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Dosym Satpajew: Wenn der Nachfolger Nasarbajews das System nicht ändert, wird es zusammenbrechen

Im Anschluss an die Präsidentschaftswahl in Kasachstan sprach The Open Asia mit dem Politikwissenschaftler Dosym Satpajew über die Reaktion der Machthaber auf Proteste, den Zustand der Opposition sowie die zukünftige politische Entwicklung des Landes. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Dosym Satpajew
Der Politikwissenschaftler Dosym Satpajew

Im Anschluss an die Präsidentschaftswahl in Kasachstan sprach The Open Asia mit dem Politikwissenschaftler Dosym Satpajew über die Reaktion der Machthaber auf Proteste, den Zustand der Opposition sowie die zukünftige politische Entwicklung des Landes. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Nach der Bekanntgabe der vorgezogenen Präsidentschaftswahl kam es in Kasachstan zu Kundgebungen, die von Festnahmen begleitet wurden. Zu größeren Kundgebungen und Protesten kam es am 9. Juni 2019, dem Tag der vorgezogenen Wahlen, und an den darauffolgenden Tagen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden zwischen dem 9. und dem 12. Juni circa 4000 Menschen verhaftet. 975 von ihnen erhielten eine Verwaltungsstrafe.

Die internationalen Organisationen haben sich keinerlei Illusionen bezüglich dieser Wahlen hingegeben. Bis zum 9.Juni war in den Berichten der OSZE die Rede davon, dass ein Wahlkampf kaum bemerkbar sei. Wenn in den internationalen Medien von den Wahlen berichtet wurde, wurden nicht Bilder der Wahlen selbst, sondern von Kundgebungen und Festnahmen gezeigt“, berichtet Dosym Satpajew. Die OSZE beschrieb die Wahlen selbst zwar als transparent und legitim, bemerkte aber auch die Atmosphäre starken Drucks von Seiten der Machthabenden. berichtete zudem, dass die Machthabenden im Umgang mit Demonstrierenden zu Gewalt griffen.

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Scheinbarer Pluralismus

Satpajew konstatiert, dass die kasachstanische Führung den Wahlprozess kontrollieren wollte, um diesen der Weltöffentlichkeit als legitim und pluralistisch zu präsentieren. Ihre Politstrategen „haben versucht, alle zu überlisten“ und ließen auch eine Frau und einen „Oppositionellen“ zur Wahl zu. Dafür, dass es sich dabei lediglich um eine Illusion handelte, spricht laut dem Politikwissenschaftler das Handeln der Kandidaten oder besser gesagt, ihre Abwesenheit. „In den Wahllokalen kam es zu Rechtsverstößen, aber keiner der Kandidierenden gab hierzu eine Erklärung ab. Dies war auch überhaupt nicht ihre Aufgabe. Ihre Hauptaufgabe war es, durch ihre Rolle als Kandidierende einen scheinbaren Pluralismus zu schaffen“, stellt Satpayev klar.

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Er unterstreicht zudem, dass selbst die exit poll unter der Kontrolle der Machthabenden stattfand und deshalb als „gefälscht“ bezeichnet werden kann. Es gebe in Kasachstan schon lange keine bedeutende Opposition mehr. „Die Machthabenden unternehmen alles, damit keine Opposition entstehen kann. Eine echte Transition beginnt erst, wenn der Strippenzieher Nasarbajew von der politischen Bühne abtritt. Wenn er geht, kommt es innerhalb des Systems zu Ausfällen“, so Satpajew. Der Faktor Selenskyj habe zudem auch in Kasachstan der alten Opposition ein Ende gesetzt, weil die Menschen jetzt neue Gesichter erwarten.

Festnahmen in Nur-Sultan
In Nur-Sultan und Almaty wurden am 1. Mai mindestens 80 Protestiernede festgenommen.

Satpajew geht davon aus, dass der deutlichste Unterschied zu den vorherigen Wahlen in dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger liegt. So wurde die Aushebung der Nachwahlbefragung durch unabhängige Beobachter ausgeglichen. „Des Weiteren haben sich die Machthabenden bei der Nutzung provokativer Momente von Russland etwas abgeschaut, unter anderem die „Titushki“ (Die Bezeichnung trat erstmals im Rahmen des Euromaidan in der Ukraine auf und wird für junge Männer verwendet, die oft gewalttätig die Polizei unterstützen beziehungsweise im Sinne der Regierung gegen Demonstrierende vorgehen und dafür bezahlt werden, Anm. d. Red.). So etwas gab es davor nicht. Die Provokationen der Demonstrierenden, die bereit waren friedlich mit den Machthabenden zu diskutieren, waren ein Fehler. Aus Naivität denken die Machthabenden, dass sie die Gegenwart kontrollieren, aber ich denke, dass sie die Zukunft verspielt haben“, so Satpajew.

