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Wie sowjetische Intellektuelle und Beamte für Nehru die Geschichte umschrieben

Die Historikerin Hanna Jansen von der Universität Amsterdam hat die kurzlebigen Bestrebungen indischer und zentralasiatisch-sowjetischer Wissenschaftler und Schriftsteller untersucht, welche auf eine kulturelle und ideologische Umstrukturierung der UNESCO abzielten. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Sowjetische Briefmarke mit Nehru aus dem Jahre 1989

Die Historikerin Hanna Jansen von der Universität Amsterdam hat die kurzlebigen Bestrebungen indischer und zentralasiatisch-sowjetischer Wissenschaftler und Schriftsteller untersucht, welche auf eine kulturelle und ideologische Umstrukturierung der UNESCO abzielten. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, Indiens erfolgreichem Unabhängigkeitskampf und dem Aufstieg des kommunistischen China in internationalen Organisationen – der UNO und insbesondere der UNESCO – wehte ein frischer Wind. Im Zuge dieser Aufbruchsstimmung in den 1950er Jahren erhielten Schriftsteller und Wissenschaftler aus dem sowjetischen Zentralasien die einmalige Chance, die Weltbühne zu betreten. Gemeinsam mit ihren Kollegen aus Indien versuchten sie, die Infrastruktur der UNESCO auf ein neues Programm „umzustellen“, bei dem die historische Einheit der Völker Asiens und Afrikas, unabhängig von modernen politischen Grenzen und ideologischen Lagern, im Vordergrund stehen sollte. Zentralasiatische Intellektuelle, so die Historikerin Hanna Jansen (Universität Amsterdam), arbeiteten nicht nur für Nikita Chruschtschows „Soft Power“-Strategie, sondern setzten sich auch bewusst für die Einigkeit zwischen den Völkern Asiens und Afrikas ein. Das Schicksal dieses Projekts ist Gegenstand von Jansens Studie „«Afro-Asians» in UNESCO: Reorienting World History“, die kürzlich in der wissenschaftlichen Zeitschrift Journal of World History veröffentlicht wurde.

Wie alles begann

Unter Joseph Stalin wurden die zentralasiatischen Republiken in anderen asiatischen Staaten als sowjetisch, und damit in erster Linie als „europäisch“ wahrgenommen, und sie wurden nicht zur ersten Konferenz asiatischer und afrikanischer Länder in Bandung (1955) einberufen. Doch nach der Annäherung der UdSSR an Indien, nach der Aufmerksamkeit von Jawaharlal Nehru und Chruschtschow für „soft power“ (Fergana schrieb kürzlich darüber [auf Russisch. Anm. d. Red.]), änderte sich die Situation, und Vertreter Zentralasiens und Transkaukasiens vertraten ganz unabhängig voneinander die Kultur und die wirtschaftlichen Errungenschaften ihrer Republiken auf der internationalen Bühne. Die wichtigste Plattform für sie war das 1956 gegründete Sowjetische Komitee für die Solidarität unter den Ländern Asiens und Afrikas (SKSAA).

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Neben dem internationalen Kulturaustausch arbeiteten seine Mitglieder auch an einem wissenschaftlichen Programm: der Erforschung und Aktualisierung des kulturellen Erbes der Völker des Ostens. Das Hauptwerk von Nehru, „Die Entdeckung Indiens“, in dem der erste indische Ministerpräsident das gemeinsame kulturelle Erbe als Gegenmittel gegen religiöse und politische Konflikte (etwa zwischen Hindus und Muslimen) erklärte, hatte das gleiche Ziel. Unter Stalin wäre Nehrus Buch als Modell des bürgerlichen Nationalismus gebrandmarkt worden, aber bereits während des Tauwetters wurde es für seinen Humanismus gelobt und als herausragendes Beispiel für den gesamten Osten angesehen. Bereits das SKSAA kritisierte die UNESCO wegen ihres Eurozentrismus, der sich u.a. in der zahlenmäßigen Überlegenheit der europäischen Mitgliedsstaaten und der mangelnden Aufmerksamkeit für die kulturellen Errungenschaften Asiens ausdrückte. Die Kritik blieb nicht ohne Folgen, und als die UdSSR der Organisation beitrat, wurde ihr Vertreter, der Orientalist Alexander Huber, in die Redaktion des mehrbändigen Buches „Intellektuelle und wissenschaftliche Geschichte der Menschheit“ aufgenommen – eine Idee des großen britischen Sinologen Joseph Needham. Needham und seine Kollegen versuchten, einen neuen Typus der Geschichtsbeschreibung zu begründen, bei dem nicht wie üblich die Politik oder die westlichen Kolonisatoren die Hauptrolle spielen sollten. Sie hatte vielmehr zum Ziel, eine komplexe Analyse der Errungenschaften östlicher Kulturen, die gleichberechtigt mit den westlichen angesehen werden, zu leisten.

