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„Das große Turkestan“ – Mythos oder Perspektive?

Politologen sind der Ansicht, die Organisation der Turkstaaten hätte bislang noch unzureichend Ressourcen, um ernsthaften Einfluss in Zentralasien zu nehmen. Diese Lücke könnte jetzt die Türkei schließen.

Asia Plus 

Übersetzt von: Arthur Siavash Klischat

Original (29. November 2022)

Gipfel der Organisation der Turkstaaten
Der Gipfel der Organisation der Turkstaaten im November 2022 (Foto: Turkic States/ Flickr)

Politologen sind der Ansicht, die Organisation der Turkstaaten hätte bislang noch unzureichend Ressourcen, um ernsthaften Einfluss in Zentralasien zu nehmen. Diese Lücke könnte jetzt die Türkei schließen.

Am 11. November 2022 fand in Samarkand der Gipfel der Organisation der Turkstaaten (OTS)  statt – ein Bund, der von der Idee der Errichtung eines „Großen Turkestans“ lebt, mit der Türkei an dessen Kopf. Wie realistisch ist diese Idee und was verspricht man sich von ihr? Obwohl sich die Turkstaaten genaugenommen schon 1992 ein erstes Mal in Ankara zusammen an den Tisch setzten, wird dieses Treffen zwischen der Türkei, Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan nun als erster Gipfel der OTS gewertet.

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Der damalige türkische Präsident Turgut Özal lud zum Gipfel ein, woraufhin die Staatsoberhäupter Kasachstans, Kirgistans, Usbekistans, Aserbaidschans und Turkmenistans anreisten. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Gründung neuer unabhängiger Staaten wurde der Besuch des Gipfels zur politischen und ökonomischen Frage der Einheit verbrüderter Länder.

Ein Jahr später verstarb Özal jedoch. Der darauffolgende Gipfel im Jahre 1994 stand unter dem Thema der humanitären und sozialen Zusammenarbeit der verbrüderten Länder. Weitere treffen fielen aus. Die Türkei fuhr ihre Initiative zurück, auch, weil sie sich des fortbestehenden Einflusses aus Moskau trotz des Zusammenbruchs der UdSSR bewusst wurde. Folglich war es zu früh, von einer politischen Einheit zu sprechen.

Kleine Schritte zu mehr Zusammenarbeit

Ein weiterer Grund für das Scheitern der Initiative soll gewesen sein, dass Usbekistan als Land mit der größten Bevölkerung die Türkei nicht als führenden Kopf der Vereinigung anerkennen wollte. Als sich Präsident Islom Karimov daraufhin von der Vereinigung distanzierte, verlor diese mit Usbekistan auch ihre Vollständigkeit. 2009 warfen Kasachstan, Kirgistan, Aserbaidschan und die Türkei erneut die Frage auf, einen Rat der Zusammenarbeit türkischsprachiger Staaten zu gründen. Laut verschiedenen Quellen geht diese Initiative auf Kasachstans Ex-Präsidenten Nursultan Nazarbaev zurück. Er war der Ansicht, eine Vereinigung von mehr als 200 Millionen Brüdern zwischen dem Altai-Gebirge und dem Mittelmeer sei eine wirkungsvolle Kraft in der Welt.

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Dennoch übernahm die Türkei schließlich wieder die Führung der Vereinigung. Seit Recep Tayyip Erdoğans Amtsantritt im Jahre 2014 zog sie durch ihre Aktivität besondere Aufmerksamkeit auf sich. Dessen Handeln verbindet man heute mit Russlands Annexion der Krim. Die Türkei sieht die Halbinsel als ihr historisches Territorium an und weist russische Ansprüche auf selbiges als unbegründet zurück.

