Am 5. Juni 2022 steht in Kasachstan ein Referendum um ausführliche Verfassungsänderungen an. Neben einer Umverteilung von Kompetenzen zugunsten des Parlaments soll mitunter auch die besondere Rolle des ersten Präsidenten Nursultan Nazarbaev gestrichen werden. Radio Azattyq, der kasachstanische Dienst von Radio Free Europe, hat mit der britischen Journalistin Joana Lillis über ihre Einschätzung der Lage gesprochen.
Die Journalistin Joana Lillis lebt seit 17 Jahren in Kasachstan und schreibt regelmäßig über die Entwicklungen in diesem Land und in Zentralasien im Allgemeinen. Ihr 2018 veröffentlichtes Buch „Dark Shadows: Inside Kazakhstan’s Secret World“ ist insbesondere den politischen Hintergründen von Kasachstan gewidmet. Im Interview mit Radio Azattyk liefert sie ihre Einschätzungen zum Kurs, den das Land seit den Unruhen im Januar dieses Jahres einschlägt.
Radio Azattyq: Unter Nursultan Nazarbaev, insbesondere im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft, wurden Mechanismen zum Schutz von ihm und seiner Familie geschaffen. Jetzt werden diese Mechanismen aufgelöst. Bedeutet dies, dass das politische System mit all seinen Absicherungen und seinem widerstandsfähigen Anschein tatsächlich anfällig war?
Joanna Lillis: Noch vor ein paar Jahren schien das System stabil und wirklich solide. Politikwissenschaftler und Analytiker in Kasachstan warnten jedoch immer wieder vor seiner Zerbrechlichkeit. Es sehe zwar solide aus, könne aber ohne Nazarbaev nicht gut funktionieren. Sie wiesen auf alle möglichen Schattenseiten und Probleme, die sich in der Zukunft zeigen würden. Genau das ist im Januar geschehen.
Was wir bekamen, war Gewalt und ein Aufflammen der öffentlichen Unzufriedenheit und des Unmuts über der Machtübergabe [von Nazarbaev an den jetzigen Präsidenten Kasym-Jomart Toqaev im Juni 2019, Anm. d. Ü.] durch mächtige und, wie sich herausstellte, gefährliche Gruppen, die bereit waren, Gewalt anzuwenden – das ist eine Version der Ereignisse. Ich denke, das Problem mit dem System ist, dass es zwar solide aussah, aber innen völlig leer war, weil es von Nazarbaev für Nazarbaev geschaffen wurde.
Toqaev hat Änderungen an der Verfassung vorgeschlagen. Verweise auf den „Elbasy“ (kas., „Volksführer“, offizieller Titel von Nazarbaev, Anm. d. Ü.) und dem ersten Präsidenten sollen aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Ist das der Beginn einer „Entelbasyfizierung“ nach Jahrzehnten des Personenkults?
Wir sind Zeugen einer „Entelbasyfizierung“, einer „Entnazarbaevizierung“, wie auch immer wir es nennen. Selbst Skeptiker, die glauben, dies alles sei nur Schein und dass Nazarbaevs Familie und Vertraute nur den Moment ihrer Rückkehr abwarten, kann es keinen Zweifel geben. Es lässt sich nicht leugnen, dass Nazarbaevs eigenes Image und sein Ruf irreparablen Schaden genommen haben. Außerdem lässt sich nicht leugnen, dass Toqaev – auch wenn manche meinen, er spiele der Öffentlichkeit etwas vor – definitiv viele Elemente von Nazarbaevs Erbe zerstört, vom Personenkult bis hin zu den Geschäftsimperien seiner Vertrauten (wir sprechen hier nicht von einer plötzlichen Ablehnung Nasarbajews, denn Toqaev selbst sagte, sein Beitrag müsse gewürdigt werden).
