Das Manas-Epos, ist das wohl wichtigste Werk der kirgisischen Literatur. Es wurde über Jahrhunderte mündlich überliefert und ist ein wichtiger Teil der kirgisischen nationalen Identität . Allerdings wird das Epos nicht nur in Kirgistan, sondern auch in China als identitätsstiftendes Element herangezogen. Eine Analyse.
Im autonomen uighurischen Gebiet Xinjiang, weniger als 100 Kilometer entfernt von der Grenze zu Kirgistan, liegt das Dorf Atushi, in dem sich die Mehrheit der ethnisch kirgisischen Bevölkerung in China befindet. Die kirgisische Minderheit in China steht sehr viel weniger im öffentlichen Fokus als die uighurische. Doch genau hier wird die mündliche Tradition des uralten Manas-Epos gewahrt.
Das Epos handelt von den Taten des Helden Manas, der als erster die kirgisischen Stämme vereinte, die unter dem gnadenlosen Joch zahlloser Feinde litten. Mit seinen Gefährten, den 40 choro, zog er gegen seine Gegner in den Krieg und kam dabei sogar bis nach Peking. Auf dem Rückweg wurde er schwer verwundet und erlag seinen Verletzungen. Er hinterließ seinem Sohn Semetey eine geschwächte Machtstruktur, ein Volk, das erneut unter Fremdherrschaft zu leiden hatte und die Berufung, das Werk seines Vaters weiterzuführen. Und so sollte es kommen. Semetey erfüllte seine Rolle souverän und gab die Fackel anschließend an seinen Sohn, Seitek, weiter.
Diese Geschichte ist unter allen Kirgisen bekannt, die stolz darauf sind, das weltweit längste Epos ihr Eigen zu nennen: alles in allem enthält die Version des berühmten „Manastschi“ (ein Barde, der den Manas-Epos rezitiert) Sayakbai Karalajew (1894-1971) 500 533 Verse.
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Der klassische Vergleich, den sowohl Touristenführer als auch die Wissenschaft heranziehen, besagt, dass das kirgisische Epos 20 mal länger ist als die Ilias und Odyssee von Homer, und zweieinhalb mal größer als das Mahabharata, das älteste Epos Indiens. An dieser Stelle muss allerdings auch hervorgehoben werden, dass das Manas-Epos zu den letzten Epen gehört, die bis heute mündlich tradiert werden – im Gegensatz zu Ilias, Odyssee und Mahabharata, die in Buchform existieren.
Der manastschi Jusup Mamay
Jusup Mamay (1918-2014) ist der berühmteste Manastschi in der kirgisischen Gemeinschaft Chinas. Geboren wurde er im Gebiet um Atuschi als jüngstes von 27 Kindern. Sein ältester Bruder, Balbai, war ein passionierter Amateurfolklorist und Sammler kirgisischer Lieder, Legenden und Epen. Sein Vater war Nomade und ein Kenner des Manas-Epos, seine Mutter Sängerin. Der älteste Bruder gab seine Sammlung an seinen kleinen Bruder Jusup weiter, im Besonderen sein Manuskript des Manas-Epos.
Jusup beschäftigte sich ab dem Alter von acht Jahren mit dem Epos, indem er Passagen, die ihm anvertraut wurden, auswendig lernte. Wie viele anderen Manastschis besuchten ihn Manas und vier seiner Begleiter im Traum. Ein Traum, den er als Inthronisation in seiner Rolle als Manastschi deutet: „Die Ritter verlangten von mir, Manas zu rezitieren, aber ich sagte ihnen, dass ich das nicht könne. Da antworteten sie mir: ‚Du kannst singen, wenn du den Mund öffnest.‘ Also öffnete ich den Mund und begann zu singen.“
Ab dem Jahr 1961 und mit dem steigenden Interesse chinesischer Folkloristen an der ethnischen Minderheit der Kirgisen in der Volksrepublik China wurde Jusup Mamay häufig eingeladen, seine Version des Manas zu rezitieren. Die meisten der dabei entstandenen Rezitationen wurden aufgezeichnet und veröffentlicht.
Verschiedene Versionen des Epos
Auch wenn Mamays Ausbildungsprozess gängig unter den meisten Manastschis ist, existieren grundlegende Unterschiede zwischen seiner – chinesisch geprägten – Auslegung und der kirgisisch geprägten von Sayakbai Karalajew.
Erstens wurde sowohl in der Sowjetzeit als auch heutzutage der Verschriftlichung einer Version von Manas weniger bis keine Bedeutung zugeschrieben. Savakbai Karalajew wurde von verschiedenen sowjetischen Folkloristen eingeladen, den Epos zu rezitieren, und wirkte zwischen 1932 und 1960 immer wieder sporadisch an Aufnahmen mit. Jusup Mamay ist hingehen für die langen Rezitationen seiner gesamten Manas-Version bekannt. Diese liegt in schriftlicher Form vor. Sayakbai Karalajew hingehen schrieb seine Version nicht auf. Auf chinesischer Seite ist ein stärkerer redaktioneller Eingriff zu erkennen als auf kirgisischer.