Die Stärke der Union wuchs weiter an. So erhielt Ungarn 2018 im Rat den Beobachterstatus. 2019 wurde Usbekistan als vollständiges Mitglied anerkannt. Zwei Jahre später erhielt auch Turkmenistan den Beobachterstatus. Im Jahr darauf bewarb sich auch die Ukraine auf diesen Posten. Ihr Beitritt war für das Jahr 2022 vorgesehen, doch kam aus offensichtlichen Gründen nicht zustande. Die Bevölkerung der türkischen Staaten beläuft sich auf etwa 150 Millionen Menschen. Die Gesamtfläche der Länder beträgt mehr als 4,5 qm. Das gesamte BPI wird auf 1,5 Trilliarden geschätzt und belegt damit den 13. Platz in der Weltwirtschaft.

Neuer Name, neue Ziele

Der OTS-Gipfel im letzten Jahr war substanziell für alle Mitglieder. Erstens erfolgte die Umbenennung von CCTS (Kooperationsrat der Turksprachigen Länder) in OTS (Organisation der Turkstaaten). Ebendarum gilt der Gipfel in Samarkand nun als erster dieser Vereinigung. Gleichzeitig wurde hiermit auch die Strategie „Türkische Welt 2040“ vorgestellt. Neben Kooperation auf sozialer und humanitärer Ebene sieht diese eine vertiefte Zusammenarbeit in der staatlichen Sicherheit sowie in der Wirtschaft vor.

Ein weiteres bedeutendes Ereignis des Gipfels stellte die Rolle Turkmenistans als neuer Beobachter dar. Man ging davon aus, dass das Land in Samarkand nun vollständiges Mitglied der Vereinigung würde. Der turkmenische Präsident erschien jedoch nicht beim Gipfeltreffen. Stattdessen schickte das Land Ex-Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow, der jedoch als Ehrengast keine offizielle Vollmacht trug. Die Bedeutung des Samarkand-Gipfels litt unter diesem Umstand nicht weiter.

Die türkischen Medien nannten die Vereinigung bereits „Vereinigte Staaten der Türkei“. Die Teilnehmer unterzeichneten dort eine Erklärung, in der sie zum wiederholten Mal ihre Entschlossenheit ausdrücken, „die Kooperation in vielen Sphären der Organisation der Turkstaaten auf dem Fundament der gemeinsamen Geschichte, Sprache, Kultur, Traditionen und Werte der Turkvölker zu vertiefen und auszuweiten“. Außerdem bekräftigen sie ihre „Bereitschaft, Aserbaidschan beim Wiederaufbau, der Rekonstruktion und Reintegration zu unterstützen und so zu neuer Stärke zu verhelfen“.

Zudem beschlossen sie eine enge Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, die ein „gemeinsames Interesse“ sei und riefen zu noch engerer Kooperation im Bereich der Waffenindustrie und des Militärs auf. Die Stärkung der Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten im Bereich der digitalen Wirtschaft und der vierten industriellen Revolution wurde bestärkt und ein Akkord zur Schaffung eines Investitionsfonds in Höhe von 500 Millionen US-Dollar erreicht.

Die OTS – eine Konkurrenz für Russland?

 Die russische Zeitung Iswestija merkt an, dass im Anschluss an das Treffen Kriegsübungen in Ankara stattfanden, an denen die Türkei, die Türkische Republik Nord-Zypern, Aserbaidschan, Kasachstan und Kirgistan teilnahmen. Usbekistan enthielt sich der Teilnahme.

„In den letzten Jahren wurde die militärische Kooperation zwischen Ankara und den zentralasiatischen Ländern intensiver. Erdogans Absicht, eine Militärallianz zu gründen, die alle turksprachigen Länder in sich einschließt, beunruhigt Moskau. So wurde Turkmenistan einer der größten Abnehmer türkischer Waffen. 2022 erhielt Kirgistan Drohnen des Modells „Bayraktar TB2“, nicht-tödliche Waffen, Munition und Schutzausrüstung. Auch Astana kam nicht zu kurz: Kasachstan erhielt Waffen und es wurde ein Vertrag zur Herstellung türkischer Anka-Drohnen unterzeichnet. Zudem finden in der Türkei regelmäßige Kriegsübungen aller zentralasiatischen Staaten statt“, schreibt die Zeitung.