Kasachstan befindet sich eindeutig an einem Wendepunkt: Das von Nazarbaev aufgebaute System bricht vor unseren Augen und vor den Augen Nazarbaevs zusammen, was für ihn wahrscheinlich ein Schock ist. Nun steht Toqaev vor der schwierigen Aufgabe seine Ideen umzusetzen, wenn man davon ausgeht, dass er versucht, ein „neues Kasachstan“ sowohl politisch als auch wirtschaftlich aufzubauen.
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Das Problem ist jedoch, dass er teils halbe Maßnahmen trifft. Der Personenkult wird aufgelöst. Das ist auch eine halbe Maßnahme, denn es gibt immer noch Nazarbaev gewidmete Denkmäler, verschiedene Objekte, einen Flughafen, Straßen und sogar eine Stadt. Wir wissen nicht, was in den nächsten Jahren und nach dem Tod von Nazarbaev geschehen wird. Dies sind jedoch nur halbherzige Maßnahmen, auch wenn sie, von außen betrachtet, wie recht entschlossene Aktionen aussehen. Ich möchte anmerken, dass ich Toqaevs Zerstörung einiger Geschäftsimperien ebenfalls als halbe Sache betrachte.
Er und die Behörden gehen nun gegen Unternehmen vor, die der Familie gehören, und schließen zum Beispiel ein Unternehmen, das Schrott sammelt und an dem (Nazarbaevs Tochter, Anm. d. Ü.) Álıya Nazarbaeva beteiligt war. (Sein Bruder, Anm. d. Ü.) Bolat Nazarbaev hat sich Berichten zufolge freiwillig aus dem Geschäft mit Kryptowährungen zurückgezogen, nachdem festgestellt worden war, dass es illegal war. Erwähnenswert ist die Verhaftung von Nazarbaevs Neffen Qaırat Satybaldy wegen Korruptionsverdachts. Satybaldy ist der einzige [direkte] Verwandte von Nazarbaev, der wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde.
Die Menschen in Kasachstan hingegen glauben, dass weitere Familienmitglieder und Vertraute in Veruntreuung verwickelt sind. Aber wir sehen Geschäftsleute, die Unternehmen betreiben, die mit der Familie verwandt sind, und wir wissen nicht, wie viele Verwandte von Nazarbaev noch in Kasachstan sind. Wir sehen keine eingeleiteten Maßnahmen, keine eingeleiteten Strafverfahren. Das ist es, was ich mit halben Sachen meine.
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Der nächste Schritt besteht unter anderem darin, Verweise auf Nazarbaev aus der Verfassung zu streichen, wobei manche meinen, das sei nur ein Ablenkungsmanöver. Ich denke jedoch, wenn diese Hinweise aus den offiziellen Dokumenten entfernt werden, wird Nazarbaev zu einem gewöhnlichen Sterblichen wie alle anderen Einwohner Kasachstans, er wird ihnen gleichgestellt, während er vorher etwas Besonderes war, wie eine Art König. Toqaevs Problem besteht darin, dass er aus dem alten System stammt, obwohl er sich selbst als Führer des neuen Systems positioniert.
Die Frage wird immer lauten: Wie weit kann er gehen, kann er das politische und wirtschaftliche Erbe brechen und wie kann er dies tun, ohne den Glauben der Menschen an alles, was in den letzten 30 Jahren geschehen ist, zu untergraben? Er wird manövrieren müssen. Im Moment hat er einen gewissen Antrieb – zumindest ist das der Eindruck nach den Ereignissen im Januar und durch die Reformen, die er durchzusetzen versucht. Doch im weiteren Verlauf der Ereignisse werden die Widersprüche in seinen Taten immer deutlicher werden. Natürlich gibt es hier wirtschaftliche Risiken. Nehmen Sie zum Beispiel Timýr Qulybaev, den Schwiegersohn von Nazarbaev, und Dinara Qulybaeva, denen ein so großer Teil der Wirtschaft gehört, dass man nicht einfach alles ruinieren kann, da man die Folgen für das Bankensystem und den Öl- und Gassektor bedenken muss.
