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Der Ural – ein Fluss verschwindet

FLUSSGESCHICHTEN. Mehr als vier Millionen Menschen in Kasachstan und Russland leben im Becken des Urals und können beobachten, wie der Fluss immer seichter wird. Als Hauptursache benennen WissenschaftlerInnen den Menschen. Ist das Schicksal des Urals noch zu retten? Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Vlast. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

FLUSSGESCHICHTEN. Mehr als vier Millionen Menschen in Kasachstan und Russland leben im Becken des Urals und können beobachten, wie der Fluss immer seichter wird. Als Hauptursache benennen WissenschaftlerInnen den Menschen. Ist das Schicksal des Urals noch zu retten? Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Vlast. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Alexander Tschibiljow (rus) aus Orenburg ist ein einer der anerkanntesten Wissenschaftler und weiß alles über die Ökologie des Urals. Oder fast alles. Seit den 80er Jahren erforscht er den Zustand des Flusses und ist Autor vieler dem Ural gewidmeter, wissenschaftlicher Arbeiten. Dennoch antwortet Tschibiljow auf solche Komplimente: „Wenn ich gefragt werde, was zu tun ist, weiß ich eher, was nicht zu tun ist, da ich frühere Fehler analysieren kann.“

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Und Fehler gab es laut dem Akademiker einige: Da wäre die Urbarmachung von ertragsarmen Böden, die jetzt das gesamte Becken des Urals schädigt. Da wäre der Iriklinsker Stausee, der rund 100 Kilometer nördlich der russisch-kasachstanischen Grenze für ein Wasserkraftwerk angelegt wurde. Und da war der Bau von Industriebetrieben, die sogar nach ihrer Schließung weiterhin die Gewässer vergiften.

„Niemand hat die möglichen Schäden dieser Eingriffe berechnet. Die Schadstoffe, die in die Gewässer gelangt sind, haben sich in den Sedimenten angesammelt, und wir wissen nicht, wie viele es sind. Dieses Vermächtnis ist eine Zeitbombe. Jetzt ernten wir die Früchte des menschlichen Handelns im 20. Jahrhundert. Und der ökologische Schaden wird von Jahr zu Jahr größer“, meint Alexander Tschibiljow.

Alexander Tschibiljow

Es gibt nur vorläufige, sehr ungenaue Berechnungen über das Ausmaß der industriellen Verschmutzung am Ural. 2017 veröffentlichte eine Gruppe kasachstanischer und russischer Wissenschaftler – A. Keńshimonov und M. Shortanbaev sowie J. Nesterenko und S. Lewykin – um Herausgeber S. Achmetow einen Sonderbericht mit vorläufigen Forschungsergebnissen.

In diesem Bericht heißt es: „Im Becken des Urals haben sich 20 Milliarden Tonnen (!) Industrieabfälle angesammelt. Die angegebene Menge umfasst auch Abfälle aus Anreicherungsanlagen und Gestein aus Aufschlussarbeiten.“

Unter dem Becken des Urals ist dabei das gesamte Einzugsgebiets des Ural und seiner Nebenflüsse zu verstehen. Insgesamt münden in den Ural 58 Nebenflüsse, von denen die größten die Sakmara, der Ilek und der Tschagan sind. Seit dem Bau des Iriklinsker Stausee am Oberlauf des Urals stammen 80 Prozent seines Wassers aus der Sakmara.

Staudämme sind nicht das einzige Problem

„Im Allgemeinen dient der Betrieb von Wasserreservoirs nicht dem Ziel, das Ökosystem des Flusses zu erhalten. Viele Reservoirs, die im oberen und mittleren Teil des Beckens gebaut werden, werden ineffizient genutzt. Sie müssen überprüft werden“, meint Alexander Tschibiljow.

