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Der Kampf gegen häusliche Gewalt in Kirgistan: Gesetze und Realität

In den letzten Jahren vermehren sich in Kirgistan die Reformen zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt. Trotz der Bemühungen bleibt die Situation jedoch weiterhin unverändert.

Openline Kirgistan Kampagne Häusliche Gewalt
Ausschnitt einer Kampagne gegen häusliche Gewalt der kirgisischen Stiftung "Open Line".

In den letzten Jahren vermehren sich in Kirgistan die Reformen zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt. Trotz der Bemühungen bleibt die Situation jedoch weiterhin unverändert.

Es ist ein heikles Thema für die kirgisische Regierung. Seit mehreren Jahren steht das zentralasiatische Binnenland wegen der Häufigkeit an Fällen häuslicher Gewalt, insbesondere Gewalt unter Ehepartnern, in der Kritik. Nach Angaben von Human Rights Watch werden der Polizei jedes Jahr fast 10 000 Fälle häuslicher Gewalt gemeldet. Im Jahr 2019 registrierte das Innenministerium 8.159 Fälle. In rund 86 Prozent der Fälle hatte das Opfer die Klage zurückgezogen. Die verbleibenden 14 Prozent umfassen je zur Hälfte laufende Verfahren und solche, die einem Richter vorgelegt wurden.

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Laut nationalen Statistiken ist Alkoholmissbrauch in 70 Prozent der Fälle die Ursache für Gewalteskalation in Familien. Zudem ist laut einer MICS-Umfrage des statistischen Komitees aus dem Jahr 2018 ein Drittel der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren der Ansicht, dass der Ehemann das Recht hat, seine Frau zu schlagen, wenn sie sich nicht ausreichend um die Kinder kümmert, schlecht kocht oder sich weigert, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Ein altes Problem

Das Problem der häuslichen Gewalt ist ein langjähriges Problem für Kirgistan. Vor dem Hintergrund verabschiedete das kirgisische Parlament Ende 2016 eine Strafrechtsreform, das verschiedene Formen von Delikten in Ordnungswidrigkeiten, Vergehen und Straftaten umorganisierte. Mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzbuches für Vergehen, wurde häusliche Gewalt von einer Ordnungswidrigkeit zu einem Vergehen. Dadurch fallen auch härtere Strafen für die Täter an.

Häusliche Gewalt wird somit mit gemeinnütziger Arbeit oder mit einer erhöhten Geldstrafe (von 30.000 bis 60.000 Som bzw. etwa 336 bis 790 Euro) geahndet, die jedoch aus dem Familienbudget bezahlt wird. Das ist eine Erklärung, warum Frauen selten rechtlichen Schritte unternehmen oder das gesetzlich vorgesehene Verfahren zur Versöhnung der Ehepartner in Anspruch nehmen. Zudem ist keine Verhaftung vorgesehen, was es so gut wie unmöglich macht, den Angreifer von seinem Opfer zu isolieren.

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So bildet sich ein Teufelskreis: Geschlagene Frauen ziehen ihre Beschwerden zurück und kehren dann Heim. Die Angreifer handeln ungestraft, ohne dass die Polizei eingreifen kann.

Genau ein Jahr nach der Umsetzung der Strafrechtsreform begann das Jahr 2020 mit zwei mörderischen Fällen häuslicher Gewalt. In der Nacht vom 31. Dezember 2019 auf den 1. Januar 2020 starb eine 36-jährige Mutter an den Folgen der Schläge ihres Mannes. Die Familie der Verstorbenen war sich der Gewalt in ihrer Familie bewusst, blieb jedoch passiv und förderte nur eine Versöhnung. Einige Tage später, in der Nacht vom 3. auf den 4. Januar, starb eine weitere 26-jährige Frau an den Schlägen und Verbrennungen, die ihr Mann ihr zugefügt hatte.

Diese tragischen Ereignisse lösten eine der ersten gesellschaftlichen Debatten des Jahres aus und relativierten die Effektivität gesetzlicher Maßnahmen gegen häusliche Gewalt.

Eine lang erwartete Reform…

Tatsächlich ist die Strafrechtsreform nur die letzte in einer längeren Reihe. 2017 verabschiedete Kirgistan ein Gesetz „zum Schutz und zur Verteidigung gegen häusliche Gewalt“, eine der progressivsten Regelungen dieser Art im postsowjetischen Raum. Dies ermöglicht insbesondere die automatische Einführung einer wirksamen Schutzanordnung, sobald Beweise für häusliche Gewalt vorgelegt werden. Zumal können auch Drittpersonen das Vergehen bei der Polizei melden. Das Einverständnis des Opfers, das möglicherweise unter Druck steht, ist für ein Einschreiten der Polizei nicht mehr erforderlich.

