Mitte Oktober 2017 siedelte die kirgisische Regierung mehrere Familien der Pamir-Kirgisen aus Afghanistan in die Region Naryn in Kirgistan um. Korrespondenten von Kloop.kg besuchten sie, um herauszufinden, wie sie an dem neuen Ort leben und was sie als nächstes tun werden. Wir übersetzen und veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Das Dorf Kulanak ist 30 Kilometer von Naryn entfernt. Um hierher zu kommen und sich mit Pamir-Kirgisen zu treffen, die hier seit weniger als einen Monat leben, fährt man von Bischkek fünf Stunden.
Die Menschen aus dem Pamir Gebirge wurden vorübergehend in der Herberge der örtlichen Berufsschule untergebracht. Über dem Eingang hängt ein Banner: „Willkommen, Pamir-Verwandte!“. Ein Polizist, der das Territorium der Herberge bewacht, warnt Journalisten davor, dass die Gäste aus Afghanistan Reportern überdrüssig seien. Jeden Tag kämen Journalisten hierher. Oft drehen zwei Fernsehkanäle gleichzeitig eine Reportage über die Pamir-Kirgisen und die ausländische Gäste sind nicht besonders glücklich darüber, sagt er.
Rettungsumsiedlung
Die Temperatur im ersten Stock der Herberge unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Temperatur auf der Straße. Die Pamiri-Familien wurden auf der zweiten Etage untergebracht, dort ist es viel wärmer und gesitteter. Es wird klar, dass vor kurzem Reparaturen gemacht und einige neue Möbel aufgestellt wurden. Allerdings scheinen sich die Gäste in ihrem neuen Zuhause etwas zu langweilen. Während die Pamir-Männer im Foyer sitzen und sich ein Konzert kirgisischer Volksmusik im Fernsehen anschauen, kleben fast alle Teenager an ihren Smartphones.
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Die Behauptung des Polizisten aus dem Erdgeschoss stellt sich als berechtigt heraus. Beim Versuch mit den Pamiri darüber zu reden, wie ihre Gewöhnung in Kirgistan abläuft, sind sie nicht sehr gesprächig und nicken nur mit dem Kopf – es sei alles ist in Ordnung.
Plötzlich treffen wir eine Frau in einem weißen, medizinischen Kittel im Foyer – eine Notärztin. Es stellte sich heraus, dass eine der jungen Pamiri-Frauen vor der Abreise nach Kirgisistan ein Kind zur Welt brachte, das sofort starb. Jetzt leidet sie an postnatalen Schmerzen – Ärzte bringen sie mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus.
Nach der Ankunft waren die Pamiri unter strenger medizinischer Überwachung — vier von ihnen leiden an Herzkrankheiten, sechs andere an Sauerstoffmangel. Die Ärzte sagten dann, dass die Ankunft in Kirgistan eine Rettung für diejenigen war, die mit einem Herzfehler im Pamir lebten.
„Mein Volk ist dir dankbar“
Wir kamen an einem Wochenende, als die Gäste aus Afghanistan keine Ausbildungskurse hatten. An Wochentagen lernen sie die kirgisische Sprache und Mathematik. In ihrer Freizeit sind die Teenager sich selbst überlassen, bis jetzt haben die lokalen Behörden keine zusätzlichen Aktivitäten für sie organisiert.
„Wir gehen auf die Straße, haben aber keine Bälle zum Spielen“, klagen sie. Später stellt sich heraus, dass sie keine warme Kleidung und geeignete Schuhe zum Spielen besitzen. Ihre Schuhe, die auf der Schwelle stehen, fallen buchstäblich auseinander. In der Herberge laufen die Kinder in Pantoffeln.
Auf die Frage, ob es ihnen in Kirgisistan gefällt, antworten die Kinder fast im Chor: „Das Land ist gut, die Menschen sind gut!“ als hätten sie diese Antwort auswendig gelernt.
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Ein siebenjähriges Mädchen sitzt in einem der Räume und versucht, aus buntem Papier eine Blume zu basteln. Sie hat rötliche, verwitterte Wangen, ein paar Zöpfe auf dem Kopf und ein rotes Kleid. Ihr Name ist Kairinisa und auch sie kam mit ihrer Familie nach Kirgistan.
