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Nach Terroranschlag: Massive Anfeindungen gegen Tadschik:innen in Russland

ENTSCHLÜSSELUNG. Der tödliche Anschlag bei Moskau hat für Schlagzeilen über die Beteiligung von Tadschik:innen in internationalen Terrororganisationen wie dem sogenannten „Islamischen Staat“ gesorgt. Dies hat unter anderem zu einem Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in Russland geführt.

Nach dem Terroranschlag bei Moskau sind Tadschik:innen massiven Anfeindungen ausgesetzt, Photo: Pressedienst des Gebiets Moskau

ENTSCHLÜSSELUNG. Der tödliche Anschlag bei Moskau hat für Schlagzeilen über die Beteiligung von Tadschik:innen in internationalen Terrororganisationen wie dem sogenannten „Islamischen Staat“ gesorgt. Dies hat unter anderem zu einem Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in Russland geführt.

Am Abend des 22. März haben bewaffnete Männer die Konzerthalle „Crocus City Hall“ bei Moskau angegriffen und 140 Menschen getötet. Tags darauf wurden elf Personen festgenommen, berichtete die russische Nachrichtenagentur TASS. Die vier Männer, denen die Ausführung des Anschlags vorgeworfen wird, sind tadschikische Staatsangehörige.

Auch wenn vieles vorerst im Dunkeln bleibt und die Schuld der Angeklagten nicht bewiesen ist, wurde der Angriff vom Islamischen Staat – Khorasan (IS-K) für sich beansprucht, einem IS-Ableger, dem sich viele Tadschik:innen angeschlossen haben. Wie das tadschikische Nachrichtenportal Asia-Plus berichtete, hatte Tadschikistans Präsident Emomali Rahmon nur zwei Wochen vor dem Anschlag erklärt: „Laut verfügbaren Daten haben 24 unserer Mitbürger in den letzten drei Jahren in zehn Ländern Terroranschläge begangen.“

Der Angriff in Russland ist auf dessen Intervention in Syrien zurückzuführen, womit es sich in offener Gegnerschaft zum IS positionierte. Die wiederholte Beteiligung von Tadschik:innen bei Angriffen des IS-K wirft Fragen auf, nähert allerdings auch unbegründete Vorstellungen von Tadschikistans Rolle im globalen Terrorismus.

In Russland rekrutiert

Edward Lemon, auf Zentralasien spezialisierter Forscher und Präsident der Oxus Society, erklärt, dass Tadschikistan im Verhältnis zur Einwohner:innen-Zahl den drittgrößten Anteil an Staatsangehörigen hat, die sich den Reihen des IS in Syrien angeschlossen haben.

Die jüngsten tödlichen Angriffe des IS-K, die bisher hauptsächlich auf den Iran, Afghanistan und die Türkei abzielten, wurden von Tadschik:innen verübt, erläutert The Diplomat. Dies gilt insbesondere für den Anschlag im iranischen Kerman, bei dem im Januar fast 100 Menschen ums Leben kamen.

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Wenn Tadschikistan jedoch zunehmend als Brutstätte des islamistischen Radikalismus wahrgenommen wird, ist diese Darstellung verkürzt. So zeigen Studien, dass die Rekrutierung von Tadschik:innen durch den IS-K hauptsächlich in Russland erfolgt – beziehungsweise unter Menschen, die in Russland gelebt haben.

Allein im ersten Halbjahr 2023 wurden 1,28 Millionen Tadschik:innen von den russischen Migrationsbehörden registriert, darunter mehr als 963.000 in der Arbeitsmigration. Die Zahlen könnten aber tatsächlich höher sein, berichtet das russische Wirtschaftsmedium RBC. Im Jahr 2022 stammten nach Angaben der Weltbank 51 Prozent des BIP von Arbeitsmigrant:innen, was Tadschikistan zum am stärksten von Überweisungen abhängigen Land der Welt macht.