Der Vorsitzende der Májilis (Unterhaus des Parlaments, Anm. d. Ü.), Erlan Qoshanov, sagte, dass die geplanten Verfassungsänderungen auch das Verfassungsgesetz über den ersten Präsidenten in Frage stellen würden. Kann man sagen, dass Toqaev sich sehr an den ehemaligen Staatschef heranwagt? Was ist als nächstes zu erwarten? Wird er in der Lage sein, sich mit wichtigen Familienmitgliedern anzulegen?
Es ist sehr schwer darauf zu antworten. Ich denke, wenn es Toqaev gelingt, seine Stellung auf politischer Ebene zu festigen, und wenn es ihm gelingt, die Menschen hinter sich zu bringen und die Vertrauten Nazarbaevs zu der Einsicht zu bringen, dass sie nicht an die Macht zurückkehren und gefährliche und gewalttätige revanchistische Anschläge wie den im Januar organisieren können, dann wird er Erfolg haben.
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Die Frage ist, ob er das will. Er hat über die Rückgabe von Vermögenswerten gesprochen. Aber will er es wirklich und glaubt er, dass es möglich ist? Seien wir ehrlich. Er ist auch ein Pragmatiker. Vielleicht will er nur einige Leute dazu zwingen, mehr Steuern zu zahlen und ehrlicher zu wirtschaften? Aber wir haben auch noch keine Gesetze gesehen, die sie dazu zwingen würden. Will er wirklich allen, die jemals mit Nazarbaev zu tun hatten, alles wegnehmen? Meiner Meinung nach ist das unrealistisch, da die großen tragende Unternehmen mit Nazarbaev verbunden sind.
Und ich habe den Eindruck, dass der Präsident selektiv handelt, um zu zeigen, was passiert, wenn man nicht gehorcht. Es scheint, genau das will er erreichen, denn es ist der einfachste Weg. Aber ich bin sicher, dass viele derjenigen, die im Januar gegen die korrupten Praktiken der Familie Nazarbaev protestiert haben, mit solchen Maßnahmen nicht zufrieden sein werden. Ich denke also, dass Toqaev in Schwierigkeiten geraten wird, wenn er das alte System nicht irgendwie loswird. Er behauptet, er zerstöre das gesamte politische System, indem er ein Neues schafft.
Aber die Menschen assoziieren ihn mit der Herrschaft Nazarbaevs, sie sehen in ihm ein Abbild des Mannes, den Nazarbaev zu seinem Nachfolger ernannt hat, obwohl sich die Dinge seitdem sehr verändert haben. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich kann es nicht vorhersagen, aber ich vermute, dass er nicht versuchen wird, alle geschäftlichen Interessen der Familie zu beseitigen. Er wird selektiv vorgehen und bestimmten Personen zeigen, wie sie bestraft werden können, wenn sie sich nicht an die neuen Regeln halten.
Wir können sehen, dass Nazarbaev politisch ins Abseits gedrängt wird, aber was wird mit ihm selbst geschehen? Wird er als einfacher Rentner im Lande bleiben, wenn die Verfassungsänderungen verabschiedet werden? Wie könnten sich seine Rolle und sein Status ändern?
Was mit Nazarbaev geschehen wird, ist eine Schlüsselfrage für Kasachstan unter den neuen Gegebenheiten. Nazarbaev sagte im Januar (bei seinem Rücktritt vom Sicherheitsrat, Anm. d. Ü.), er sei nun ein einfacher Rentner. Wenn diese Verfassungsänderungen verabschiedet werden – und das werden sie mit ziemlicher Sicherheit – wird er das auch auf dem Papier sein. Aber was mit ihm als Nächstes passiert, ob er überhaupt im Land ist oder ob er gelegentlich aus dem Ausland hierherkommt, wie viele glauben, wissen wir nicht.