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Laut dem Politologen verstehen die Machthabenden nicht, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Zu Veränderungen der Gesellschaft sei es nicht erst nach Abtritt Nasarbajews gekommen, sondern sie haben sich schon nach den Ereignissen in Schangaösen 2011 gewandelt (Bei dem Schangaösen-Massaker wurden Demonstrationen am kasachischen Unabhängigkeitstag gewaltsam niedergeschlagen, wobei einige Menschen starben, Anm. d. Red.). Und möglicherweise auch schon früher, nach den Geschehnissen von 2006 in Schanyrak, einem Viertel von Almaty. Dort kam es zu Zusammenstößen zwischen Ortsansässigen und der Polizei. Die Bewohner hatten gegen den Abriss von Behausungen protestiert, die von einem Gericht für illegal erklärt worden waren.

Neue Opposition stärker fragmentiert

Der Politikwissenschaftler hält die Ära der alten Opposition für beendet. Jetzt trete eine neue Opposition auf die Bildfläche, die allerdings stärker fragmentiert sein werde. Es sei zu bezweifeln, dass so etwas wie ein einheitlicher Kern entstehen wird. „Die Machthabenden setzen sich bei Protestaktionen mit einer aktiven Minderheit auseinander. Sie verstehen nicht, dass der wichtigste Gegner der passive Protest ist. Ich sage immer, dass wir der Sowjetunion ähnlich sind. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion hatte Millionen Mitglieder. Aber viele von ihnen und sogar amtierende Mitglieder der Kommunistischen Partei unterstützten Jelzin“, erklärt Satpajew.

Die Interessen der Jugend werden unterschätzt

Außerdem hebt er hervor, dass die Leute sich nicht mehr vor dem System fürchten und die Verwirklichung ihrer Rechte einfordern. Im 2014 erschienen Buch „Molotowcocktail“ sprechen Satpajew und seine Kollegen davon, dass die kasachische Jugend stärker politisiert sein wird. „Offizielle“ Politikwissenschaftler waren dagegen darum bemüht, zu überzeugen, dass die Jugend Kasachstans – insbesondere diejenige in den Städten –  sich nicht für Politik interessiere. „Nach dem 19. März mussten die Machthabenden feststellen, dass es sich bei all ihren Vorstellungen, die Generation der Unabhängigkeit vertraue ihnen vollständig, um einen Mythos handelt. Es war für sie ein Schock, dass vor allem die städtische Jugend aktiv protestierte“, sagt Satpajew.

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Laut dem Politikwissenschaftler haben sich die Herrschenden verrechnet, obwohl die Wahlen bereits seit 2016 vorbereitet wurden. Es wurden diejenigen Gruppen aktiv, die nicht einmal als protestbereit eingestuft worden waren. Satpajew meint, dass die Regierung eben aufgrund dieser Überraschung unangemessen reagierte. Damit wurde die Situation nur verschärft. „Plötzlich verstanden alle, darunter auch zuvor apolitische Menschen, dass sie schutzlos sind, dass das System sie morgen dafür bestrafen könnte, dass sie ihre Meinung äußern wollten.

Zukunftsszenarien an der Spitze Kasachstans

Aber Satpajew geht auch davon aus, dass die Protestbewegung nicht nur von Emotionen leben kann. Die Gründung einer politischen Bewegung sei ein technischer Vorgang, der bestimmte Standards erfüllen muss. Er ist der Meinung, dass die fünfjährige Amtszeit Tokajews  unvorhersehbar verlaufen könne. Wenn Nasarbajew während dieser fünf Jahre in der Politik bleibt, dann werde Tokajew höchstwahrscheinlich bis zum Ende gestützt. „Und was für eine Rolle kommt dann Dariga Nasarbajewa zu? Wenn Nasarbajew von der politischen Bühne abtritt, wird die Elite entweder versuchen, Tokajew als Status Quo zu erhalten oder es beginnt ein Prozess, bei dem Tokajew freiwillig abtritt. Dann hat die Tochter des Präsidenten hypothetisch die Chance, zum Staatsoberhaupt zu werden. Das wäre eine Falle für die Machthabenden. Im Gegensatz zu Tokajew ist das Verhältnis zu Dariga Nasarbajewa sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Elite kritisch. Das könnte eine Spaltung der Elite hervorrufen“, denkt Satpajew . Wenn Nasarbajew geht, beginnt der Machtkampf.

Kasaschstans neuer Präsident Tokajew
Kassym-Dschomart Tokajew wurde am 9. Juni mit 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Kasachstans gewählt

Der Politologe erwartet, dass die Vereinigten Staaten und die EU höchstwahrscheinlich mit demjenigen Präsidenten zusammenarbeiten werden, der ihrer Meinung nach die Situation im Land kontrolliert. Die EU hat unlängst eine europäische Strategie in Zentralasien auf den Weg gebracht, bei der die Menschenrechte nicht an erster Stelle stehen. “Einige europäische PolitikerInnen sind in dieser Hinsicht duldsamer geworden und arbeiten mit demjenigen zusammen, den es nun einmal gibt”, schließt der Politikwissenschaftler. Mit anderen Worten: derzeit sind die Voraussetzungen nicht gegeben, um die politische Situation in Kasachstan von außen zu verändern. Gleichzeitig können der passive Protest und fragmentierte Protestaktionen ohne vereinte Kräfte kaum zu Veränderungen führen.

Aiman Kodar
The Open Asia

Aus dem Russischen von Marie Schliesser

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