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Die islamistische Radikalisierung der zentralasiatischen Jugend – Mythos oder Realität?

Der amerikanische Politikwissenschaftler Paul Kubicek (Universität Auckland) untersucht die Frage, welche islamistischen und radikalen Ansichten in Zentralasien Unterstützung finden. Seine Studie Islamist Political Orientations among Central Asian Youth ist vor Kurzem in der wissenschaftlichen Zeitschrift Europe-Asia Studies veröffentlicht worden. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Samarkand Khodja Zudmurod Moschee
Männer beim Freitagsgebet vor der Khodja Zudmurod Moschee in Samarkand.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Paul Kubicek (Universität Auckland) untersucht die Frage, welche islamistischen und radikalen Ansichten in Zentralasien Unterstützung finden. Seine Studie Islamist Political Orientations among Central Asian Youth ist vor Kurzem in der wissenschaftlichen Zeitschrift Europe-Asia Studies veröffentlicht worden. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Wiederbelebung des Islam in Zentralasien begann. Neue Moscheen und religiöse Schulen werden eröffnet, Sufi-Orden ins Leben gerufen, immer mehr Menschen fasten im Ramadan und lesen islamische Schriften – schließlich identifizieren sich viele Menschen in der Region als Muslime. Allerdings schürt diese Wiederbelebung auch die Angst vor einer Radikalisierung des Islam. Die Anschläge vom 11. September 2001 sowie die Erfolge der Taliban in Afghanistan und der in Russland verbotenen Terrororganisation IS, die viele Dschihadisten aus Zentralasien aufnahm, haben zu Angst vor islamistischen Aufständen geführt, vor allem vonseiten radikaler Jugendlicher.

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Die Gerüchte über Tausende kirgisische und tadschikische Jugendliche, die früher für den IS gekämpft hätten, jetzt aber in ihre Heimat zurückgekehrt und bereit seien, die Regierung durch die Einführung der Scharia zu stürzen, werden nicht nur von den wichtigsten Repräsentanten der Staaten (für die diese Gerüchte Anlass für verstärkte Kontrollen bieten) wiederholt. Sie wurden auch von internationalen Organisationen aufgegriffen, die immer wieder vor der Hinwendung junger und armer Kirgisen zum radikalen Islam warnen.

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Aber wie berechtigt sind diese Befürchtungen? Inwieweit unterstützen junge Menschen (unter 30) radikale oder „extremistische“ Ansichten über den Islam? Um eine fundierte Antwort auf diese Fragen zu geben, haben Wissenschaftler seriöse Meinungsumfragen untersucht, die in den 2010er Jahren in der Region durchgeführt wurden. Dabei handelt es sich in erster Linie um den Global Muslim Survey, den das American Pew Research Center in Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan in den Jahren 2011–2012 durchgeführt hat. Die Teilnehmer der Umfrage wurden nach den Prinzipien und Normen ihres Glaubens, ihres Verhaltens und ihrer Unterstützung für radikale Ansichten befragt. Das komplexe, sensible und oft gefährliche Themengebiet der Religion wurde jedoch nicht durch eine Fragebogenerhebung, sondern ausschließlich durch persönliche Interviews untersucht.

In der Wissenschaft wurde die Frage nach den Ursprüngen des islamischen Radikalismus lange und kontrovers diskutiert. Einige ihrer Vertreter suchen die Erklärung in den sozialen Verhältnissen: Unter Bedingungen von Ungleichheit, Autoritarismus, Repression und skrupellosem Kapitalismus bieten Islamisten ein attraktives Bild einer gerechteren Gesellschaft und eines anständigen Lebens. Andere sehen in der Schwäche des Staates die Ursache: Sein Rückzug aus sozialen Funktionen würde die Religionsgemeinschaften dazu zwingen, die Kontrolle über die Gesellschaft zu übernehmen und strengere Gesetze zu erlassen. Wenn diese Hypothesen richtig sind, dann müssten im armen Tadschikistan und in Kirgistan mit seinem relativ schwachen Staat radikal-islamische Einstellungen stärker sein als im vergleichsweise wohlhabenden Kasachstan.

Die größte Moschee in Kasachstan: Nur-Astana.

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Andere Studien argumentieren, dass arme junge Männer (und Frauen) mit niedrigem Bildungsniveau die ersten sind, bei denen der radikale Islam Anklang findet. Dieser These wurde jedoch entgegnet, dass das Bildungsniveau der IS-Rekruten aus Zentralasien über dem Durchschnitt liegt. In anderen Ländern, von Tunesien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, schließen sich oft wohlhabende oder gar sehr reiche Menschen radikalen Gruppierungen an. Vielleicht geht es weniger um den sozialen Status der „Extremisten“ als vielmehr um die Sehnsucht nach einem mächtigen System, das die Welt erklärt und dem Leben einen Sinn gibt.

