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Urgut – mehr als nur Basar

EIN ORT IN ZENTRALASIEN. Die Stadt Urgut im Südosten Usbekistans wird vor Ort vor allem als Basar wahrgenommen. Unsere Autorin ist dorthin gereist, um hinter die Kulissen zu schauen. „Man braucht hier nicht viel für ein glückliches Leben, wir haben schon alles: die Möglichkeit zu beten, lecker zu essen und unsere Kinder hier bei uns zu haben“, erzählt die 40-jährige Zarina (Name geändert) aus Urgut. So heißt eine farbprächtige und vergeistigte Stadt, die aus mehreren Bergdörfern besteht und am Fuße der Zarafshon-Kette liegt.

Amina 

Urgut
Urgut

EIN ORT IN ZENTRALASIEN. Die Stadt Urgut im Südosten Usbekistans wird vor Ort vor allem als Basar wahrgenommen. Unsere Autorin ist dorthin gereist, um hinter die Kulissen zu schauen. „Man braucht hier nicht viel für ein glückliches Leben, wir haben schon alles: die Möglichkeit zu beten, lecker zu essen und unsere Kinder hier bei uns zu haben“, erzählt die 40-jährige Zarina (Name geändert) aus Urgut. So heißt eine farbprächtige und vergeistigte Stadt, die aus mehreren Bergdörfern besteht und am Fuße der Zarafshon-Kette liegt.

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Bei uns in Samarkand hört man sehr oft von Urgut als einem großen Basar und kaum von der Stadt selbst. Samarkander:innen fahren regelmäßig frühmorgens dorthin, um schon früh die günstigen Waren auf dem Basar zu erwerben. Mein Besuch hatte jedoch ein anderes Ziel: Ich wollte die Stadt entdecken und die Bewohner:innen näher kennenlernen. Die Stadt ist die Heimat von 35.000 Urgutliklar, einer tadschikischsprachigen Untergruppe der Usbeken.

Mythischer Platanenhain

Der Fahrer der Marschrutka (Sammeltaxi) fährt mich direkt zum großen Tor, das zum Platanenhain „Chor-Chinor“ (persisch: „vier Platanen“) mit seinen Moscheen führt. Dahinter beginnt eine lange Allee, umringt von nach oben strebenden Platanen. In einer Kuhle im Stamm einer Platane wurde ehemals unterrichtet: Etwa 6-7 Schüler und der Lehrer passten dort hinein. Heutzutage stehen in dem ungewöhnlichen Raum ein kleiner Holztisch und eine Bank, wie sie in Teehäusern stehen. Ältere Leute trinken hier stets Tee, auch wenn es draußen sehr heiß ist. Oberhalb der Allee speist eine Wasserquelle einen Teich. Besonders ist die Quelle, weil das Wasser aus der Mitte eines Steins fließt, der einem Mühlrad ähnelt. Laut Dilorom Saloxiy, Dozentin der Philologie an der Staatlichen Universität Samarkand, besagt eine Legende, dass ein Volksheld aus Urgut den Stein hierhin auf seinen Schultern getragen und das Loch dabei mit seinem Kopf geschaffen hätte. Der über dem Wasser geneigte alte Ast eines Baums und kleine herumfliegende Schmetterlinge schaffen eine magische Atmosphäre rund um den Tümpel. Einheimische erzählen, das Wasser habe heilende Eigenschaften, deswegen trinken sie jeden Morgen ein Glas davon, um weiter gesund zu bleiben.

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Verglichen mit dem schnellen und chaotischen Rhythmus von Samarkand herrscht hier eine unglaubliche Sanftheit und Stille. Chor-Chinor strahlt in all seinen Ecken Kraft aus. Das ist einer der Gründe, warum der Ort bei Pilger:innen und auch einfachen Gläubigen beliebt ist. Man kommt hierher, um über das Leben nachzudenken, einen Schritt zurückzutreten und zu beten. Mitten in dem Hain der Platanen befindet sich eine Moschee aus dem 20. Jahrhundert, die früher als eine Medrese (eine religiöse Schule) galt. Hier haben junge Muslime aus der ganzen Region Samarkand Grundlagen des Islam studiert. In dem Artikel „Samarkand-Urgut“ schreibt Anvar Xojiniyazov, die Medresse wurde mit der Zeit als Waisenhaus, Altenheim und auch als Gaststätte genutzt.