Ich kann nur sagen, dass Nazarbaev der Ansicht ist, dass er 30 Jahre lang ein unabhängiges Land aufgebaut hat, das nach seinem Tod stabil sein soll. Ich denke, fast jeder in Kasachstan ist sich heute einig, dass er gescheitert ist, dass das Land nicht stabil geblieben ist und dass alles aus verschiedenen Gründen in Gewalt geendet ist. Was geschieht also mit ihm? Was fühlt er? Es ist für uns schwer zu verstehen, denn er bleibt stumm. Und selbst wenn er nicht schweigen würde, würden die Worte nicht unbedingt seine Gedanken widerspiegeln. Aber ich bin überzeugt, dass es für ihn schwierig wird, in Kasachstan zu bleiben, eine Art Rolle zu spielen und eine öffentliche Funktion auszuüben. Um ehrlich zu sein, ist das führ ihn – vorsichtig gesagt – peinlich und demütigend. Leider ist sein Lebenswerk gescheitert.
Deshalb ist meine persönliche Vorhersage, dass wir Nazarbaev in Kasachstan in Zukunft nicht mehr oft sehen werden, weil er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen will. Ich glaube, Toqaev wird auch nicht wollen, dass Nazarbaev oft in der Öffentlichkeit gesehen wird. Vielleicht treten sie gemeinsam in der Öffentlichkeit auf, um den Anschein zu erwecken, dass ein ernster Streit ein glückliches Ende gefunden hat. Aber ich glaube nicht, dass das in Zukunft noch etwas bedeutet.
In Kirgistan kam Sooronbai Dscheenbekow (im Jahr 2017, Anm. d. Ü.) mit Unterstützung seines Vorgängers Almasbek Atambajew an die Macht. Atambajew wurde daraufhin strafrechtlich verfolgt. Besteht die Möglichkeit, dass ein ähnliches Szenario in Kasachstan eintritt?
Sag niemals nie. Ich vermute, dass viele Menschen es begrüßen würden, wenn Nazarbaev wegen verschiedener Verbrechen, die er ihrer Meinung nach begangen hat, strafrechtlich verfolgt würde. Natürlich gilt er als unschuldig, bis seine Schuld vor Gericht bewiesen ist. Die Frage ist, ob Toqaev ihn strafrechtlich verfolgen will und ob es in seiner Macht steht – ich spreche nicht vom Gesetz. Formell gesehen sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Wenn ein Verbrechen begangen wird, muss sich der Täter verantworten. In der Praxis ist es aber eine politische Frage, und wir gehen immer noch davon aus, dass Nazarbaev einen gewissen Einfluss auf Toqaev hat.
Toqaev hat nicht alle Personen strafrechtlich verfolgt, die im Laufe der Jahre Korruptionsstraftaten begangen haben. Ich denke, das liegt daran, dass er eine gewisse Stabilität aufrechterhalten will und sich um die Konsequenzen sorgt. Der Versuch, Nazarbaev strafrechtlich zu verfolgen, wäre ein sehr ernster Schritt. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, ob dies getan werden sollte oder nicht, ob Verbrechen begangen wurden. Ich glaube jedoch nicht, dass Toqaev das Ruder herumreißen will, zumal er ein Protegé von Nasarbajew ist.
In Kirgistan gab es den Präzedenzfall, als Atambajew unter Dscheenbekow verhaftet, verurteilt und inhaftiert wurde. Es lohnt sich jedoch, auf einige Unterschiede zwischen Kirgistan und Kasachstan hinzuweisen: Atambajew ist ein labiler Mann, der sich konsequent gegen Dscheenbekow stellte und schließlich von Dscheenbekow gestoppt wurde, während in Kasachstan, was auch immer im Januar wirklich vor sich ging, keine Konfrontation zwischen Nazarbaev und Toqaev zu beobachten ist. Und wir wissen nicht, wer hinter den Ereignissen im Januar steckt. Aber meine Antwort auf die Frage lautet: Ich denke, für Toqaev würde das eine Destabilisierung bedeuten, und er müsste sehr viel Macht haben, um solche Schritte zu unternehmen, denn sie könnten Aktivitäten der pro-Nazarbaev-Kräfte auslösen.
