Kirgistans Landwirtschaft und Energiegewinnung ist stark von seinen Gletschern abhängig. Umso stärker trifft der Klimawandel das kleine Gebirgsland. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei LivingAsia, wir übersetzen ihn mit der freundlichen Genehmigung der Redaktion.
Kirgistan reagiert sehr empfindlich auf den Klimawandel: Die Gletscherschmelze beeinflusst nicht nur die Landwirtschaft und die Energiegewinnung, sondern auch die Migration und Außenpolitik. Der UNICEF-Spezialist Nicolas Muliniu forscht zum Klimawandel in Kirgistan. Er hat LivingAsia erzählt, was Kirgistan in den nächsten 100 Jahren erwarten kann.
„Wir beobachten in Kirgistan schon einen sehr starken Klimawandel. Wegen seiner Abhängigkeit von den Gletschern gilt das Land in der Hinsicht als eines der empfindlichsten der Region“, erklärt der Forscher, der kürzlich zwei Wochen lang untersucht hat, wie sich der Klimawandel auf das Wohlbefinden von Kindern auswirkt.
Laut den Daten von UNICEF ist die Durchschnittstemperatur in Kirgistan in den letzten zwanzig Jahren um 1,4 °C gestiegen. Pessimistischen Prognosen zufolge könnte es bis zum Ende des Jahrhunderts sogar bis zu 8°C heißer werden.
Landwirtschaft und Migration
Im Sommer füllen die Geltscher- und Schneeschmelze die Flüsse und Kanäle mit Wasser. Das so gewonnene Wasser reicht aus, um die Felder zu bewässern. Aber das wird nicht immer so bleiben: „In Zukunft kann sich die Wassermenge stark verringern, weil die Gletscher aufgrund der hohen Temperaturen schrumpfen“, warnt Muliniu. „Zunächst wird es im Sommer viel mehr Wasser geben, aber das ist nur vorübergehend. Später wird es dann immer weniger.“
Besonders der Ackerbau ist vom Gletscherwasser abhängig. Der Klimawandel wird zu Überschwemmungen und Dürre führen. „Das können wir bereits in Asien und in der ganzen Welt beobachten“, so Muliniu.
Keine ausreichende politische Antwort
Das Problem reicht über die Landwirtschaft hinaus und könnte unmittelbar die Bevölkerung betreffen. „Für die Landwirtschaft bedeutet der Wassermangel weniger Bewässerung und kleinere Erträge. Die betroffenen Familien werden immer weniger verdienen, was sich natürlich negativ auf das Wohlbefinden der Kinder auswirkt“, antizipiert der Experte.
Natürlich beschränkt sich das Problem nicht auf Kirgistan. Laut einer Studie von UNICEF wird bis zum Jahr 2040 weltweit jedes vierte Kind einen begrenzten Zugang zu Wasser haben. In Kirgistan ist zu erwarten, dass der Klimawandel die Landflucht weiter verstärkt:
„Es kann sein, dass Kinder für ihre Familien arbeiten müssen. Viele Familien aus ländlichen Gebieten werden in die Städte ziehen, um dort Arbeit zu finden. Es ist eine massive Migration zu erwarten.“
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Der Experte ist jedoch besorgt, dass die Verwaltung nicht ausreichend vorbereitet ist: „Kann Bischkek die Registrierung und sozialen Dienstleistungen für diese Menschen garantieren? Der Staat muss sich eine Strategie ausdenken, um mit den Migrationen umzugehen.“
Auch die Viehzucht ist vom Klimawandel betroffen, der die Bodenqualität deutlich beeinträchtigt. „Die Menschen, die von ihrem Vieh abhängen, das in den Bergregionen weidet, fernab der Wasserquellen, werden den Temperaturanstieg durch die Erosion des Bodens zu spüren bekommen. Die Gründe dafür sind die zu hohe Konzentration der Weidegebiete in der Nähe von Wasserquellen, die Dürre und Desertifizierung. Das Leben in den ländlichen Gebieten wird sehr schwer.“
Energie und Außenpolitik
Doch nicht nur wegen seiner Landwirtschaft ist Kirgistan von seinem Gletscherwasser abhängig. Ein weiterer wesentlicher Sektor ist die Energiegewinnung: „Bis zu 90% des Stroms in Kirgistan wird durch das Toktogul Wasserkraftwerk auf dem Naryn-Fluss erzeugt. Sinkt der Wasserstand, wird weniger Wasser durch das Kraftwerk gepumpt und weniger Energie wird erzeugt“, so Muliniu.
„Das hat auch Folgen für die Nachbarländer, die das Wasser auch benötigen. Der Wassermangel kann auch die diplomatischen Beziehungen mit ihnen beeinflussen.“
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„Reicht das Wasser nicht zur Stromerzeugung, muss Kirgistan Strom von den Nachbarländern kaufen oder Öl bzw. Kohle für seine Wärmekraftwerke besorgen. Langfristig ist die Reduzierung des Wasserstandes unausweichlich, ein Ausweg könnte der Zugriff auf Solarenergie sein.“
Ernsthafte politische Folgen
Demnach könnte der Wassermangel Folgen für die ganze Gesellschaft bedeuten: „Entscheidet sich Kirgistan, Strom zu kaufen, wird es Geld dafür brauchen. Der Staat hat auch so nur ein kleines Budget und wird es für Strom ausgeben, der bisher dank dem Gletscherwasser fast kostenlos was. Woher nimmt er dieses Geld?“
„Als erstes werden meist die Sozialausgaben reduziert: Schulen, Krankenhäuser, Kindergeld. All diese Mittel können schnell schwinden. Der Staat hat keine Wahl: Wenn es keinen Strom im Land gibt und die Menschen im Winter keine Heizung haben, birgt das ernsthafte politische Folgen“, schließt Muliniu ab.
Ernsthafte aussichten also für die Kirgisen, die im November diesen Jahres ihren nächten Präsidenten wählen werden.
Aus dem Russischen von Sobira Majidowa