Zu Gast bei Zarina

Urgut ist besonders bekannt für seine interessante Struktur: Es scheint weniger wie eine Stadt als wie eine Gruppe von Dörfern entlang gurgelnder Bäche. Nach einer langen Wanderung entlang des „Chor Chinor“ erreiche ich den oberen Teil Urguts und die Bergdörfer: enge Straßen, auf denen Kinder mit einem unbeschwerten Lächeln Fußball spielen, Frauen in traditioneller Kleidung, die tagsüber mit dem Haushalt beschäftigt sind, und Männer, die vor dem Hintergrund endloser Felder und Berge Gartenarbeit machen. Lest auch auf Novastan: Chor Minor in Buchara – Medrese aus dem 19. Jahrhundert Während ich durch die Straßen dieses Dorfes gehe, lädt mich eine Frau mit einer Handbewegung in ihr Haus ein. Ich bin überrascht, denn in Samarkand kommt es sehr selten vor, dass jemand Fremde von der Straße zu sich nach Hause einlädt. So lerne ich Zarina kennen. Bei einer Tasse duftendem Tee erzählt sie mir ihre Lebensgeschichte und berichtet von ihren Problemen. Der Tisch ist mit einer Fülle von usbekischen Süßigkeiten, Früchten und Brotsorten gefüllt, die ihre 19-jährige Schwiegertochter Zulayho (Name geändert) brachte. Oft heiraten die Frauen in Urgut im Alter von 18-19 Jahren, die Männer einige Jahre später. Nach Ansicht der Einheimischen sollten die jungen Männer, die nicht heiraten wollen, an einer Universität studieren. Da es in Urgut keine Universitäten gibt, ziehen sie meist nach Samarkand, ca. 40 km von ihrem Wohnort entfernt.

Urgut

In Zarinas Dorf Gus leben die Menschen auf sehr bescheidene Weise. Sie beschreibt ihren Alltag wie folgt: vor dem Sonnenaufgang aufstehen, beten, das Frühstück für die Familie vorbereiten, Brot in den Tandir (usbekischer Backofen) stellen, Haustiere füttern, auf dem Basar einkaufen gehen, das Mittag- und Abendessen zubereiten, Wäsche waschen und parallel auf die kleinen Kinder aufpassen, damit sie nicht auf die hohen Berge klettern. Aber auch die kleinen Kinder scheinen erwachsen genug zu sein, um beim Haushalt mitzuhelfen und sich umeinander zu kümmern. „Seit den Zeiten der Sowjetunion baut man in Urgut Tabak an und exportiert ihn. Noch vor den 2000er Jahren exportierte Urgut minderwertiges Opium und Haschisch. Urgut ist überbevölkert, das Land ist knapp, das Wasser wird noch knapper. Sie tun also, was sie können. Die sozialen und finanziellen Ungleichheiten in der Bevölkerung sind sehr stark“, beschreibt Dmitrij Kostjuschkin, ein Fremdenführer aus Samarkand, die aktuelle Lage in der Stadt. Auch Zarina beschwert sich über ihr Leben und Einkommen. Sie und ihr Mann verdienen Geld mit dem Verkauf von Obst und Gemüse auf dem Markt, aber es reicht nicht aus, um ihre Familie zu ernähren. Zarina möchte gerne, dass ihr Mann ins Ausland geht, um dort zu arbeiten, er ist aber vehement dagegen.

Usbekistans größter Basar

Tatsächlich haben viele der Urgutlik die Stadt verlassen, um im Ausland nach Arbeit zu suchen. „Wegen der Armut“, so erklärte mir der Fahrer, „gehen die Urgutlik in die ganze Welt, um Geld zu verdienen. Meist nicht nach Russland, sondern in die Türkei, nach Korea und nach Amerika, was schwieriger ist, aber mehr Geld bringt.“ „Und sie bringen von dort viele, viele Dinge mit, kaufen sie in großen Mengen und verkaufen sie weiter. Deshalb ist Urgut in ganz Usbekistan für seinen Basar berühmt, den billigsten der großen Basare“, schreibt der Journalist Ilja Bujanowskij in seiner Reportage auf der russischen Blogging-Plattform Livejournal.

Basar in Urgut

Nach dem Treffen mit Zarina mache ich mich auf dem Weg zum Basar. Die ganze Zeit werde ich von den Gerüchen von frisch gebackenem Brot, Plov und Kebab begleitet. Lokale Geschäfte mit usbekischen Süßigkeiten und kleine Märkte mit frischem Obst und Gemüse, in denen flinke und gesellige Verkäufer arbeiten, prägen das rhythmische Leben auf dem Markt. Auch kleinere Läden mit antikem usbekischen Geschirr, Schmuck und orientalisch gemusterten Stoffen ziehen alle Blicke der Kunden auf sich.Auf dem Markt treffe ich noch Zarinas Mann am Obst- und Gemüseladen. Er kennt mich schon irgendwie, obwohl wir uns persönlich nie gesehen haben. Er erzählt mir, dass er gelegentlich etwas als Taxifahrer dazuverdient, wenn „das Geschäft nicht so gut läuft“, um am Ende des Tages zu Hause nicht mit leeren Händen zu erscheinen. Zu guter Letzt essen wir richtigen und fetten Urgut-Plov in einem Lokal, in dem außer mir nur Männer sind. Zarinas Mann überredet mich, zu ihrem Haus zurückzukehren, um mich noch einmal von den Kindern und Zarina zu verabschieden. Zarina umarmt mich ganz fest und klopft mir auf den Rücken. Ich verspreche ihr, sie bald wieder zu besuchen.

Amina AkhrorkulovaEin Ort in Zentralasien“ ist eine Sammlung von Artikeln über symbolträchtige oder unentdeckte Orte in Zentralasien. Zur Übersicht geht es hier. Möchtest du mitmachen? Dann schicke uns deinen Vorschlag an redaktion@novastan.org.

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