Motivationen, die oft weit vom radikalen Islam entfernt sind

Diese oft prekäre Situation macht sie jedoch anfällig für die Rekrutierung. Mélanie Sadozaï, eine auf die tadschikisch-afghanische Grenze spezialisierte Forscherin, erklärt gegenüber Novastan: „Die Gründe, warum diese Personen rekrutiert werden, sind vielfältig: Suche nach einem besseren Leben, Ablehnung des Staates und seiner Institutionen, der Wunsch, den Islam ohne Diskriminierung zu praktizieren, attraktive finanzielle  Angebote der Anwerber, Verurteilung des russischen Engagements in Syrien, wo sich der Kern des IS befindet und so weiter.“

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Für sie sind „die Beweggründe also keineswegs mit einer uneingeschränkten Unterstützung des in der IS-Propaganda propagierten radikalen Islamismus verbunden.“ In Bezug auf den Anschlag bei Moskau weist Edward Lemon jedoch darauf hin, dass die mutmaßlichen Terroristen ein ähnliches Profil hätten: Sie seien kürzlich nach Russland ausgewandert und nicht besonders religiös gewesen.

Auf tadschikischem Boden gab es hingegen nur wenige IS-Angriffe, zuletzt einen Anschlag auf ausländische Radfahrer:innen 2018 und einen Gefängnis-Aufstand in Chudschand 2019.

Eine vage Definition von Extremismus

Der Beitritt zum IS kann jedoch auch als Reaktion auf die ultrasäkulare tadschikische Politik erfolgen. Extremismusvorwürfe in Tadschikistan richten sich weniger gegen den strengen Islam als gegen jede Form von Handlungen, die der Regierung missfallen: Nicht selten werden Aktivist:innen, Menschenrechtler:innen oder Journalist:innen wegen Extremismus verurteilt. Religiöse Praxis wird als politische Opposition interpretiert und unterdrückt.

Laut Mélanie Sadozaï verschärfen die Behörden Tadschikistans „die Beschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen in Bezug auf religiöse Praktiken und potenzielle Rivalen oder Destabilisatoren des bestehenden Regimes, was nur Frustrationen schürt, die die Form von Terroranschlägen annehmen können.“

Die Grenze zu Afghanistan ist weniger durchlässig, als es scheint

Seitdem die Aufmerksamkeit auf Tadschikistan und den IS-K gerichtet ist, wird die gemeinsame Grenze mit Afghanistan, einer Hochburg des IS-K, als potenzieller Korridor für Dschihadist:innen erwähnt. Auch hier betont Mélanie Sadozaï, dass die Unsicherheit entlang der Grenze eine vorgefasste Meinung sei.

„Im Gegensatz zu dem, was man denken könnte, überqueren keine Bürger Tadschikistans die Grenze in Richtung Afghanistan. Der fehlende Zusammenhang zwischen Terrorismus und dieser Grenze führt dazu, dass sie im September 2023 wieder für grenzüberschreitenden Handel geöffnet wurde“, erklärt Mélanie Sadozaï.

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Einzelfälle sind nicht auszuschließen – und die Grenze kann auch in die entgegengesetzte Richtung durchlässig sein, insbesondere für den Drogenhandel. Aber Tadschik:innen, die sich Terrororganisationen anschließen, tun dies in der Regel über Russland. Die Forscherin fasst zusammen: „Der IS-K ist eine multinationale und keine grenzüberschreitende [im wahrsten Sinne des Wortes, Anm. d. Ü.] Terrorgruppe.“

Zusammenarbeit mit den Taliban

Darüber hinaus arbeitet Duschanbe in bestimmten Sicherheitsfragen mit Kabul zusammen. Afghanistan bleibt Tadschikistans feindseligster Nachbar, insbesondere aufgrund der Präsenz der Terrorgruppe Dschamaat Ansarullah, die aus ethnischen Tadschik:innen besteht, welche Feinde von Duschanbe sind und von den Taliban unterstützt werden.

Aber auch andere Terrorgruppen erzwingen den Dialog. „Der IS-K ist ein innenpolitisches Problem für Tadschikistan und für die Taliban, denn die von dieser Gruppe beanspruchten Anschläge untergraben die Glaubwürdigkeit dieser Regime in Bezug auf ihre Fähigkeit, die Sicherheit in ihren Ländern aufrechtzuerhalten“, schließt Mélanie Sadozaï.