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Die Version von Jusup Mamay bleibt mit etwa 230 000 Versen weit hinter dem Gigantismus der Version Savakbai Karalajevs zurück, zeigt jedoch die Abfolge von sieben Generationen nach Manas, während die kirgisische Version sich auf die Trilogie Manas, Semetey und Seitek beschränkt. In Jusup Mamays Version folgen zusätzlich die Episoden der Nachfolgegeneration nach Seytek: Kenenim, Seit, Asilbacha-Bekbacha, Sombilek und Chigitey.
Manas und die chinesische und kirgisische Kulturpolitik
Manas ist in Kirgistan und China sehr bekannt. Nähert man sich dem Thema jedoch von einem ideologischen oder politischen Standpunkt, kann man einige Reibungspunkte zwischen den beiden Staaten erkennen.
1995 feierte die junge Republik Kirgistan das 1000-jährige Bestehen das Manas Epos – nicht etwa das Helden Manas. Unter der Führung des damaligen Präsidenten Askar Akajew, dem ersten Präsidenten Kirgistans, orientierte sich das Land schnell in Richtung eines kulturellen und ethnischen Nationalismus, für den der Manas-Epos sowohl als wichtige Säule, als auch als Ziel diente.
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In dieser Zeit versuchte Askar Akajew, sowohl verschiedene ethnische Gruppen unter einer Flagge zu vereinen(„Kirgisistan, unser gemeinsames Zuhause“) und einen ethnisch kirgisischen Nationalismus auszubauen. Diese widersprüchliche kirgisische Identitätssuche zwang ihn dazu die Beziehungen zu China stärker auszubalancieren. Insbesondere der berühmten Episode des „großen Marsches nach Peking“, in der Manas das Reich der Mitte erschütterte, kam dabei große Bedeutung zu.
In seinem Buch Kyrgyz National Statehood and the National Epos Manas, behandelt Akajew die Frage rhetorisch, indem er unter anderem zeigt, dass Manas und seine Kriegerhorden Peking, die Hauptstadt des chinesischen Reiches, nicht angegriffen haben. Stattdessen hätten sie eine gleichnamige Stadt, den Sitz der feindlichen uighurischen Macht, angegriffen.
Die Eintragung des Manas als UNESCO Weltkulturerbe
Paradoxerweise geschah die Eintragung des Manas-Epos als Weltkulturerbe nicht auf Initiative Kirgisistans, sondern Chinas. Im Jahr 2009 schlug die chinesische Regierung, unter Berufung auf ihre kirgisische Minderheit, vor, Manas in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Dieser Versuch löste in Kirgisistan einen Aufruhr aus.
Zu dieser Zeit spielte das Epos nicht mehr die zentrale Rolle, die es unter Präsident Askar Akajew eingenommen hatte. Aber durch die Bemühungen mehrerer NGOs und später auch der kirgisischen Regierung wurde der Antrag schließlich unterstützt und der UNESCO vorgelegt. Am 4. Dezember 2013 setzte diese das Epos unter dem Namen „Manas, Semetey, Seytek: Kirgisische epische Trilogie“ auf die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit.
„Die Trilogie hilft jungen Menschen, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre natürliche Umwelt und die Völker der Welt besser zu verstehen und gibt ihnen ein Gefühl der Identität. Als Bestandteil der formalen Bildung fördert es Toleranz und Multikulturalität. „, so die Webseite der UNESCO über das Epos.
Diese Beschreibung ist das Ergebnis einer Wiederaufnahme des kulturellen Engagements der kirgisischen Regierung, besonders im Bereich des Manas-Epos. So ist seit 2010 beispielsweise auch eine Verordnung in Kraft, die das Studium der Trilogie in kirgisischen Schulen und Universitäten vorschreibt.
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Nach den Angaben der UNESCO existiert diese mündliche Tradition des Manas „sowohl in Kirgisistan, als auch in China“. Die Unterschiede zwischen den beiden Versionen werden allerdings nicht erwähnt. So wird Kirgistan ein Eigentumsrecht am Epos zugeschrieben und der Eindruck vermittelt, als wäre die dreiteilige Form der kirgisischen Version dessen unveränderlicher Charakter.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den beiden Ländern die mündliche Tradition im Zentrum zahlreicher Interessen steht. Dies schützt das Epos einerseits vor einem möglichen Aussterben. Andererseits wird es so aber auch stark ideologisch aufgeladen und beeinflusst.
Julien Bruley
Doktorant der Anthropologie, Université de Lille
Aus dem Französischen von Janny Schulz
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