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Kasachstan – von Protesten, Palastintrigen und sozialer Ungleichheit

Während die relative Beruhigung der Lage in Kasachstan Platz für erste Interpretationen der Ereignisse lässt, verbleiben deutlich mehr Fragen als Antworten. Ein Überblick über die Entwicklungen bis zu diesem Sonntag, den 9. Januar.

Protest Kasachstan
"Wir sind einfache Menschen, keine Terroristen" - Protestierende am 6. Januar 2022

Während die relative Beruhigung der Lage in Kasachstan Platz für erste Interpretationen der Ereignisse lässt, verbleiben deutlich mehr Fragen als Antworten. Ein Überblick über die Entwicklungen bis zu diesem Sonntag, den 9. Januar.

In weniger als einer Woche schlugen weitgehend friedliche Massenproteste für mehr soziale Garantien und ein offeneres politisches System in kriegsähnliche Zustände um. Präsident Qasym-Jomart Toqaev nahm einige wichtige Personalwechsel im Regierungs- und Polizeiapparat vor und lud mehrere Tausend Soldaten der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) ins Land, was auf einen möglichen Bruch mit seinem Vorgänger Nursultan Nazarbaev schließen lässt.

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Laut der kasachstanischen Regierung wurden zum Nachmittag des 9. Januar circa 6000 Menschen festgenommen und 164 Zivilisten verloren ihr Leben, über 100 davon in Almaty – der größten Stadt Kasachstans im Süden des Landes. Über 2300 Menschen seien laut Angaben des Gesundheitsministerium verletzt, über 80 bafänden sich in der Notaufnahme.

Schuldzuweisungen der Regierung

Bei einer Rede am 7. Januar hatte Toqaev bekannt gegeben, er habe einen Schießbefehl erteilt, wodurch Sicherheitskräfte ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen konnten. Im Laufe der Woche hat sich die Rhetorik des Präsidenten zunehmend verschärft. So unterhielt er in seiner Rede und in einem späteren Twitter-Thread auf Englisch das Feindbild von „Terroristen und Banditen“, die aus dem Inland und Ausland kämen.

Der Sonderrepräsentant des Präsidenten für internationale Zusammenarbeit lieferte in einer englischsprachigen Videoerklärung am 8. Januar ein scharfes Bild der offiziellen Darlegung der Ereignisse. Ihm zufolge wurde ursprünglich friedliche Proteste von „lokalen und ausländischen terroristischen Gruppen gekapert, die fremde Sprachen sprechen.“ Er beschuldigte auch Medien einer irreführenden Darlegung der Ereignisse: „Die Nachrichten, die diese Woche in internationalen Medien liefen, hinterlassen die Leser mit dem falschen Eindruck, dass Kasachstans Regierung auf friedliche Protestierende zielte.

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Es gibt aber kaum genauere Angaben dazu, um wen es sich bei diesen „Terroristen“ genau handelt. Der Forscher Paolo Sorbello schreibt etwa bei Twitter, er habe „mehrere Leute am Telefon befragt. Keine Beweise von ‚Terroristen‘ – alle sind nur beängstigt und sagen, sie können nicht kommunizieren.“ Unter anderem fanden sich Bürger:innen des benachbarten Kirgistans unter denen, die der Gewalt beschuldigt wurden – trotz zahlreicher Solidaritätserklärungen aus der kirgisischen Gesellschaft und organisierten Aktionen, um in Bischkek gestrandeten Kasachstaner:innen zu helfen.

Am 9. Januar kam es zu einem diplomatischen Zwischenfall, als der TV Kanal Khabar24 das Video eines kirgisischen Staatsbürgers zeigte, der vor der Kamera gestand, er sei gegen Bezahlung nach Kasachstan gekommen, um an den Plünderungen teilzunehmen. Kirgisische Internetnutzerinnen erkannten in dem Mann schnell den bekannten Jazzmusiker Wikram Rusachunow, wie das Onlinemagazin Kloop.kg berichtet. Er sei bereits am 2. Januar für ein Konzert nach Kasachstan geflogen.