Doch beeinflussen Dämme und Stauseen wirklich den Rückgang des Wasserspiegels im Fluss? Derzeit sind es vor allem Stauseen im Flussbett des Urals und seiner Nebenflüsse, die als einer der Gründe für die Austrocknung des Flusses ausgemacht werden. Nach Angaben Tschibiljows beobachtet man seit den 70er Jahren den sinkenden Ural-Pegel – genau seit jener Zeit, als mit dem Bau von Wasserkraftwerken und großen Stauseen im Oberlauf des Urals begonnen wurde. Heute gibt es neben dem Iriklinsker im Ural-Becken zwölf große Stauseen, von denen jeder ein Volumen von mindestens zehn Millionen Kubikmeter Wasser umfasst.

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„Die bilaterale Kommission für Probleme an grenzüberschreitenden Flüssen hat die Erhaltung des Flusses zum Ziel erklärt. Aber wie will man ihn erhalten, wenn wir in Baschkirien Stauseen bauen, wo sich die Abflussmenge generiert? Die Wolga existiert nicht mehr, stattdessen eine Kaskade von Stauseen. Der obere Abschnitt des Ural ist zu einem Drittel reguliert. Viele Jahre lang hatte der Ural gegenüber allen nach Süden fließenden Flüssen der europäischen Ebene (Don, Dnjepr, Dnjestr, Wolga) den Vorteil, dass es im unteren und mittleren Lauf keine Stauseen und Dämme gab“, erklärt Tschibiljow weiter.

Ein Vorschlag zur Rettung des Ural ist, Geld für die Vertiefung des Flussbettes zuzuweisen. WissenschaftlerInnen aber lehnen dies grundsätzlich ab, nennen die Flussbettvertiefung ein Abenteuer.

„Davon, dass wir das Flussbett vertiefen, wird sich die Menge des Wassers nicht ändern. Zur gleichen Zeit gibt es ein Problem mit der Verschmutzung des Flussbetts – Baumstämme verursachen Stauungen von Algen und Schlamm. Aber in der Natur, in der natürlichen Umgebung, gibt es viele Mechanismen, die funktionieren. Ein natürliches Frühlingshochwasser spült zum Beispiel Stauungen durch umgestürzte Bäume weg und verwischt Sandinseln und Überläufe. Eine große Anzahl von Blaualgen, deren Auftreten wir Menschen negativ wahrnehmen, reinigt das Wasser tatsächlich gut von industriellen Verunreinigungen“, sagt Serik Hairov, Leiter des wissenschaftlichen und technischen Labors für Wasserressourcen im Ural-Kaspischen Becken.

Global denken, lokal handeln

Galidolla Asidullin, Leiter der Ural-Kaspischen Wasserinspektion, ist ebenfalls skeptisch gegenüber der Idee, das Flussbett künstlich zu säubern. Seiner Meinung nach sei dies unglaublich teuer und sinnlos.

„In der Tat ist es notwendig, die Kanäle und Nebenflüsse, die in den Ural fließen, zu säubern. Wir haben den Ural-Kuschum-Kanal untersucht und das Gesehene ist sehr deprimierend, da zahlreiche Staudämme und Stauseen den Wasserfluss praktisch gestoppt haben. Infolgedessen wächst das Kanalbett mit Schilf und Algen zu. Es fließt kein Wasser ab. Das gleiche geschieht mit Betten kleinerer Flüsse im Ural-Becken – Barbastau, Derkul, Großer und Kleiner Usen. Das heißt, die Hälfte dieser kleinen Flüsse bringt ihr Wasser nicht mehr in den Ural. Kein Wunder, dass der Ural-Pegel fällt“, erklärt Asidullin.

Galidolla Asidullin

Alexander Tschibiljow hält es für falsch, die Austrocknung des Ural ausschließlich mit den Wasserreservoirs zu verbinden. Langjährige Beobachtungen zeigten, dass es vor dem Bau des Stausees auch Jahre mit viel und wenig Wasser gab. Diese Perioden erfolgten in Zyklen und ständen in enger Beziehung zum Klimawandel, so der Forscher.