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Die Kriegsallianz der türkischen Staaten ist eine der Kernideen des Pan-Тurkismus. Durch langsam voranschreitende äußere Expansion der türkischen Welt soll auf diese Weise das Große Turkestan sowie die Turan-Armee entstehen. Die weitläufige Fläche wurde bereits kartografiert. 2021 überreichte Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), dem türkischen Präsidenten Erdogan die Karte der „Türkischen Welt“.

In der Liste der OTS-Mitgliedsländer werden auch Tadschikistan und knapp 20 Subjekte der Russischen Föderation angeführt (Jakutien, Burjatien, Tuwa, Altai, Chakassien, Baschkortostan, Tatarstan, Dagestan sowie die Gebiete Irkutsk, Omsk, Nowosibirsk, Kurgan, Tscheljabinsk, Orenburg, Samara, Saratow, Uljanowsk, Pensa und Astrachan).

Rot markierte Territorien

Hinzu kommen einige rot markierte Länder der Balkan-Halbinsel, ein Teil Irans, südliche Regionen Russlands, ein großer Teil Sibiriens sowie ein westlicher Teil der Mongolei. In gelb markiert sind das Altai, Jakutien und das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang in China. In den Anmerkungen der veröffentlichten Grafik wird die Bedeutung der Farbe gelb nicht weiter erläutert.

Die Türkei versicherte, es auf keine der Territorien abgesehen zu haben. Die Karte wolle lediglich die „Türkische Einheit“ widerspiegeln. Daher schließt man eine Annexion oder Vereinigung von Staaten und Regionen durch die Türkei aus. Noch ist unbekannt, wie der Kreml dazu steht. Doch Presse-Sekretär Dmitri Peskows Kommentaren zu urteilen, kann auch Moskau hierin keine Bedrohung ausmachen.

Unsere türkischen Partner hegen die Idee einer türkischen Einheit, das ist nichts Ungewöhnliches. Ich kann allerhöchstens bedauern, dass im Zentrum der türkischen Welt nicht ein großer roter Stern zu sehen ist“, sagte er bei einer Sendung des Fernsehkanals Rossija-1.

 „Das ist nicht nur eine ernsthafte Frage, sondern auch Herausforderung für die Sicherheit, ganz besonders die unseres Landes. Wir haben zwar gerade unser Ukraine-Problem, dennoch müssen wir bezüglich der türkischen Regionen Russlands sehr überlegt handeln. Es geht um Tartastan, Baschkortostan, den Kaukasus und so weiter. Das fällt alles unter die Interessen des türkischen Khaghanats, das die Türkei anführt. Experten und Geheimdienste müssen hier ganz genau hinschauen“, so Nikita Buranow, Experte des Russischen Vereins für Militär und Geschichte. Der Großteil russischer Experten vertritt eine ähnliche Meinung, wie aus verschiedenen Online-Plattformen hervorgeht.

 Muss sich Tadschikistan Sorgen machen?

 Viktor Nadein-Raewskij, Leiter an der Russischen Akademie für Wissenschaften am Institut für Wirtschaft und Internationale Beziehungen, betont, zwischen der Türkei und den zentralasiatischen Staaten herrsche eine Zusammenarbeit auf Ebene der Behörden, der Geheimdienste und des Militärs. „Derzeit sammelt man Informationen zu Offizieren aller türkischsprachigen Republiken und den OVKS-Mitgliedern [dem von Russland seit 2002 angeführten Militärbündis, Anm. d. Ü.]. Es geht vor allem um Kasachstan. Die Idee einer Turan-Armee wird schon seit vielen Jahren aufrechterhalten. Bislang kommen die Mitgliedsländer der ehemaligen Sowjetunion in diesem Punkt jedoch noch nicht auf einen Nenner“, so der Experte des Instituts.