Eine Welle der Fremdenfeindlichkeit

Es muss daher klargestellt werden, dass die tadschikische Bevölkerung in ihrer überwiegenden Mehrheit den IS-K nicht unterstützt. Sowohl in Tadschikistan als auch in Russland würdigten Tadschik:innen die Opfer. In Duschanbe wurde die Noruz-Feier, die am 24. März stattfinden sollte, auf den nächsten Tag verschoben. Der Grund wurde nicht offiziell kommuniziert, lokale Medien interpretierten die Geste jedoch als Reaktion auf die Ankündigung eines nationalen Trauertages in Russland.

Diese Reaktionen reichten nicht aus, um ultranationalistische Strömungen in Russland zu beruhigen. Fake News und rassistische Verschwörungstheorien florieren oder tauchen wieder auf – zum Beispiel die Behauptung eines Völkermords an Russ:innen während des Tadschikischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten.

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Wie Eurasianet und Radio Ozodi berichteten, haben fremdenfeindliche Taten in Russland in den letzten Tagen so stark zugenommen, dass viele Migrant:innen Angst davor haben, ihre Wohnungen zu verlassen, und manchmal sogar aufhören, zur Arbeit zu gehen.

Zunehmende Aggression

Die tadschikische Botschaft, die sich für gewöhnlich nicht für die Interessen ihrer Bürger:innen in Russland einsetzt, hat ihren Staatsangehörigen empfohlen, ihre Häuser nicht zu verlassen. Usbekische Bürger:innen wurden außerdem aufgefordert, öffentliche Orte zu meiden, während die Kirgis:innen angehalten sind, jegliche Reisen nach Russland zu meiden.

In russischen Städten kam es bereits zuvor häufig zu Jagden auf Migrant:innen, doch der Anschlag löste eine weitere Welle aus. Nach Angaben der Menschenrechtlerin Valentina Tschupik meldeten Zentralasiat:innen in den beiden darauf folgenden Tagen 2.500 Fälle von Aggression, darunter 30 Fälle von Folter. Angesichts von Bildern, auf denen FSB-Agenten die tadschikischen Verdächtigen foltern, scheint körperliche Gewalt gegen Zentralasiat:innen nun völlig legitim zu sein.

Zusätzlich zu gewalttätigen Übergriffen an öffentlichen Orten kam es zu einem massiven Boykott gegen tadschikische Taxifahrer:innen. Andere Zentralasiat:innen sagen, sie seien aus ihren Wohnungen geworfen oder sogar entlassen worden, ohne ihr Gehalt zu erhalten.

Langfristige Folgen

Somit wird die Beteiligung von Tadschiken an dem Anschlag vom 22. März – ob real oder nicht – auf längere Sicht katastrophale Folgen für das Leben der Tadschik:innen in Russland haben. Wie Valentina Tschupik erklärt, wird „unkontrollierbare Migration“ dafür verantwortlich gemacht, während Politiker:innen bereits vorschlagen, ein Visaregime für Tadschik:innen einzuführen oder sie beim kleinsten Fehler auszuweisen.

Russland braucht diese Arbeitskräfte und solche Maßnahmen sind unwahrscheinlich, aber Bedrohungen für die Sicherheit von Migrant:innen sind real in einem Kontext, in dem Fremdenfeindlichkeit und Gewalt öffentlich akzeptiert werden.

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Es besteht die Befürchtung, dass diese schlechte Presse auch Zentralasiat:innen in Europa betreffen wird. Während die Region in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist, gelangt Tadschikistan immer wieder als Brutstätte des religiösen Extremismus in die Presse.

Zentralasiat:innen wird häufig ein Visum für Europa verweigert und bei Asylanträgen kommt es zu Ablehnungen, wobei fabrizierte Extremismusvorwürfe im Herkunftsland – wie zuletzt bei einem Fall in Frankreich – eine Rolle spielen. Es bleibt also zu hoffen, dass die Behörden der europäischen Länder nach den jüngsten Ereignissen in der Lage sein werden, den Kontext zu berücksichtigen und falsche Anschuldigungen von echten zu unterscheiden.

Judith Robert für Novastan

Aus dem Französischen von Robin Roth

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