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Zusätzlich zur „Geschichte der Menschheit“ begann in denselben Jahren unter der Schirmherrschaft indischer Intellektueller die Arbeit an einem weiteren ehrgeizigen Projekt: einem mehrbändigen Buch zur „Geschichte Asiens“. Sie wurde persönlich von Jawaharlal Nehru geleitet, und dem Redaktionsausschuss gehörten viele Wissenschaftler aus der ganzen Welt an, darunter der berühmte britische Historiker Arnold Toynbee und der indische Botschafter in Frankreich, Kawalam Madhava Panikkar. Das Projekt verfolgte einen demokratischen, integrativen Ansatz – es wollte zeigen, dass die Weltzivilisation nicht von Staaten, sondern von Völkern und ihren Verbindungen, kultureller Arbeit und intellektuellen Errungenschaften von Gruppen geschaffen wird, die unabhängig von staatlichen Autoritäten sind. Der asiatische Kontinent fungierte als Linse, durch die man die Verbindungen und Überschneidungen zwischen verschiedenen Trends in der kulturellen Entwicklung sehen kann.

Gafurov und die große Strategie der Tadschiken

Die UdSSR beteiligte sich aktiv an diesem Programm einer Umschreibung der Geschichte – sie wurde demokratischer und bestritt offen die Rolle des Westens als Hauptmotor der Weltgeschichte. Der neue Direktor des Instituts für Orientalistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde Bobodschon Gafurov, ehemaliger Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Tadschikistans. Mit dieser Ernennung versuchte Chruschtschow der Welt zu zeigen, dass die Vertreter der östlichen Völker in der UdSSR die wissenschaftliche Agenda selbst bestimmen können. 1957 wurde Gafurov Vorsitzender des sowjetischen Komitees für die Beziehungen zwischen Ost und West, und mit der UNESCO verband ihn eine Freundschaft mit Mirso Tursunsoda, dem Vorsitzenden des sowjetischen Solidaritätskomitees für Asien und Afrika. Darüber hinaus war Igor Reisner, ein Mitglied des Redaktionsausschusses der „Geschichte Asiens“, bereits in den 1940er Jahren Gafurovs wissenschaftlicher Direktor.

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Gafurovs Arbeiten standen den neuen UNESCO-Projekte nahe. Als Historiker wurde er von der humanistischen Tradition der vorrevolutionären Orientalistik geprägt. In seinem ersten Buch („Die Geschichte des tadschikischen Volkes“) schenkte er dem Klassenkampf, den Wirtschaftskonflikten und anderen für einen marxistischen Historiker obligatorischen Themen viel weniger Aufmerksamkeit als den kulturellen Beziehungen und dem Dialog zwischen wandernden Sufis, muslimischen Hofdichtern und Händlern. Darüber hinaus kritisierte Gafurov von Beginn seiner akademischen Laufbahn an westliche Geschichtskonzepte und betonte die Notwendigkeit, die Vergangenheit des tadschikischen Volkes, eines „Volkes ohne Geschichte“, das von „bürgerlichen Historikern“ ignoriert wird, der Welt zu öffnen. Wie Nehru in „Die Entdeckung Indiens“ argumentierte Gafurov, dass die Geschichte des tadschikischen Volkes der Welt beweisen würde, dass die Menschen Zentralasiens zur Schatzkammer der menschlichen Kultur beigetragen haben.

Gafurov-Museum in Gafurov, Tadschikistan

So waren die Kulturprogramme und Buchprojekte der UNESCO bis Mitte der 1950er Jahre für viele Politiker zu einer strategischen Ressource geworden. Die Ideologie der Einheit zwischen den Völkern Asiens und Afrikas half Nehru bei der Bekämpfung des Konflikts zwischen Muslimen und Hindus im unabhängigen Indien und Gafurov bei der Aufwertung des tadschikischen Volkes, das nicht mehr als Zusammenschluss von Bewohnern einer kleinen Bergrepublik, sondern als Schlüsselelement in der Geschichte und Kultur des Ostens wahrgenommen werden sollte. Der sowjetische Generalsekretär Chruschtschow war indes mit der Lösung von konkreteren Aufgaben beschäftigt: Jede öffentliche Aktivität der Zentralasiaten auf der Weltbühne war für sein Projekt der „Wende nach Osten“, die diplomatische Annäherung an die neuen unabhängigen Staaten Asiens und Afrikas, von Nutzen.

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Aber auch Vertreter der Sowjetrepubliken zogen aktiv die Decke über sich zusammen und arbeiteten an der Umgestaltung der SKSAA-Agenda. Jansen schreibt ausführlich über die Diskussionen auf einer Sitzung des Präsidiums der Organisation im November 1956. Der kasachische Schriftsteller Muchtar Auezov schlug vor, in den Hauptstädten der Republiken Konferenzen der afroasiatischen Solidarität abzuhalten und in den sowjetischen Medien mehr über die zentralasiatischen Republiken zu berichten. Trotz der grundsätzlichen sowjetischen Furcht vor Spionen und des schwindenden Einflusses bürgerlicher Länder wurden grenzüberschreitende Verbindungen anvisiert: Der georgische Regisseur Akaki Chorava wies auf die Bedeutung der Beziehungen zwischen georgischen Muslimen in Georgien, Iran und der Türkei hin, und der Präsident der Turkmenischen Akademie der Wissenschaften, Tagan Berdiev, sagte, dass die Turkmenen im Irak, Iran und der Türkei der UdSSR helfen würden, enge Verbindungen mit der fortschrittlichen Intelligenz dieser Länder herzustellen.