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In ähnlicher Weise ermöglicht dieses Gesetz erstmals die Durchführung psychologischer Arbeit nicht nur mit dem Opfer, sondern auch mit dem gewalttätigen Ehepartner. Diese Arbeit ist entscheidend, um Wiederholungen zu vermeiden, wird aber in der Praxis aus Mangel an Mitteln vernachlässigt, wie Tolkun Tiulekowa, Direktorin der Vereinigung der Krisenzentren Kirgistans, in einem Interview mit News-Asia beklagte.

…die aber unvollendet bleibt

Trotz dieser Bestimmungen ist es für die Opfer nach wie vor schwierig, ohne die Unterstützung einer Nichtregierungsorganisation (NGO) eine Reaktion der Behörden zu bewirken. Schutzanordnungen können zu Beginn nur für drei Tage beantragt werden und dann auf 30 Tage verlängert werden. Darüber hinaus bleiben sie aufgrund mangelnder Klarheit über die Zuständigkeiten der einzelnen Dienststellen weitgehend wirkungslos.

Tatsächlich mobilisiert das System mehrere Institutionen, darunter auch NGOs, die von einem Ad-hoc-Gremium koordiniert werden sollen. Die verschiedenen Dienste können sich nicht auf die Abgrenzung ihrer Mandate. Nach den jüngsten Ereignissen plant Premierminister Muchammetkalyi Abylgasijew die Schaffung dieses lebenswichtigen Gremiums zu „beschleunigen“.

Wille, aber wenige Mittel

Abgeordnete, Anwälte und NGO-Aktivisten haben die Ineffektivität dieses unvollendeten Gesetzes von 2017 heftig kritisiert. Die NGO Human Rights Watch stellte in ihrem Bericht vom Mai 2019 insbesondere „eine Inkonsistenz oder Ineffektivität“ bei der Umsetzung der geplanten Maßnahmen zur Stärkung der Sicherheit von weiblichen Gewaltopfern fest.

Der Mangel an Finanzmitteln, Personal und einer Koordinierungsstelle für die Dienste macht das Schutzmandat in der Tat zu einem „Stück Papier“, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass seine Definition sehr vage bleibt.

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Darüber hinaus führen laut dem Bericht von Human Rights Watch lokale NGOs die meisten Aufgaben durch, wobei sie mir sehr begrenzten Mitteln arbeiten. Sie bedauern insbesondere den Mangel an Schutzunterkünften: Es gibt jeweils zwei in der Hauptstadt Bischkek und in Osch, der zweitgrößten Stadt des Landes, und einige weitere, die aus Mangel von staatlicher Hilfe von Schließung bedroht sind. Zumal ist die Unterbringung in solchen Unterkünften auf drei Monate beschränkt.

Ein missverstandenes Problem

Die jüngsten Reformen wurden von Experten für unzureichend erachtet, zumal die Strafrechtsreform teilweise die Durchsetzung des Gesetzes von 2017 erschwert. Vor der jüngsten Reform konnte die Polizei besonders aggressive, betrunkene Angreifer mehrere Tage in Gewahrsam halten, nun sind es nur noch ein paar Stunden. Tieferliegende Anliegen, wie Alkoholprobleme oder finanzieller Schwierigkeiten des Ehemannes, bleiben weiterhin von der Reform unberührt.

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In vielen Fällen deckt die Familie den gewalttätigen Ehemann und in vielen Familien gilt Gewalt gegen Frauen und Kinder weithin als harmlos oder als eine traurige Gewohnheit, wie das russischsprachige Medium Fergananews beschreibt. Tiulekova formuliert eine weitere Erklärung: Kinder führen die Gewalt oft fort, wenn sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo Liebe und Familie nicht ohne Gewalt und Tragödie überleben können.

NGOs und spezialisierte Regierungsdienste berichten über ein weiteres Problem: Das mangelnde Bewusstsein der Opfer und der Strafverfolgungsbeamten für die Rechte der Opfer von häuslicher Gewalt. Wie Tiulekova sagt, hätte die Regierung ihre Bemühungen stärker auf die Bildungsreform und eine gründlichere Arbeit an lokalen Mentalitäten konzentrieren sollen.

Maysan Amri, Autorin für Novastan France

Aus dem Französischen von Florian Coppenrath

 

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