Einige westliche Experten halten Toqaev für vernünftig, intelligent und diplomatisch. Was sehen Sie ihn?
Das ist eine gute Frage. Das erste Wort, das mir in den Sinn kommt, ist „gemäßigt“. Das ist auch der Grund, warum er als Nachfolger von Nazarbaev ausgewählt wurde, denn er hat einen ausgewogenen Ansatz für alles. Und ich glaube, das hat ihm im Januar gutgetan. Auch wenn er in manchen Momenten auf dem Bildschirm überfordert wirkte, hat ihm seine überlegte Herangehensweise geholfen, die Situation zu meistern.
Diese Art von Zurückhaltung kann helfen, eine Krisensituation wie die im Januar zu bewältigen. Ich halte ihn für intelligent, und ich denke, dass seine diplomatische Erfahrung für die Rolle, die er spielt, nützlich ist, nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit, die Dinge aus einer Außenperspektive zu betrachten. Meiner Meinung nach war das für Nazarbaev nicht so einfach, da er ein Produkt des sowjetischen Systems ist und sein ganzes Leben dort verbracht hat, während Tokajew die Dinge aus einer westlichen, externen Perspektive betrachtet. Ich denke, er ist genauso berechnend wie jeder andere Politiker, der solche Höhen erreicht hat.
Er ist jedoch nicht der charismatischste Politiker. Er wirkt zwar sympathisch, aber auch zurückhaltend und uncharismatisch. Nazarbaev wirkt extrovertierter und öffentlicher. Ich denke, einige würden gerne einen dynamischen Politiker sehen, mit dem sie interagieren, dem sie folgen und den sie unterstützen können. Er möchte eine „zweite Republik“, ein „neues Kasachstan“ aufbauen, und sein ausgewogener Ansatz wird ihm dabei helfen, aber es wird ihm schwerer fallen, die Menschen zu überzeugen.
Toqaevs Team argumentiert, dass das Reformpaket das Land von einem superpräsidialen System weg und hin zu einem „Präsidialsystem mit einem starken Parlament“ führen würde. Wie beurteilen Sie die vorgeschlagene Verfassungsreform?
Toqaev selbst sagte, dass ein Drittel der 98 Artikel der Verfassung geändert werden würde. Wir brauchen nicht an den Fingern abzuzählen, denn es kommt auf das Wesen dieser Veränderungen an. Aber wenn diese Maßnahmen richtig und dynamisch ergriffen werden, können sie meines Erachtens dazu beitragen, Kasachstan zu verändern. Für den Durchschnittsbürger in Kasachstan sind sie jedoch technisch und schwer verständlich. Erlan Qarin, Toqaevs Chefideologe, die Bürger würden es schwer haben, sie zu verstehen, seien aber dennoch aufgefordert, dafür zu stimmen.
Wenn die Änderungen ordnungsgemäß angenommen und umgesetzt werden, wenn es nur wenig Widerstand gibt und wenn einflussreiche Mitglieder des Staatsapparats, der Wirtschaft und andere, die die Familie Nazarbaev unterstützen, nicht versuchen, sie zu untergraben oder ihre Annahme zu verzögern, und wenn es keine Einmischung aus dem Ausland gibt – etwa aus Russland, das sich in viele Demokratisierungsbemühungen eingemischt hat – könnten diese Maßnahmen in einigen Jahren Wirkung zeigen.
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Aber werden die Menschen, die die Ereignisse im Januar durchlebt haben, noch ein paar Jahre warten wollen? Nein. Ich sehe das Problem vor allem darin, dass Toqaev nicht verstanden hat, dass er Maßnahmen angekündigt hat, die sein Hauptideologe als unverständlich bezeichnet, und er glaubt, dass sie zu Reformen beitragen und politische Forderungen erfüllen. Ich glaube, dass er aufrichtig versucht, auf die Forderungen einzugehen.