Ein weiterer Klimafaktor beeinflusst den Ural in einem globaleren Sinne: das Schmelzen der Polarkappen. Nach Ansicht mehrerer WissenschaftlerInnen kühlten Eisberge, die von Polargletschern abfallen, die warmen Meeresströmungen im Nordatlantik ab, die wiederum das Wetter bis nach Eurasien beeinflussen. Alexander Tschibiljow weist auch darauf hin, dass der globale Klimawandel alle Flüsse in der Mitte Eurasiens beeinflusst.

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„Es muss anerkannt werden, dass die wahren Ursachen und das Ausmaß des globalen Klimawandels trotz zahlreicher Daten und Prognosen schlecht untersucht sind. Eines ist sicher, dass diese Veränderungen in der mittleren Region Eurasiens, wo sich das Becken des Flusses Ural befindet, besonders empfindlich ist. Der Don, der Kuban, der Terek, die Wolga und der Ural leiden unter Niedrigwasser. Und im Altai und östlich davon, einschließlich dem Amur-Becken, gibt es katastrophale Überschwemmungen. Die klimatischen Veränderungen sind nicht ausreichend untersucht, auch weil der Großteil der Oberfläche unseres Planeten vom Ozean mit seinen Strömungen eingenommen wird, welcher viel weniger erforscht ist als das besiedelte Land“, meint Tschibiljow.

Der Ural wird leergetrunken

Die Entwicklung am Ural erregen auch deshalb Aufmerksamkeit, weil sie mit bloßem Auge sichtbar sind. Laut Statistik leben über die gesamte Länge des Urals – von den Ausläufern des Uralgebirges in Baschkirien bis zu seiner Mündung ins Kaspische Meer – rund 4,2 Millionen Menschen. Sie sehen nicht nur, was mit dem Fluss passiert, sondern sind auch der Hauptgrund für die auftretenden Veränderungen. Sie nutzen den Fluss und verbrauchen Wasser. Offizielle Dokumente benennen Wasserverbrauch und Wassernutzung als stärksten Einfluss des Menschen auf den Ural.

Auch hinsichtlich des industriellen Wasserverbrauchs aus dem Ural steht es nicht besser. Industrieanlagen, die Wasser aus dem Ural entnehmen, lassen verschmutztes Wasser zurück in den Fluss fließen. „Deshalb müssen wir heute die Wassernutzung den kleinen Ressourcen anpassen, großen Wasserverbrauch vermeiden und uns in Zukunft auf Perioden mit äußerst wenig Wasser einstellen“, meint Alexander Tschibiljow.

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Er weist auch darauf hin, dass solche extremen Niedrigwasserperioden sowohl in den 20er Jahren als auch 1954-55 beobachtet wurden. 1942 und 1957 verließ der Ural hingegen seine Ufer und zerstörte sogar mit seiner Strömung Eisenbahnbrücken.

„Das Einzige, wovon ich (trotz des allgemeinen Trends) überzeugt bin, ist, dass es auch noch Jahre mit viel Wasser geben und Uralsk [die Stadt Oral in Kasachstan – Anm. d. Red.] wieder überflutet wird. Und es wird eine Abkühlung geben. Die Natur auf dem Planeten verändert sich ständig. Deshalb spreche ich immer wieder von notwendiger, wissenschaftlicher Begleitung, langen und regelmäßigen Forschungen über das Wiederaufleben des Flusses mit Hilfe der Grundlagenwissenschaft“, fasst Alexander Tschibiljow zusammen.

Vorbild vom Rhein: „Stör 2050“ am Ural?

Der Ural wurde bis vor nicht allzu langer Zeit als weltweit wichtigster Lieferant von Stör und schwarzem Kaviar angesehen. In den 1970er Jahren machte der schwarze Kaviar aus dem Ural 40 Prozent der Gesamtmenge auf dem Weltmarkt aus. In den 90er Jahren meldeten WissenschaftlerInnen bereits, dass die Zahl der Störe im Fluss seit den 70ern um das 40-fache zurückgegangen sei. Oberhalb von Atyraý gebe es heute überhaupt keine Störe mehr.