Darüber hinaus gibt es noch ein sehr konkretes Argument, warum junge Menschen in Zentralasien dem islamischen Radikalismus eher zugeneigt sind als die ältere Generation. Die älteren Menschen und Menschen mittleren Alters, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, hatten weitaus weniger Möglichkeiten gehabt, sich aus verschiedenen Quellen über Religion zu informieren.

Junge Menschen sind gleichgültig

Doch wie viel Wahrheit steckt in diesen Theorien? Wer hält sich in Zentralasien für gläubig, und in welcher Form manifestiert sich dieser Glaube? Das Klischee, dass junge Menschen (Menschen unter 30) religiöser als ältere seien, hält wissenschaftlichen Untersuchen jedenfalls nicht stand. Nach allen Hauptindikatoren des islamischen Glaubens (mindestens einmal am Tag beten, mindestens einmal in der Woche den Koran lesen, Fasten während des Ramadan, das Leben nach den Bräuchen – der Sunna, die Bedeutung des Glaubens im persönlichen Leben eines Menschen) sind junge Menschen hier weniger aktiv. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Gebet: Während die Gesamtbevölkerung mindestens einmal am Tag betet – von 10 Prozent (Kasachstan) bis 47,2 Prozent (Tadschikistan) – so waren es bei den Jugendlichen jeweils lediglich ca. 6–36 Prozent.

Was die Lektüre des Korans, das Fasten sowie das Vertrauen in die Bedeutung des Glaubens für das eigene Leben betrifft, so lag die jüngere Generation auch hier hinter der älteren, und nur bei der Frage, die keinen besonderen Nachweis darüber verlangt, wie sehr man nach Sunna und Hadith lebt, erwiesen sich die Jugendlichen als religiöser (9,6 vs. 8,6 Prozent in Kasachstan, 14,9 vs. 14,4 Prozent in Kirgistan, 17 vs. 16,7 Prozent in Usbekistan). Im Vergleich mit anderen Ländern der Region hat sich Kasachstan in der Tat als das am wenigsten religiöse Land erwiesen, mit einem großen Abstand zu allen seinen Nachbarn.

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Und wie steht die zentralasiatische Bevölkerung zu radikaleren islamistischen Ideen? Diese Wahrnehmungen wurden von den Autoren der Umfrage mit folgenden Fragen getestet: Inwieweit unterstützen Sie den Einfluss der Scharia auf das staatliche Recht? Sollten religiöse Führer die Politik sowie Familien- und Eigentumsstreitigkeiten beeinflussen? Und: Sind islamische Parteien säkularen Parteien überlegen? In Kirgistan und Tadschikistan unterstützte eine hohe Zahl von Menschen die Legitimierung der Scharia (40 bzw. 33,7 Prozent), die Autorität religiöser Persönlichkeiten in Familienangelegenheiten (45,8 bzw. 35,3 Prozent) und islamischer Parteien (40,1 bzw. 31,6 Prozent), während die Kasachen in allen Fragen sehr zurückhaltend waren. In Usbekistan konnten diese Fragen aus Zensurgründen nicht gestellt werden. Insgesamt zeigte sich, dass die jungen Menschen nicht mehr und nicht weniger islamistischen Ideen zugeneigt waren als die älteren Generationen. Die einzige Ausnahme ist, dass die tadschikische Jugend die islamischen Parteien um 5 Prozent mehr unterstützt.

Jung und Alt beten gemeinsam

Schließlich stellte die Studie auch Fragen zur Unterstützung tatsächlicher extremistischer Praktiken. Einige Zahlen geben zu denken. So wurde die Steinigung von „Ungläubigen“ von 6,5 Prozent der Kasachen (9,1 Prozent der Jugendlichen), 27,7 Prozent der Kirgisen (28,8 Prozent der Jugendlichen) und 27,9 Prozent der Tadschiken (33,2 Prozent der Jugendlichen) unterstützt; die Todesstrafe für die Aufgabe des Islam unterstützten 0,8 Prozent in Kasachstan (0,3 Prozent), 9,6 Prozent in Kirgistan (8,9 Prozent), 9,4 Prozent in Tadschikistan (8,9 Prozent) und Selbstmordattentate zum Schutz des Islam unterstützten 2,2 Prozent in Kasachstan (2,4 Prozent der Jugendlichen), 11,5 Prozent in Kirgistan (11,1 Prozent) und 3 Prozent der Tadschiken (2,8 Prozent). Schließlich unterstützten 3,8 Prozent der Befragten in Kasachstan (4,4 Prozent der Jugendlichen), 16,5 Prozent in Kirgistan (14,8 Prozent), 24,8 Prozent in Tadschikistan (27,8 Prozent) und 12,5 Prozent in Usbekistan (15,3 Prozent – die einzige Frage, welche es durch die Zensur in Usbekistan geschafft hast) die „Ehrenmorde“ an als ungläubig oder liederlich gebrandmarkten Frauen.