Der kirgisische Sicherheitsdienst GKNB beteuerte in einer Erklärung, Staatsbürger Kirgistans haben keine Verbindung zu der Gewalt in Kasachstan. Er hofft darauf, dass „die kompetenten Behörden in Kasachstan Objektivität garantieren, da kirgisische Bürger, von denen die allermeisten [in Kasachstan] im Handel und Dienstleistungssektor aktiv sind, sich zufällig durch die Umstände auf der Straße befinden und verhaftet werden können.“

Unterschiedliche Protestgruppen

In einem Interview mit OpenDemocracy unterscheidet der langjährige kasachstanische Menschenrechtsaktivist Evgeni Jovtis zwischen vier Gruppen, die an den Protesten beteiligt waren. Zu friedlichen städtischen Demonstrierenden und bestehenden Oppositionsgruppen gesellten sich auch zahlreiche verarmte Menschen aus den urbanen Peripherien: „Das schaffte Spannungen entlang städtisch-ländlicher Linien und zeigte sich in dem Bestreben dieser Gruppe, die Stadt zu plündern“, so Shovtis. „Die Zahl dieser Gruppe ging in die Tausende, und Toqaev bezeichnete sie später als ‚Terroristen und Banditen‘, aber das ist weit von der Wahrheit entfernt. Es war nur eine Menschenmenge, wie wir sie kürzlich auf den Straßen der Vereinigten Staaten oder Frankreichs gesehen haben.

Die vierte Gruppe stellt laut Jovtis den gewalttätigen Teil dar, der selbst aber auch „keineswegs als einheitlich oder organisiert angesehen werden“ sollte, und „sich aus Islamisten und kriminellen Elementen zusammensetzt, die von Loyalisten der lokalen Eliten unterwandert werden.“ Auch die Forscherin Diana Qudaıbergenova besteht auf eine Unterscheidung „zwischen den gewalttätigen und den friedlichen Demonstrierenden“, wie sie in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau erklärt. „Es waren nicht die Friedlichen, die die Polizei angriffen. Die gewalttätigen Gruppen gingen im Gegensatz zu den friedlichen sehr organisiert vor. Die Situation vor Ort ist sehr komplex und es sind eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen involviert. Welche das sind, lässt sich aktuell mit Sicherheit noch nicht sagen“, so Qudaıbergenova.

Anzeichen einer Palastintrige

Hinter dem Verlauf der Ereignisse und dem Ausmaß der Gewalt sehen einige Beobachter:innen Anzeichen eines Konflikts innerhalb der politischen Eliten in Kasachstan. Laut Analysten des Moskauer Carnegie Zentrum markieren die laufenden Ereignisse das „Ende der Ära Nazarbaev“, des ersten Präsidenten des Landes, der Kasachstan von 1989 bis zu seinem Rücktritt 2019 regierte. Demzufolge haben die Massendemonstrationen den Anlass für opportunistische Handlungen in Rahmen eines Machtkampfes zwischen Toqaev und Nazarbaev gegeben. „In Kasachstan gibt es seit Jahrzehnten politische Intrigen“, so Jovtis.

Diesmal scheint es möglich, dass einige der gewalttätigen Gruppen den Kreisen des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nazarbaev nahestanden und wahrscheinlich aus dem Sicherheitsdienst stammen“, ergänzt er aber. Bei solch im Wesentlichen intransparenten politischen Palastintrigen kommen aber auch Expert:innen kaum über Spekulationen hinaus.

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Der Abgang des Nazarbaev nahestehenden Politikers Kárim Másimov scheint auf Komplotte innerhalb der Eliten hinzuweisen. Másimov, der seit 2016 den Sicherheitsdienst KNB leitete, wurde am 5. Januar entlassen und einen Tag später aufgrund des Verdachts des Staatsverrats festgenommen, wie das kasachstanische Online-Medium Vlast.kz berichtete. Laut dem US-Amerikanischen Onlinemedium Eurasianet gebe es Hinweise darauf, dass Másimov in die Planung eines Staatsstreich gegen Toqaev involviert sein könnte.

Solche internen Machtkämpfe bieten jedenfalls eine Erklärung dafür, warum Toqaev trotz gut aufgestellter Sicherheitskräfte in Kasachstan auf eine externe Intervention der OVKS setzte. Gerüchten, auch Ex-Präsident Nazarbaev befinde sich im ausländischen Exil, wurde am 8. Januar durch dessen Pressesprecher Aıdos Úkibaı widersprochen: „Der Elbasy [„Volksführer“, einer der Ehrentitel von Nazarbaev, Anm. d. Red.] befindet sich in der Hauptstadt Nur-Sultan. […] Der Elbasy führt eine Reihe von Beratungstreffen und ist in direktem Kontakt mit dem Präsidenten von Kasachstan“, schrieb er bei Twitter.

