ist es hier mehr oder weniger ruhig geworden. Viele sind weggezogen, viele sind auch am Drogenkonsum gestorben“, erzählt der Roma Nikolai (auf dem Foto links). Für das Foto posieren will er nicht.

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Er sagt, jetzt sei alles anders. Die Leute würden versuchen, Arbeit zu finden und das Gesetz zu befolgen. „Es gibt hier viele geschickte junge Leute, Schweißer und Schlosser, die die Schule besucht haben. Diejenigen, die nur Flausen im Kopf hatten, sind Taugenichtse geblieben, die Hälfte von ihnen ist durch Drogen draufgegangen“, erzählt der Mann.

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„Jetzt haben alle die Staatsbürgerschaft und einen Personalausweis. Früher war das nicht so. Aber jetzt sind wir kasachische Staatsbürger, bekommen alle Sozialleistungen, einen Kredit womöglich und kostenlose Krankenhausbehandlungen, wie es sich gehört. Damals war das nicht so, keiner wusste, wer man war, niemand war gemeldet. Jetzt sind alle meine Kinder gemeldet, alles, wie es sich gehört, alle haben eine Geburtsurkunde. Der Älteste bekommt jetzt einen Ausweis und bald wird er auch zum Wehrdienst eingezogen, früher hat den ja keiner abgeleistet. Jetzt ist alles, wie es sich gehört, und er wird zur Armee gehen“, meint Nikolai.

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„In den 90ern gab es hier alle möglichen Scherereien, jetzt geht es zivilisiert zu, die Leute sind ganz anders, die Kinder gehen alle zur Schule, aber damals … Von wegen Schule – das reinste Chaos war das!“, erzählt er weiter.

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Das Dorf Nachalowka grenzt an die Eisenbahnlinie. Timur erzählt uns von den Vorzügen seiner Arbeit als Gehilfe des Elektrolokführers und rappt ein paar Zeilen für uns.

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„Auf der Welt herrscht Krise, Arbeitlose überall, die Währung abgewertet, aber stehlen tun sie doch. Würden sie nicht alles an sich reißen, ging’s uns super hier. Aber die Einzigen, die hier im Reichtum leben, seid ihr“, rappt er.

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Timur sagt, er würde nur deshalb in die Politik gehen, weil er dann den Menschen besser helfen könnte. Er ist positiv überrascht, als wir ihm erzählen, dass es in der sogenannten Mäschilis, dem Unterhaus des kasachischen Parlaments, einen Abgeordneten gibt, der es vom Lokführergehilfen zum Parlamentarier geschafft hat.

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Mit diesen Gedanken im Kopf geht Timur ins Studio, wo er weiter mit den anderen Mitgliedern von Calypso an der Aufnahme ihres zukünftigen Hits arbeitet. „Alles in mir kocht, im Kopf dröhnt Adrenalin …“, so klingt der Refrain ihres neuen Songs (hier geht’s zum Videomitschnitt.).

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Zur gleichen Zeit ertönt in der benachbarten Karaoke-Bar ebenfalls Musik.

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Und wie sich herausstellt, ist für einige der Angstellten die Arbeit hier im Lokal auch in gewissem Sinne ein Hobby. Sanim Taukenowa arbeitet nur im Nebenjob als Baristin. Eigentlich ist sie Geologin im Kohlebau Wostotschni.

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„Träume … ja, davon habe ich viele. Wie alle unverheirateten Mädchen träume ich von der wahren Liebe, von einem guten Familienleben, von meinem Glück als Frau, vom Karriereaufstieg. Ich träume davon, ein Stipendium für das Masterstudium zu bekommen. Ich träume davon, dass mein Kind zu einem rechtschaffenen Menschen heranwächst, sich als Persönlichkeit gut entwickelt und ich stolz sein kann“, erzählt die junge Frau.

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Wenn es in Ekibastus etwas gibt, das sich zu fotografieren lohnt, dann sind das die Menschen hier, die Leute sind sehr interessant und verschieden“, sagen die jungen Leute zu uns. Darüber lässt sich nicht streiten.

Im Original erschienen auf tengrinews.kz
Aus dem Russischen übersetzt von Debora Nischler

Kommentieren (1)

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Eduard, 2023-01-20

Hi,
ich möchte gerne meine Wertschätzung für deine tolle Arbeit aussprechen.
Die Bilder sind so aussagekräftig und die Beschreibung der Stadt so emotional, man füllt sich als ob man dort wäre. Wirklich super das ich auf deine Arbeit gestoßen bin. Als Russlandsdeutsche sind wir in den 90er ausgewandert, das letzte mal war ich 2016 dort.

Beste Grüße

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