Alexander Tschibiljow hatte in den 70er Jahren einen Atlas der Stör-Laichplätze im Ural erstellt. Heute räumt er ein, dass dieser Atlas hoffnungslos veraltet ist. Dennoch schlägt er vor, die Rückkehr des Störs als ein klares Kriterium für die Wiederherstellung des Ökosystems Ural zu betrachten.

„Die Wiederherstellung der Stör-Population ist eher ein Orientierungspunkt, vielleicht sogar ein utopisches Ziel. Aber die Anwesenheit des Störs im Fluss ist ein Indikator für dessen ökologischen Zustand. Wenn es im Fluss eine beträchtliche Anzahl von Stören gibt, dann heißt das, dass der Fluss sich erholt. Wie zum Beispiel der Rhein, der in den 1960er Jahren der am meisten verschmutzte Fluss Europas war. Es wurde das Programm ‚Lachs-2000‘ gestartet und der Lachs kehrte zurück, wenn auch nicht in gewerblichem Ausmaß“, meint Alexander Tschibiljow.

Der Wissenschaftler schlägt Behörden in Russland und Kasachstan konkrete Schritte zur Rettung des Ural vor: „Ja, beide Staaten geben riesige Summen für die Wiederherstellung des Ural aus. Aber es genügt ein kurzer Überblick über die Ausgaben, um zu verstehen, dass dieses Geld keine Wirkung haben. Wir haben viel Geld für Konferenzen, Runde Tische und Foren, aber sehr wenig für konkrete Handlungen ausgegeben. Meiner Meinung nach muss das Potenzial der Behörden darauf gerichtet werden, dem Ural einen besonderen Status zu verleihen“, so Tschibiljow weiter.

„Der Ural und seine Nebenflüsse tragen eine einzigartige biologische und landschaftlichen Vielfalt. Sie sind Wasser- und Freizeitressourcen und auf dem Abschnitt von Uralsk bis ans Kaspische Meer sind sie fast die einzige Quelle des Lebens. Wir brauchen den besonderen Status eines Naturschutzgebiets. Zumindest für einig Abschnitte der Flüsse: die Ursprünge des Oberlaufes mit einer Fülle von Quellen, die Schluchten mit ihren Bergflüssen und die Täler mit reichlich Auenwäldern und Seen – Lebensräume seltener Arten, Laichplätze wertvoller Fischarten und so weiter.“

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„In einigen Ländern gibt es die Kategorie besonders geschützter Flüsse. In der Sowjetzeit hatte der Abschnitt des Urals von der Mündung des Barbastau bis zum Kaspischen Meer den Status einer ‚Schutzzone‘. In den 1980er Jahren hatten wir die Verlängerung dieser Schutzzone bis zur Mündung des Ilek geplant. An einem besonderen Status unseres Flusses muss auch die russisch-kasachstanische Kommission arbeiten, warum ist sie sonst geschaffen worden?“, schließt Tschibiljow.

Weitere Bilder gibt es im Originalartikel zu sehen.

Das Projekt „Developing Journalism – Exposing Climate Change“ zielt auf die Identifizierung und Lösung von Problemen des fortschreitenden Klimawandel durch die Entwicklung und Stärkung unabhängiger Medien in Zentralasien. ExpertInnen des Zentrums für Medien-Entwicklung (Kirgistan) sowie der Redaktionen von Anhor.uz (Usbekistan), Asia-Plus (Tadschikistan) und Vlast (Kasachstan) leisten Unterstützung als MentorInnen. Das Projekt wurde von n-ost (Deutschland) und dem Internationalen Zentrum für Journalismus MediaNet (Kasachstan) mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) umgesetzt.

Lukpan Ahmedıadov und Raul Uporov für Vlast

Aus dem Russischen von Robin Roth

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