Ich glaube jedoch, dass der „hörende Staat“ es versäumt hat, die Stimmen der Menschen zu hören. Die Menschen verlangten einen schnellen Wechsel. Sie forderten zum Beispiel die Möglichkeit, Akims (Leiter von Lokal- und Regionalverwaltungen, Anm. d. Ü.) zu wählen. Tokajew hätte genau solche weitreichenden Veränderungen in Betracht ziehen müssen. Er hätte dem Volk versprechen sollen, baldige Parlaments- und Regionalwahlen abzuhalten oder einen Zeitplan für solche Wahlen festzulegen. Ich glaube, die Menschen haben auf solche Schritte von ihm gewartet, damit sie auf etwas Wichtiges hoffen konnten. Und nicht etwa um Kleinigkeiten wie die Frage, wie viele Kandidaten Toqaev den Máslihats (Regionalparlamenten, Anm. d. Ü.) für die Wahl der Akime vorschlagen wird.
Die Menschen sehen nicht, wie diese Maßnahmen ihr Leben verändern werden. Im Januar sagten sie, dass die Wahl der Akims ihr Leben verändern würde; diese Gelegenheit haben sie bisher nicht gehabt. Was faire Parlamentswahlen angeht, so hat es in Kasachstan seit 30 Jahren keine mehr gegeben. Die Wahlen sind immer schlechter geworden. Im Jahr 2019 versprach Toqaev, den politischen Wettbewerb zu gewährleisten und die Regeln für die Registrierung von Parteien zu vereinfachen, und viele glaubten, dass es möglich sein würde, Oppositionsparteien zu registrieren. Infolgedessen haben wir im vergangenen Jahr die meiner Meinung nach schlimmsten und zynischsten Wahlen in Kasachstan erlebt: Es gab keine neuen Oppositionsparteien, die Zusammensetzung des Parlaments blieb zum dritten Mal dieselbe, dieselbe wie vor zehn Jahren.
Die Zeiten haben sich geändert. Nach dem „blutigen Januar“ versprach Toqaev neue Maßnahmen. Aber die Menschen haben diese Versprechen bereits gehört. Es bleibt offen, ob die Änderungen halten werden, was Toqaev verspricht. Er muss schnell handeln, um die Forderungen der Menschen zu erfüllen. Wir sehen jetzt keine großen Proteste auf den Straßen, aber die Proteststimmung ist nicht verschwunden. Wir haben im Januar gesehen, wozu die Proteste führen können. Ich denke, dass sich die Menschen in den nächsten Monaten, wenn die Änderungsanträge angenommen werden, aber keine echten Oppositionsparteien zugelassen werden, fragen werden, worum es eigentlich geht, was das für sie bedeutet und ob es nur leeres Gerede ist.
Novastan ist das einzige deutschsprachige Nachrichtenmagazin über Zentralasien. Wir arbeiten auf Vereinsgrundlage und Dank eurer Teilnahme. Wir sind unabhängig und wollen es bleiben, dafür brauchen wir euch! Durch jede noch so kleine Spende helft ihr uns, weiter ein realitätsnahes Bild von Zentralasien zu vermitteln.
Ich denke, wenn nicht baldige Parlamentswahlen angekündigt werden, um das „Taschenparlament“ abzuschaffen, mit dem sich Kasachstan abfinden musste, werden sich die Menschen fragen: „Was bedeutet das alles für mich?“ Andererseits ist Toqaev offensichtlich nervös wegen der Lokalwahlen. Meiner Meinung nach sind dies die beiden wichtigsten Schritte, auf die die Menschen warten und die Toqaev noch nicht zu versprechen bereit ist. Wie ich jedoch bereits festgestellt habe, glaube ich, dass die Verfassungsänderungen Toqaev Versuch sind, das System zu reformieren, ja etwas Neues zu schaffen. Aber wird er dazu in der Lage sein? Und die Hauptfrage ist: Ist Toqaev stärker als das System oder ist das System stärker als Toqaev?