Nichtsdestotrotz zeigt die Praxis, dass die Länder in vielen Fragen solidarisch miteinander seien. Zum Teil auch, wenn es um territoriale Fragen geht. Beispielsweise drückten die Staatsoberhäupter der turksprachigen Länder anlässlich des im letzten Jahr, kurz nach dem Sieg Aserbaidschans im Bergkarabach-Krieg stattfindenden OTS-Gipfels ihre Einheit und Solidarität mit Baku aus. „Die Staatsoberhäupter der türkischsprachigen Länder thematisierten sogar die Befreiung des besetzten aserbaidschanischen Territoriums. Sie verkündeten zufrieden die Beilegung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts“, schrieben pro-türkische Medien.

Das hängt mit der OVKS-Mitgliedschaft Armeniens und weiterer zentralasiatischer Länder zusammen. Schlussendlich lief jedoch alles nach dem Motto „das eigene Hemd ist näher am Körper“. Zudem ist bekannt, dass die Türkei Aserbaidschan im Zuge des Konflikts unterstützt hat. Man geht davon aus, dass die anderen Länder die Unterstützung ebenfalls gutgeheißen haben. Für Tadschikistan kommt nun die Frage auf, ob sich diese Situation nun im Grenzkonflikt mit Kirgistan reproduzieren wird. Werden die OTS ihren Nachbarn im Konflikt mit Tadschikistan Unterstützung zusichern?

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Parwis Mullodschonow, tadschikischer Politologe, ist der Ansicht, die OTS selbst verfüge noch über ungenügend finanzielle und organisatorische Quellen, um ernsthaft auf das Geschehen in der Region Einfluss zu nehmen. „Eine andere Sache ist wiederum der Einfluss der Türkei. Sie könnte, wie schon im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, zweigleisig fahren. Im Falle des Konflikts in [der Grenzregion um, Anm. d. Red.] Batken und Isfara würde die Türkei sicher eher eine moderierende und schlichtende Rolle einnehmen, als sich eindeutig auf kirgisische Seite zu schlagen. Insbesondere angesichts des Umstands, dass die Konfliktzone weit von der Türkei entfernt liegt und diese Region noch von weiteren geopolitischen Spielern beobachtet wird. Mit denen muss die Türkei früh oder später rechnen“, meint Mullodschonow.

Außerdem, so der Politologe, wachse mit der Vereinigung der Einfluss der Türkei in dieser Region. Die geopolitischen Ambitionen Istanbuls und Präsident Erdogans gingen schon heute über die Idee der Vereinigung turksprachiger Staaten hinaus. Die OTS sehe für die Zukunft sogar die Möglichkeit einer vereinten muslimischen oder eurasischen Welt, um so ihre Interessen durchzusetzen.

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Der Politologe ist daher der Ansicht, dass das nicht-turksprachige Land Ungarn deshalb aktuell die Beobachter-Rolle einnehmen dürfe. Damit sei auch ein künftiger Beitritt in Aussicht. Gespräche mit der Ukraine über einen möglichen Beitritt als Beobachtungsland seien ebenfalls geführt worden. „Zwischen den OTS-Mitgliedsstaaten besteht eine allgemeine Notwendigkeit, eine gemeinsame Haltung in der Außenpolitik einzunehmen (das betrifft auch die Beziehungen angesichts bestimmter Ereignisse und Konflikte.) In der Praxis lässt sich dies jedoch schwer umsetzen“, so Mullodschonow.

Eine ähnliche Meinung vertritt auch der Politologe Nuriddin Hudojerow. Er ist sich sicher, dass die Türkei Moskaus schwache Lage zu nutzen versucht, um den freigewordenen Platz in der Region zu füllen. Allerdings herrschen innerhalb der Organisation viele Unstimmigkeiten, die das Einnehmen der Führungsrolle in der Region verhindern. „Was den kirgisisch-tadschikischen Konflikt anbelangt, wird die Türkei nicht nur die „Familie“ militärisch unterstützen, sondern auch Tadschikistan. Schließlich hat sie kein Interesse an einem Konflikt mit Tadschikistan. Erdogan wird sich höchstwahrscheinlich in seiner Moderator-Rolle den Begebenheiten ständig anpassen“, meint Hudojerow.

Ramsija Mirsobekowa für Asia-Plus

Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat

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