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„Ohrenbetäubende Stille“: Doku-Film thematisiert erstmals LGBTI-Alltag in Tadschikistan

In Tadschikistan gibt es keine lesbischen, homo-, bi-, inter- queer oder transsexuellen Menschen? In dem dokumentarischen Kurzfilm „Ohrenbetäubende Stille“ schildern sechs Personen aus der LGBTI-Community Tadschikistans ihre realen Geschichten. Am 15. Juli berichtete darüber das usbekische Portal Fergana, wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

"Ohrenbetäubende Stille" - Screenshot aus dem Doku-Film

In Tadschikistan gibt es keine lesbischen, homo-, bi-, inter- queer oder transsexuellen Menschen? In dem dokumentarischen Kurzfilm „Ohrenbetäubende Stille“ schildern sechs Personen aus der LGBTI-Community Tadschikistans ihre realen Geschichten. Am 15. Juli berichtete darüber das usbekische Portal Fergana, wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Jeder und jede der sechs Protagonist*innen hat in dem Film „Ohrenbetäubende Stille“, russischer Originaltitel „Oglushitelnaya tishina“, drei Minuten, um Einzelheiten aus dem eigenen Leben in Tadschikistan zu erzählen- einem Land, in dem es offiziell keine LGBTI-Personen gibt. „Wir haben Angst zu sprechen, weil wir wissen, dass wir ein Tabuthema sind“, erklärt eine Stimme aus dem Off am Anfang der Kurz-Doku. „Nach der Aufnahme wurden einige unserer Protagonisten verfolgt, das Filmteam sah sich gezwungen, so lange im Ausland zu leben, bis sich die Situation beruhigt hatte.“ 

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Der Film „Ohrenbetäubende Stille“ ist im Jahr 2019 auf dem Gebiet der Republik Tadschikistan in nur zwei Wochen gedreht worden. Danach wurde das gesamte Material außer Landes gebracht, um im Ausland geschnitten und vertont zu werden. Die Autor*innen sind Aktivist*innen aus Tadschikistan und wurden vom Antidiskriminierungszentrum „Memorial“ unterstützt.

Wie die Untertitel erklären, werden aus Sicherheitsgründen die Gesichter der Protagonist*innen nicht gezeigt, ihre Namen und Stimmen wurden entfremdet. Die Erzählungen synchronisieren echte Menschen, ebenfalls aus der LGBTI-Community, die ähnliche Erfahrungen in Tadschikistan gemacht haben, sich mittlerweile aber in Staaten der Europäischen Union aufhalten. Sie mussten sich dorthin vor Verfolgung aufgrund ihrer Orientierung oder Identität retten. Nach Angaben des Portals „Spartacus“, das Reisen für schwule Menschen organisiert, gehört zu den Risiken, denen LGBTI-Menschen in Tadschikistan ausgesetzt sind, sogar Lebensgefahr. Im Jahr 2019 stufte Spartacus Tadschikistan in einem Länder-Rating für LGBTI auf Platz 110 von insgesamt 197 ein.

„Wenn Du nicht bis wie alle, ruft das Aggressionen hervor“

Die echten Protagonist*innen des Films leben in unterschiedlichen Regionen Tadschikistans. Sie erzählen ihre Geschichten jeweils an charakteristischen Orten. So berichtet zum Beispiel Husein, dass er bereits mit 13 Jahren verstand, dass ihm Männer gefallen. Schon damals habe er diese Wahrheit vor anderen zu verbergen versucht. Trotzdem machte er später Erfahrungen mit Diskriminierung wegen seiner Orientierung. „Meine Verwandten schämten sich für mich, wollten nichts mehr mit mir zu tun haben“, erzählt er im Film. „Man nahm mich fest und schlug mich. Ich kündigte immer wieder meinen Job, weil ich die Demütigungen durch Kollegen nicht mehr ertrug. Wenn Du nicht bist wie alle, ruft das Aggressionen hervor.“

Diese Aggressionen hat auch Nuriya kennengelernt. Sie ist lesbisch. Gegen ihren Willen wurde sie verheiratet. Als sie ihrem Ehemann eröffnete, dass sie auf Frauen steht, habe er ihr geantwortet, dass sie nun aber mit einem Mann leben müsse. „Lesben werden immer wieder zu einer Hochzeit mit einem Mann gezwungen“, erzählt Nuriya. „Wenn sie sich dem widersetzen, sagen ihnen die Eltern, sie seien im Innern nicht rein, dass sie mehr beten sollten und dann alles vorübergeht.“ Manchmal würden Lesben in Tadschikistan auch vergewaltigt, damit sie es mal „mit einem Mann probierten“ und sich dann von ihrer Orientierung lossagten. Das hinterlasse bei den Frauen oft schwere Traumata.

