Startseite      Die Verhaftung der Dichterin Schimengul Awut, Zeichen des besiegelten Schicksals der uigurischen Identität

Die Verhaftung der Dichterin Schimengul Awut, Zeichen des besiegelten Schicksals der uigurischen Identität

Schimengul Awut wird der Beteiligung am Lektorat des regierungskritischen Werkes „Der goldene Filzschuh“ bezichtigt. Bei seiner Veröffentlichung 2016 wurde das Buch jedoch von der Zensurbehörde zugelassen. Novastan übersetzt mit freundlicher Genhemigung einen Beitrag der Herausgeberin der französisch-uigurischen Zeitschrift Regard sur les Ouïghour-e-s.

Schimengul Awut
Schimengul Awut

Schimengul Awut wird der Beteiligung am Lektorat des regierungskritischen Werkes „Der goldene Filzschuh“ bezichtigt. Bei seiner Veröffentlichung 2016 wurde das Buch jedoch von der Zensurbehörde zugelassen. Novastan übersetzt mit freundlicher Genhemigung einen Beitrag der Herausgeberin der französisch-uigurischen Zeitschrift Regard sur les Ouïghour-e-s.

Anfang letzten Novembers verbreitete sich auf Facebook eine beunruhigende Nachricht über die Dichterin Schimengul Awut. So solle die uigurische Autorin in einem chinesischen Umerziehungslager inhaftiert gewesen und dort ums Leben gekommen sein. Ein Bericht des Service in uigurischer Sprache des Senders Radio Free Asia (RFA) konnte das Gerücht schnell widerlegen.

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Schimengul Awut lebt, ist aber tatsächlich  in einem Haftzentrum in Kaschgar im Südwesten der uigurischen Region inhaftiert, zusammen mit 13 ihrer Kollegen des Uigurischen Verlagshauses Kaschgar. Dieses zählt 49 Mitarbeiter, darunter vier Chinesen. Von den 45 uigurischen Mitarbeitern wurden also 14 Personen, darunter fünf Frauen, im Rahmen der 2017 ins Leben gerufenen Kampagne für den „Kampf gegen bedenkliche Publikationen“ verhaftet. Diese Kampagne zielt auf die Zerstörung von Veröffentlichungen über die uigurische Identität und Geschichte, aber auch jene mit religiösem Inhalt, ab.

Chinesische Umerziehungslager haben immer mehr Intellektuelle zum Ziel

Die Verhaftungen der uigurischen Intellektuellen finden statt,  seit 2016 die chinesischen Behörden „Umerziehungslager“ einrichten. Diese dienen offiziell dem Kampf gegen die Islamisierung der Uiguren, also jenes historischen Volkes im Nordwesten Chinas. Mehr als ein Jahr lang hat Peking versucht, die Existenz dieser Lager für Uiguren und weitere turkischsprachige und muslimische Minderheiten (unter anderem Kasachen und Kirgisen) zu leugnen, ehe es schließlich deren Bestehen zugab.

Andere unabhängige Stimmen sprechen von einem laufenden kulturellen Genozid in der Region. „Es handelt sich um einen Genozid einer neuen Art, der sich vor unseren Augen abspielt“, beteuert die französische Forscherin Marie-Françoise Courel. Im Fokus stehen Intellektuelle, Geschäftsleute, Absolventen ausländischer Universitäten und renommierte Künstler. Die chinesischen Behörden fürchten sich vor diesen Anführern der uigurischen Gesellschaft und wollen sie verschwinden lassen, um letztendlich die uigurische Zivilisation durch die der Chinesen zu ersetzen.

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Der vermeintlich extrimistische Glaube mancher Uiguren dient hier als Scheingrund dieses Projekts eines Ethnozids in einer internationalen islamfeindlichen Gesamtlage und sichert sich gleichzeitig das Stillschweigen der muslimischen Länder. Das tragische Los der uigurischen Intellektuellen spiegelt die ungewisse Zukunft der uigurischen Kultur und Identität unter dem chinesischen Totalitarismus wider, der von Michel Bonnin als „faschistisch geprägt“ beschrieben wurde.