Die Historikerin betont, dass internationale Solidarität und interkulturelle Kontakte für die Mitglieder des SKSAA keine abstrakten Schlagworte waren, sondern ein Spiegelbild ihrer realen Lebenserfahrung. Gafurov und Tursunsoda verbrachten ihre Kindheit in einem mehrsprachigen und multinationalen Umfeld, das noch nicht in die getrennten Republiken „Usbekistan“ und „Tadschikistan“ aufgeteilt war. Auch ihre islamische Erziehung spielte eine wichtige Rolle – der Islam nicht als eine fanatische religiöse Tradition, sondern als Grundlage einer völkerverbindenden Kultur. In Gafurovs historischem Konzept vereinten die Sufi-Dichtung und die islamische Literatur im Allgemeinen die Völker des Ostens, die durch Kriege und Politiker gespalten waren.

Höhepunkt und Ende des globalen Projekts

Der Höhepunkt der „Vereinigung“ der UNESCO, des Kremls und der zentralasiatischen Eliten war die Konferenz der Schriftsteller Asiens und Afrikas in Taschkent (Oktober 1958). Die Wahl des Ortes – nicht Moskau, sondern die Hauptstadt des „sowjetischen Ostens“ – kam auch den einheimischen Intellektuellen zugute und demonstrierte der Welt, dass Entkolonialisierung und Modernisierung auch auf dem sozialistischen Entwicklungspfad möglich sind. Zur Eröffnung der Konferenz rief der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Usbekistans, Nuritdin Muchitdinov, die Schriftsteller dazu auf, das jahrhundertealte gemeinsame Erbe von Kultur und Geschichte nicht zu vergessen. Es gab nicht ausschließlich sowjetische Propaganda zu hören: Der Kongress wurde vom burmesischen Führer Wu Wu, weit entfernt vom Kommunismus, eröffnet. Wu Wus Rede befand sich im Einklang mit der gleichen Ideologie: Humanismus und ein gemeinsames spirituelles Erbe der Völker Asiens werden es ihnen, nachdem sie das Joch der Kolonisatoren abgeworfen haben, ermöglichen, nicht in die romantische Faszination der vorkolonialen Vergangenheit einzutauchen, sondern eine rasche Modernisierung einzuleiten.

Das kulturelle und ideologische Programm von Gafurov, Tursunsoda und Nehru stieß jedoch auch auf Widerstand. Die Kommunistische Partei Chinas und ihr Vorsitzender Mao persönlich lehnten die Ideen der „geistigen Einheit der Völker Asiens“ als Widerspruch zum Sozialismus und als Deckmantel für den „Sowjetimperialismus“ ab. Auch afrikanische Delegierte der Organisation für die Solidarität der Völker Asiens und Afrikas konnten solchen kulturellen Projekten nichts abgewinnen: Man solle nicht an Humanismus und Literatur denken, sondern für die Unabhängigkeit der noch unter der Macht der Kolonisatoren leidenden Völker kämpfen.

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Aber es waren nicht diese politischen Ausbrüche, die das Projekt schließlich begraben sollten, sondern die allmähliche Entwicklung des intellektuellen Klimas der UNESCO. Der globale, universalistische Schwung der Geschichte der Menschheit oder der Geschichte Asiens kam aus der Mode. 1958 sandte Gafurov eine Reihe von Briefen an verschiedene Abteilungen der UNESCO und forderte mehr Aufmerksamkeit für die Werke zeitgenössischer Schriftsteller des „Ostens“, wie etwa Muchtar Auezovs. Die Idee eines einzigen „Ostens“, in dem neben den sowjetischen Kasachen auch Inder präsent sind, passte nicht in die Logik der UN-Bürokratie. Gafurov wurde jedoch eingeladen, sich bei bestimmten Staaten und deren Kulturprogrammen um Unterstützung zu bemühen.

Die Wissenschaft der damaligen Zeit trug auch zu der Idee bei, dass „der Osten“ und sogar „Asien“ zu amorphe und abstrakte Objekte seien und nur bestimmte Länder und Regionen erforscht werden könnten. Kurze Zeit später wurde Nehru in der Regierungspartei Indiens aus der Macht gedrängt, und ihr Konflikt mit China 1962 und die darauffolgende Annäherung an den Westen archivierten schließlich das Projekt der revolutionären Kultur Asiens und Afrikas. Die „Geschichte Asiens“ wurde nie veröffentlicht. Gafurov und andere zentralasiatische Persönlichkeiten arbeiteten zwar noch in zahlreichen sowjetischen Ausschüssen, aber sie versuchten nicht mehr, globale Projekte umzusetzen.

 

Artjem Kosmarskij für Fergana News

Aus dem Russischen von Hannah Riedler

 

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