Versteckspiel hinter der traditionellen Ehe

Von Zwangshochzeiten erzählen auch weitere Protagonist*innen des Films: In Tadschikistan ist es üblich, in relativ jungen Jahren eine Familie zu gründen. Wenn der Junge oder das Mädchen sich dagegen wehrt, wirkt dieser Protest oft verdächtig. Viele LGBTI müssen einer heterosexuellen Heirat zustimmen, um ihre wahre Orientierung zu verstecken. „Die meisten Schwulen haben eine Familie, sie leben damit, bekommen Kinder“, erzählt im Film Vafo, der selbst homosexuell ist. „Aber es fällt ihnen schwer, die eigene Orientierung im Innern zu unterdrücken. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das nach einer Hochzeit beendet hätte: Sie leben mit ihren Frauen und treffen weiter ihre Geliebten.“

Neben Schwulen und Lesben erzählen aber auch Transsexuelle und HIV-Positive im Film ihre Geschichten. Letztere werden oft doppelt diskriminiert, wie Amir schildert: „Ich wurde geschlagen – für den Positiv-Status, und wegen Homophobie. Nur meine Mutter unterstützte mich, bis sie starb.“

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Alle Personen im Film erzählen von ihrer Angst vor einem Coming-out. In diesem Fall würden sich mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit sämtliche Verwandte und Nahestehende von ihnen lossagen, sie könnten keine Arbeit mehr finden. Obwohl der Straftatbestand der „Sodomie“ bereits vor mehr als 20 Jahren aus dem tadschikischen Strafgesetzbuch gestrichen wurde, bekommen LGBTI immer wieder Probleme mit der Polizei. Vafo kennt das: „Es gibt sehr viele Probleme mit den Sicherheitsbehörden: Sie nehmen über Soziale Netzwerke Kontakt [mit Schwulen] auf, dann erpressen sie Dich, machen Druck und drohen damit, es der Familie zu erzählen.“

Registrierung von LGBTI-Vereinen unmöglich

Eine der Stimmen, die den Film „Ohrenbetäubende Stille“ spricht, gehört seinem Autor und Aktivisten Islom Alizoda (Pseudonym). Bis 2015 lebte er selbst in Tadschikistan, aber als er und sein Partner von den Behörden verfolgt wurden, zwang ihn das zur Flucht nach Europa.

„Die Idee dieses Films trage ich schon fünf Jahre mit mir herum, sie entstand, nachdem ich selbst zum Geflüchteten wurde“, so Alizoda gegenüber dem Portal Fergana. „Damals erzählte ich Polizeibeamten davon, wie Schwule in Tadschikistan verfolgt werden. Sie fragten mich, ob es Beweise für meine Worte gebe, zum Beispiel in Online-Medien. Aber es gab nichts dazu. In Tadschikistan wird das Thema LGBTI so sehr tabuisiert, dass ungeachtet der schwierigen gesellschaftlichen Situation Journalisten fast nicht darüber berichten.“ 

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In dem neuen 60-seitigen Bericht des ADC Memorials „LGBTI+ in der Region Zentralasiens: Repressionen, Diskriminierung, Ausgrenzung“ (eng), der im Mai 2020 erschien, bestätigt, dass die Medien in Tadschikistan bis auf einige im Land tätige ausländische Nachrichtenagenturen das Thema LGBTI tatsächlich verschweigen.

"Ohrenbetäubende Stille" - Screenshot aus dem Dokufilm
„Ohrenbetäubende Stille“ – Screenshot aus dem Dokufilm

„Progressive Journalisten sprechen von fehlenden Medien, die ihre Artikel veröffentlichen würden, und von homophober Kritik, wenn sie solche Publikationen anbieten. Sie beklagen die unzureichende Verfügbarkeit von Informationen über SOGI (sexuelle Orientierung und Gender-Identität – Anm. Fergana) für das Verfassen korrekter Beiträge mit angemessener Terminologie“, heißt es in dem Bericht. „Außerdem gibt es in der Öffentlichkeit keine Experten, Menschenrechtler, Aktivisten und Aktivistinnen, die die Situation kommentieren oder von der wirklichen Lage von LGBTI erzählen könnten.“ In Tadschikistan gibt es keine einzige öffentliche LGBTI-Organisation oder Initiative, die direkt mit diesen Menschen arbeitet. Das verkompliziert das Problem weiter.