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Es ist erstaunlich, dass selbst unter Bedingungen strenger staatlicher Kontrolle eine bedeutende Minderheit in Zentralasien bereit ist, Untreue hart zu bestrafen und familiäre Probleme im Allgemeinen unter strengen Gesetzen zu lösen (Tod für das Abfallen vom Glauben sowie das Verüben von Terroranschlägen sind weitaus weniger gebilligt). Allerdings besteht Hoffnung, dass der Zusammenbruch des IS, der viele Radikale angezogen hat, und andere Ereignisse der letzten Jahre die Popularität extremistischer Interpretationen des Islam verringert haben.

Spontaner Islamismus

Die zentrale Hypothese des Wissenschaftlers – die besondere Neigung der Jugend zum radikalen Islam – hat sich nicht bestätigt. In vielen Fällen nehmen Menschen unter 30 Jahren die formalen Anforderungen des Glaubens sogar weniger ernst und unterstützen den islamischen Radikalismus weniger stark. Warum dies so ist, kann teilweise durch die Antworten auf einen speziellen Fragenblock zur Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Situation, der Entwicklungsrichtung des Landes und dem politischen Leben erklärt werden. Bei allen Parametern waren die jungen Menschen zufriedener mit dem Leben als die älteren und sind vermutlich deshalb nicht so sehr dem islamischen Radikalismus zugeneigt. Auch die Migration nach Russland durch den proaktivsten Teil der Jugend der Region spielt eine Rolle.

Gleichzeitig haben sich neben dem Alter weitere Faktoren herauskristallisiert, die zur Radikalisierung beitragen. In Kirgistan neigen die Bewohner der südlichen und zentralen Regionen des Landes sowie der Dörfer eher zu einer strengen Auslegung des Islam. Auf diese Einstellungen hat die soziale Lage nur einen geringen Einfluss: Anhänger der Scharia und der Islamisierung des politischen Lebens finden sich sowohl unter den wohlhabenden als auch unter den bedürftigen Bürgern. Es wurde jedoch ein wichtiges Muster gefunden: In Kirgistan und Tadschikistan besteht eine statistisch signifikante Korrelation zwischen der Häufigkeit des Gebets und der Unterstützung islamistischer/„extremistischer“ Ansichten.

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Doch selbst wenn wir offen radikale Ansichten ausschließen, können wir feststellen, dass eine beträchtliche Zahl von Zentralasiaten den Islamismus in der einen oder anderen Form unterstützt. Selbst in Kasachstan ist mehr als ein Viertel der Befragten der Meinung, dass religiöse Führer einen gewissen Einfluss auf die Politik haben sollten. Wie der Wissenschaftler schreibt, wäre es eigentlich logisch anzunehmen, dass einige politische Kräfte diese Wahlressource versucht hätten auszunutzen, was jedoch nicht geschehen ist. Der Grund dafür ist höchstwahrscheinlich, dass offen islamistische Parteien in der Region als Bedrohung empfunden und verboten werden, und der maximal zulässige „Islamismus“ in den freieren Ländern der Region der der „Islamo-Demokraten“ wie Tursunbai Bakir-Uulu (Kirgistan) oder Bekbolat Tleukhan (Kasachstan) ist, die Angst davor haben, die islamische Karte gegen die bestehenden Regime auszuspielen.

Im Vergleich zu anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit (so etwa in Ägypten, Indonesien, Malaysia, Tunesien oder der Türkei) wirkt der islamische Faktor in der Politik der zentralasiatischen Republiken äußerst zurückhaltend. Clans, Landsleute, Patron-Klientel-Beziehungen und die Privatwirtschaft bestimmen die Politik in viel stärkerem Maße. Dies kann sich jedoch noch ändern: Wachsende Ungleichheit, die Wirtschaftskrise und korrupte Führungseliten können den Islam (und nicht etwa nur Extremisten) zu einer mächtigen Kraft in der Politik der Region machen, sagt der Wissenschaftler.

Artem Kosmarskiy für Fergana News

Aus dem Russischen von Hannah Riedler

 

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