Das Mädchen bringt uns in den Klassenraum und zeigt ihre Notizbücher für Kirgisisch und Mathematik. Zum Unterrichten kommen Lehrer aus der örtlichen Schule. Es ist offensichtlich, dass Kairinisa wirklich studieren will. Sie erzählt von ihren Plänen, in Kirgisistan eine Ausbildung zu machen und Ärztin zu werden, um dann Patienten in Pamir zu behandeln. Aber momentan haben die Pamir-Kinder und Jugendliche erst einige Buchstaben des kirgisisch-kyrillischen Alphabets gelernt.
Kairinisa rezitiert ein Gedicht, das ihr Tursun-apa beigebracht hat: Tursun Kochkarbaeva, eine Lehrerin, die extra aus Naryn zum Unterrichten kommt:
Die Felsspitzen bis zum Himmel,
Die Felder sind grün mit Gras,
Wir wurden herzlich begrüßt
Vom geehrten kirgisischen Volk.
Sechs Familien wurden in Naryn umgesiedelt – insgesamt 33 Menschen. Davon sind 16 Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 17 Jahre. Unter den Jugendlichen sind zwei Söhne des verstorbenen Turdakun Adshy Atabek Uulu, einem ehemaligen Mitglied des afghanischen Parlaments.
Einer von ihnen, der 15-jähriger Abdullalim, absolvierte die neunte Klasse im Tadschikischen Bergland – Badachschan. Er sagt, dass die kirgisischen Lehrer seine Schulkenntnisse auf die fünfte Klasse eingestuft haben und jetzt macht er sich Sorgen, weil er in Kirgistan vier Jahre hinter seinen Altersgenossen steht.
Abdullalim glaubt, dass die Lehrer in Kirgisistan die Pamiri gut unterrichten. Er hat bereits angefangen, auf Kirgisisch zu schreiben. Aber wenn er den lokalen Studienplan nicht mithalten kann, wird er nach Afghanistan zurückkehren. um dort die Schule zu beenden. In zwei Abdullalim glaubt, dass die Lehrer in Kirgisistan die Pamiri gut unterrichten. Er hat bereits angefangen, auf Kirgisisch zu schreiben. Aber wenn er den lokalen Studienplan nicht mithalten kann, wird er nach Afghanistan zurückkehren. um dort die Schule zu beenden. In zwei Jahren möchte er zur Universität gehen.
„Wir haben nichts zu tun“
Der 43-jährige Saidirachman Appai Uulu kam mit seiner Familie nach Kirgistan: Seine Frau, zwei Söhne und zwei Neffen. Sein ganzes Eigentum hat er seinem Bruder anvertraut.
Vor einem Jahr wurde die Familie von Saidirachman auf die Liste der Aussiedler aufgenommen, die ihren Kindern eine Ausbildung in Kirgisistan geben können. Danach begann er, Pässe für die ganze Familie zu machen. Vorher hatten sie keine Ausweise. Die Registrierung jedes Passes, sagt der Pamirer, kostete ihn 6000 afghanische Afghani – das sind ungefähr 6000 kirgisische Som (70,37 Euro).
Saidirachman lebt in einem Zimmer mit seiner Frau und einem seiner Söhne. Dort befinden sich zwei Betten, ein Kleiderschrank, ein Tisch mit einem Stuhl und mehrere Zimmerpflanzen. Auf dem Boden liegt ein roter Teppich. Die Anpassung an das Leben in Kirgistan hat keine Schwierigkeiten für seine Familie bereitet, sagt der Pamirer. Saidirachman und seine Frau, Rabia, haben in sechs Tagen 2500 Kilometer überwunden, in der Hoffnung, dass ihre Kinder eines Tages Lehrer oder Ärzte werden können.
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„Der Staat versorgt uns mit Essen. Also sitzen wir. Die Kinder lernen und nach dem Mittagessen gehen wir auch zur Schule, allmählich unterscheiden wir die Buchstaben. Momentan haben wir nichts zu tun: Keine Arbeit. Mit der Sprache haben wir keine Probleme. Unsere Sprache ist das gewöhnliche Kirgisisch. Euer Kirgisisch ist mit dem Russischen gemischt, deswegen verstehen wir euch manchmal nicht“, sagt Saidirachman.