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„Die Registrierung einer Gruppe, die mit dem Thema LGBTI arbeitet, ist in Tadschikistan noch immer unmöglich, darum gilt die Verteidigung der Rechte von LGBTI noch immer als Verstoß gegen die öffentliche Moral. Dadurch arbeiten einige Initiativen ohne Registrierung, andere umgehen das Verbot, indem sie mit gemischten Themen arbeiten, zum Beispiel der Gesundheit.“

„Nachdem ich in Europa angekommen war, bin ich selbst auf Journalisten zugegangen, habe ihnen Themen für Artikel angeboten, Protagonisten in Tadschikistan gesucht und selbst Interviews gegeben“, erinnert sich Islom Alizoda. „Das alles tat ich, damit die Gesellschaft erfährt, dass es uns gibt und dass wir in Tadschikistan große Probleme haben. Damit Leute, die flüchten und Asyl im Ausland beantragen müssen, ihre Worte mithilfe von Medien-Publikationen belegen können.“

Klischees bestehen auch innerhalb der LGBTI-Community

Während Alizoda zwar einige journalistische Berichte initiieren konnte, gelang es ihm nicht, die Medien-Szene Tadschikistans für einen Film über LGBTI zu aktivieren. Die Produktion eines Kurzfilms zu dem Thema gestaltete sich bereits mühsam uns riskant. „Ich wollte diesen Film unbedingt in Tadschikistan drehen. Natürlich hätten wir die Aufnahmen auch in Europa machen können, denn hier gibt es genug schwule und lesbische Menschen aus Tadschikistan und ganz Zentralasien, die ihre Geschichten erzählen könnten“, erzählt Alizoda. „Aber uns war es wichtig zu zeigen, dass homosexuelle Menschen genau jetzt in Tadschikistan leben und dass es sie ausnahmslos in allen Regionen des Landes gibt. Für manche sind das offensichtliche Dinge, aber die Gesellschaft in unserem Land zieht es vor zu denken, dass es uns in Tadschikistan ganz sicher nicht gibt.“

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Alle Protagonist*innen des Films kennt der Autor persönlich und nur dank dieser Nähe haben sie ihre Teilnahme zugesagt. Auch das Filmteam hat Alizoda aus Bekannten und Freunden in Tadschikistan zusammengestellt, die der Community positiv gegenüberstehen. Kurz vor Ende der Arbeiten an dem Film ist einer der Protagonisten von Polizeibeamten befragt worden, ob er etwas von einer Journalistin wisse, die aus dem Ausland gekommen sei, um Informationen über LGBTI zu sammeln. „Tatsächlich war jene Journalistin, die an unserem Film mitarbeitete, Staatsbürgerin Tadschikistans. Aber nach Duschanbe kamen auch Experten, die die Dreharbeiten begleiteten“, erinnert sich Alizoda. „Für uns aber war die Anfrage der Polizei ein Warnsignal und wir entschieden uns, als Filmteam das Land zu verlassen. Für den Fall der Fälle.“

Tadschikistan will kein Anti-Diskriminierungs-Gesetz

Trotz wiederholter Empfehlungen der UN weigern sich die tadschikischen Behörden weiter, ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz zugunsten von Gender- und sexuellen Minderheiten zu verabschieden. Als Reaktion auf diese Empfehlungen internationaler Organisationen erklärte Tadschikistans Menschenrechtsbeauftragter Zarif Alizoda im vergangenen Jahr, dass es aufgrund der „moralischen und ethischen Standards der menschlichen Beziehungen im Land“ unmöglich sei, den Empfehlungen zu folgen.

Jede Erwähnung von LGBTI-Themen in lokalen Medien ruft eine Flut der Empörung beim Publikum hervor. Auch innerhalb der Gemeinschaft existieren diskriminierende Stereotypen: Der ADC-Memorial-Bericht zitiert beispielsweise Aussagen von Aktivistinnen, die von der weit verbreiteten Meinung berichten, wonach die Probleme von Lesben nicht gravierend seien und sie nicht so dringend Schutz benötigten wie schwule Männer. Das zeigt, dass auch die LGBTI-Community selbst nicht völlig frei ist von patriarchalischen Stereotypen, und dass der Grad der öffentlichen Ablehnung gleichgeschlechtlicher weiblicher Paare geringer ist als der gegenüber männlichen Paaren.

Lola Khodzhaeva für Fergana News

Aus dem Russischen von Peggy Lohse

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Kommentieren (1)

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Вадим, 2021-01-6

Ich war In Tadschikistan in 70-ger.
War jung und schön. Ich fühlte große Interesse zu mir von Männer dort. Ich hatte das Gefühl, dass homosexuelle Handlungen dort damals sehr verbreitet waren.

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