Viele Experten sagen, dass Toqaev das von Nazarbaev geschaffene System anpassen wird und sich eigentlich nichts ändern wird. Besteht die Gefahr einer neuen Elbasy?
Tokajew sagt, er wolle das System entpersonalisieren und dafür sorgen, dass sich die Vergangenheit in Kasachstan nicht wiederholt. Ich persönlich glaube, dass er das wirklich will. Ich weiß, dass viele diese Einschätzung nicht teilen. Selbst wenn er der nächste Elbasy, der nächste Nazarbaev sein will, glaube ich nicht, dass er den richtigen Charakter dafür hat. Außerdem werden die Menschen nicht zulassen, dass ein neuer Elbasy auftaucht, denn sie haben gesehen, was er bewirken könnte.
Vor ein paar Jahren sagten viele, dass es in Kasachstan unter dem amtierenden Präsidenten einen friedlichen Machtwechsel gab. Die jüngsten Ereignisse zeigen jedoch, dass ein solcher Transit nicht nachhaltig ist. Werden andere Autokraten länger an der Macht festhalten? Welche Schlussfolgerungen werden sie ziehen?
Ich fürchte, da habe ich eine pessimistische Sichtweise. Wie viele Autokraten wurden bereits gestürzt und sogar getötet? Und wie oft haben wir erlebt, dass sie nicht die richtigen Schlussfolgerungen ziehen? Ich vermute, dass andere Autokraten die Situation in Kasachstan beobachten und wahrscheinlich denken, dass sie ihre Macht nicht schwächen sollten. Sie werden einfach beschließen, dass dies ein guter Vorwand ist, um die Schrauben fester anzuziehen, denn wenn man sie schwächt, wird es nur noch schlimmer. Meiner Meinung nach ist die vernünftige Schlussfolgerung, dass 30 Jahre Autokratenherrschaft Kasachstan in eine Sackgasse geführt haben, die in ein Blutbad gemündet ist.
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Meiner Meinung nach wird Kasachstan erst dann Fortschritte machen können, wenn die Ereignisse vom Januar nicht gerecht aufgearbeitet werden. Ich finde es absolut empörend, dass die Regierung es fünf Monate später noch immer nicht für nötig gehalten hat, eine Liste der Todesopfer zu veröffentlichen. Dies scheint mir eine inakzeptable Haltung gegenüber der eigenen Bevölkerung zu sein. Den Familien der Opfer wurde nicht nur die Gerechtigkeit verweigert, es hat auch niemand für nötig befunden, mit ihnen zu sprechen und ihnen zu erklären, was passiert.
Ich finde es empörend, dass sich die Menschen in einem Rechtsvakuum befinden und dass einige derjenigen, die wegen ihrer Beteiligung an den Unruhen und Plünderungen angeklagt wurden, noch immer keinen fairen Prozess erhalten haben. Und es beunruhigt mich, dass in einem Land, in dem Karaoke-Bars uneingeschränkt arbeiten, Gerichtsverhandlungen auf Zoom und nicht im traditionellen Format stattfinden. Es ist äußerst besorgniserregend, dass nach solch zahlreichen Foltervorwürfen so wenig Verhaftungen vorgenommen und so viele Fälle abgewiesen wurden. Ich denke, wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass Toqaev mehr darüber nachdenken muss, wie er die Strafverfolgung, das Strafvollzugssystem, die Justiz und das politische System reformieren kann.
Kasachstan wird ohne eine offene, umfassende Untersuchung der Ereignisse vom Januar nicht in der Lage sein, echte Fortschritte zu erzielen. Meiner Meinung nach sollten internationale Experten in den Prozess einbezogen werden, um objektive Ergebnisse zu erzielen. Wenn die Behörden nichts zu verbergen haben, sollen sie ermitteln und allen Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren lassen: Verdächtigen, Angehörigen der Opfer und den Opfern selbst.
Mit Joanna Lillis sprach Elnur Álimova Radio Azattyq
Aus dem Russischen von Florian Coppenrath
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