Schimengul Awut, ein aufsteigender Stern

Die Verhaftung der uigurischen Dichterin markiert jedoch eine Zäsur in der chinesische Repression. 1973 in Kaschgar geboren, gilt Schimengul Awut als aufsteigender Stern der modernen uigurische Dichtkunst. 2004 wurde sie beim ersten Kolloquium für weibliche Literatur in Xinjiang als eine der zehn größten Autorinnen anerkannt. Zur selben Zeit wurde ihr Gedichtband „Der Weg ohne Rückkehr“ mit dem Literarturpreis Tulpar ausgezeichnet. Dieser Preis wird als eine der höchsten Auszeichnung für uigurische Literatur angesehen. Ihre Weke werden in China, aber auch in allen turksprachigen Länder Zentralasiens publiziert.

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Heldinnen der uigurischen Geschicht und die Tapferkeit der Frauen zählen zu Schimengul Awuts Lieblingsthemen. Wie viele Frauen in Xinjiang erzog sie ihren Sohn alleine und war auf dessen glanzvolle Erfolge sehr stolz. Ende 2016 wurden erste Anzeichen des aktuellen Systems des chinesischen Staatsterrorismus unter den uigurischen Intellektuellen wie für alle anderen ihrer akademischen Freunde spürbar. So entschuldigte sie sich bei ihren Freunden im Ausland mit der Bitte, sich von ihrem Schweigen im chinesischen Sozialen Netzwerk Wechat nicht gekränkt zu fühlen. Ihr letzter Post auf ihrem Wechat-Wall am letzten 17. Juli war ihrem noch jugendlichen Sohn gewidmet:

Mein Lamm, Meine Liebe,

Weine nicht,

Die Welt wird für dich weinen!

Ein Roman im Zentrum der Geschehnisse

RFA konnte einen Polizisten telefonisch befragen. Dieser sagte, die Dichterin sei wegen ihres Mitwirkens am Lektorat des Romans „Der goldene Filzschuh“ (Uig. Altun Kesh) der Schriftstellerin Xalide Israel verhaftet worden. Der Roman, einer der beliebtesten Romane des Jahres 2016 bei den uigurischen Lesern, wurde vom Uigurischen Verlag Kaschgar veröffentlicht. Er schildert die Tragödien einer Generation uigurischer Künstler, welche während der chinesischen Kulturrevolution (1966-1976) bestraft und gefoltert wurden, weil sie ein Theaterstück mit dem Titel „Der goldene Filzschuh“ aufgeführt hatten. Der Roman endet mit dem Traum der uigurischen Künstler und Intellektuellen, das Stück erneut spielen zu können.

Der Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Diaspora-Uigure Abduweli Ayup hatte in seiner Rezension des Werkes erklärt, der Roman drücke den Wunsch einer Generation von Uiguren aus, eine uigurische Wiedergeburt ohne Zensur und Staatsformatierung zu erleben. Xalide Israel wurde inzwischen ebenso verhaftet.

Publikationen werden durch Peking besonders streng beobachtet

Die Botschaften, die „Der goldene Filzschuh“ säumen, scheinen Pekings Ärger auf sich gezogen zu haben. Und dies, obwohl das Buch vor seiner Veröffentlichung überprüft und abgesegnet wurde. In einem totalitären Regime wie China darf es in der Tat nur eine Art Medien und Verlagshäuser geben: staatliche. Das Land lässt keine privaten Fernsehsender oder Veröffentlichungen zu. Es handelt sich hier um eine hochsensible und ernste Angelegenheit, insbesondere in den Regionen der Peripherie, die mehrheitlich nicht von Han-Chinesen, der Mehrheitsethnie Chinas, bevölkert sind – wie Xinjiang oder Tibet.