Rabia ist in einem traditionellen roten Kleid mit goldenen Mustern gekleidet. Pamir-Frauen sind so daran gewöhnt, dass sie sich weigerten, dunklere Kleidung zu tragen, die ihnen bei der Ankunft gegeben wurde. Sie versteht unsere Fragen nicht und schaut die ganze Zeit auf ihren Mann. „Erzähl doch, wie man dir beibringt, Kesme und Manty (traditionelle, kirgisische Nudelgerichte) zuzubereiten“, flüstert er ihr zu. Stattdessen beschreibt seine Frau ein wenig bedauernd ihren Tag: „Wir frühstücken, essen zu Mittag und dann waschen wir die Wäsche und lernen, dann kommt der Abend. Wir wollen rausgehen, uns umsehen, uns die Stadt anschauen und durch die Basare gehen. Aber sie lassen uns nicht raus.“
Ihr 18-jähriger Sohn, Habibirachman, hat die neunte Klasse in Tadschikistan beendet und ist sich noch nicht sicher, ob seine Familie in Kirgistan bleiben wird. „Dort gibt es Krieg, deswegen konnten wir nicht frei auf den Straßen gehen. Hier ist es gut und alle leben friedlich miteinander“, vergleicht er seine Heimat mit Kirgistan.
Sein Vater fügt hinzu, wenn der Staat seiner Familie Land und ein Haus zuweisen würde, würden sie hier Fuß fassen und ihr eigenes Leben führen. Kürzlich übergaben die kirgisischen Behörden ein Haus der Familie einer Pamir-Frau, die in Kirgisistan einen Sohn zur Welt brachte, einen Jungen namens Almazbek. „Wie das Schicksal der anderen fünf Familien aussieht, ist unklar“, seufzt Saidirachman.
Rausgehen ist verboten
Es ist Zeit fürs Mittagessen. Heute gibt es Suppe mit Schafsfleisch. Das war ein Geschenk von Anwohnern. Vor drei Wochen haben sie die Pamiri herzlich begrüßt und wollen nun mit ihnen sprechen und ein Erinnerungsfoto machen, aber die lokalen Behörden erlauben es ihnen noch nicht. Einige Einwohner von Naryn und den umliegenden Dörfern sind sogar bereit, eine Familie oder einen Jugendlichen aufzunehmen, um sie im Alltag zu begleiten und bei der Anpassung an die moderne Gesellschaft zu helfen.
Der Migrationsdienst erklärt, dass solange die Pamiri noch unter Aufsicht der Ärzte stehen, es ihnen vorübergehend verboten ist, die Herberge zu verlassen. „Sie sind an die Hochlandbedingungen gewöhnt, daher ist es notwendig, sie zwei Monate in der Quarantänezone zu bewahren und ihre Gesundheit stets zu überwachen. Wenn sie jetzt eine einfache Grippe bekommen würden, wäre es viel schwieriger diese zu heilen als zum Beispiel bei den Anwohnern. Sie müssen sich erst an die klimatischen Bedingungen gewöhnen. Danach können sie selbst entscheiden, wann und wo sie spazieren gehen wollen“, so Almazbek Asanbaev, der stellvertretende Vorsitzende des staatlichen Migrationsdienstes.
Zudem verspricht Shypara Mambetova, Leiterin der Abteilung für die Arbeit mit Rückkehrern, dass die kirgisische Regierung die Pamiri nicht ihrem Schicksal überlässt, sondern sie unterstützen wird. Sie sagt, dass sie sich nach dem Ende der Quarantäne und Anpassungszeit, in einem Monat, in verschiedenen Gebieten der Naryn-Region niederlassen werden. Dort sind für sie „alle Bedingungen“ für das Leben getroffen worden. „Die Pamir-Kirgisen haben eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre bekommen. Wie könnten wir sie diese fünf Jahre ohne Unterstützung und Hilfe auf sich allein lassen? Wir werden alles tun, damit sie ein eigenständiges Leben hier in Kirgistan führen können“, sagt sie.
Aus dem Russischen von Nargiza Weber
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