Am 9. Januar sprach Úkibaı vom „monolithischen“ Charakter der Regierung in Kasachstan und erklärte, Nazarbaev selbst habe im Angesicht der Ereignisse den strategischen Posten des Leiters vom Sicherheitsrat an Toqaev abgetreten. Auch Nazarbaevs Neffe Samat Ábish, der laut einigen Berichten zusammen mit Másimov seinen Posten als Vizedirektor des KNB verlor, bleibt wohl an seiner Stelle. „Der erste Stellvertreter arbeitet wie zuvor“, zitiert die russische Presseagentur Interfax den Pressedienst des KNB, der Gerüchten zu einer Festnahme von Ábish einen „provokativen Charakter“ zuschreibt. So besteht vor allem Ungewissheit über die tatsächlichen Gerangel hinter den Türen der kasachstanischen Behörden. Allgemein wird der Zugriff zu Information in und zu Kasachstan durch seit dem 5. Januar anhaltende Internetblockaden im Land deutlich erschwert.

Bleibende politische Probleme

Bei all solchen Analysen und Spekulationen gerät jedoch der politische und soziale Unterbau der Geschehnisse in den Hintergrund. Ausschlaggebend für das ungesehene Ausmaß der Proteste zu Beginn der Woche war stets zunehmende Ungleichheit im Land, die weite Teile der Bevölkerung in Schulden und Existenznöte trieb. Auf der anderen Seite des Spektrums stand eine politisch-wirtschaftliche Elite, die allein im Vereinigten Königreich mehrere Immobilien im Wert von mehreren hundert Millionen Euro besitzt. Ungeachtet, wie sich vermeintliche Machtkonflikte lösen und in welche Richtung sich Kasachstan in den nächsten Wochen entwickelt, ohne Grundlegende Reformen ist der Kern des Problems nur weiter verdrängt.

Viele haben die soziale Ungleichheit satt. Sie wollen eine Regierung, der sie vertrauen können und Politiker:innen, die ihre Stimmen hören und entsprechende politische Reformen einleiten, die den Lebenstandart verbessern“, erklärt Qudaıbergenova. „Dabei geht es vor allem um langfristige politische Entwicklung und keine kurzfristigen Lösungen.“ Aınur Qurmanov, ein Vertreter der Sozialistischen Bewegung Kasachstans, sieht im Wesentlichen das in Kasachstan geltende „rohstoffbasiertes Modell des Kapitalismus“ am Ursprung der Probleme. „Die Bevölkerung hat eine Menge sozialer Probleme angehäuft, es gibt eine enorme soziale Schichtung. Die ‚Mittelschicht‘ ist ruiniert, der reale Sektor ist zerstört. Die ungleiche Verteilung des Sozialprodukts hat eine erhebliche Korruptionskomponente. Die neoliberalen Reformen haben das soziale Sicherheitsnetz fast völlig beseitigt“, zitiert ihn das Onlinemagazin LeftEast.   

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In der Abwesenheit alternativer Möglichkeiten der politischen Anteilnahme bleibt nur der Straßenprotest, um Forderungen auszusprechen. „Die Behörden haben sich über Jahre hinweg nicht auf einen Dialog eingelassen, was zu spontanen, unkontrollierten Protesten führte, die Plünderer ausnutzten und mit Plünderungen und Überfällen begannen“, beklagte die 2019 im Rahmen des Präsidentenwechsels und dem sogenannten „kasachischen Frühling“ entstandene politische Bewegung „Oyan, Kazakhstan“ (Wache auf, Kasachstan) in einer Stellungnahme am 7. Januar.

Die Bewegung ruft dazu auf, die Schuld nicht auf Medien und politische Aktivist:innen zu schieben. Aus ihrer Forschung zu dem Thema schließt Qudaıbergenova, dass Bewegungen wie diese auf einen stetigen, etappenweisen Wandel eingestellt sind. „Sie [Aktivist:innen des kasachischen Frühlings] erkennen, dass die Vorstellung, eine Revolution könne alle Probleme in ein paar Tagen lösen, ein Mythos ist. Aber es ist möglich, die Dinge im Laufe der Zeit zu ändern“, erklart sie in einem Interview mit dem russischen Online-Magazin Meduza.

Florian Coppenrath Novastan.org

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