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So wird jede Publikation vor ihrer Veröffentlichung durch die jeweilige regionale Propaganda-Abteilung überprüft, durchgesehen und gegebenenfalls für zulässig erklärt. Alle Veröffentlichungen sind bis heute ungeachtet ihres Genres noch vor ihrer Veröffentlichung durch diese Prüfschritte gegangen. Die Bezeichnung dieser Publikationen als „bedenklich“, nachdem sie die zahlreichen Überprüfungsschritte des Staates bestanden haben, bekräftigt den Eindruck, dahinter stehe allein die Absicht, die Existenz selbst der uigurischen Identität auszuradieren.

Internationale Akademiker organisieren sich

Neben Schimengul Awut und ihren Kollegen wurde etliche andere Intellektuelle und Akademiker verhaftet, die die Université Libre de Bruxelles, Scholars at Risk und Concerned Scholars of Xinjiang in einer keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Liste zusammengestellt haben, welche das reale Motiv der Repressionskampagne Chinas zeigt. Die chinesische Unterdrückungskampagne scheint sich dem Model der NS-Regimes anzulehnen, indem Konzentrationslager errichtet werden und alle bedeutsame Intellektuelle eines bestimmten Volkes ins Visier geraten. Diese Verhaftungen und Verurteilungen zur Todesstrafe oder zu lebenslanger Haft prominenter Wissenschaftler deuten deutlich darauf hin, dass der „Kampf gegen Extremismus“ ein perfekter Vorwand darstellt, ein breites Völkermord-System gegen die Uiguren zu rechtfertigen.

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Mitte November veröffentlichte die Université Libre de Bruelles (ULB) einen Appell und fordete alle europäischen Universitäten dazu auf, sich ihr anzuschließen, um uigurische Intellektuelle und Akademiker, die zum Ziel des chinesischen Regimes geworden sind, zu unterstützen. Bisher hatten westliche Akademiker u.a. Sinologen kollektive und individuelle Stellungnahmen veröffentlicht, in denen sie westliche Regierungen dazu auffordern, sich gegen chinesische Konzentrationslager einzusetzen. Schätzungen zufolge sind über eine Million Uiguren aber auch andere Turksprachige in solchen Lager inhaftiert, während weitere zwei Millionen in andersartige Inhaftierungslager weggesperrt sind.

Westliche Forscher sind besonders mobilisiert

Die Konferenz der Universitätspresidenten Frankreichs, sowie die École pratique des hautes études haben sich für die Freilassung von Tashpolat Tiyip, dem Präsidenten der Universität von Xinjiang und Ehrendoktor der Sorbonne ausgesprochen. Herr Tiyip wurde unter der Anklage ein „doppeltes Gesicht“ zu haben, das heißt trotz Mitgliedschaft in der kommunistische Partei Chinas seiner uigurischen Identität treu zu bleiben, zum Tode veurteilt. Zahlreiche andere prominente Intellektuelle und Universitätenspräsidente, wie z. B. Halmurat Ghopur (Ex-Präsident der medizinischen Universität Xinjiangs), Azat Sultan (Präsident der pädagogischen Universität Xinjiangs), Erkin Ömer (Präsident der Universität Kaschgar) wurden aufgrund derselben Anschuldigungen zum Tod oder zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Appell der ULB bleibt bisher ohne offizielle Reaktion durch andere Universitäten unbeantwortet. Trotzdem hat sich eine akademische Bewegung gebildet. Am 26. November 2018 haben Uigurologen aus unterschiedlichen Ländern eine Konferenz im National Press Club in Washington veranstaltet, die sich mit der Frage der Camps beschäftigt hat. Der Konferenz folgte am nächsten Tag ein Kolloquium an der George Washington University. Am selben Tag veröffentlichten die teilnehmenden Akademiker eine gemeinsame Erklärung, welche bis dato um die 600 Wissenschaftler aus 39 Ländern unterschrieben haben. In der Erklärung werden Regierungen dazu gerufen, Maßnahmen zu ergreifen, um China zu zwingen, die Konzentrationslager zu schließen und die dort inhaftierte turksprachige Bevölkerung zu befreien.

Dilnur Reyhan
Dozentin am Pariser Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO)
Herausgeberin der französisch-uigurischen  Zeitschrift Regard sur les Ouïghour-e-s

Aus dem Französischen von Arnaud Enderlin

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