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Der IS in Zentralasien – ein Mythos?

Immer wieder weisen große Medien und zentralasiatische Regierungen auf die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS) und seine mögliche Ausbreitung in Zentralasien hin. Die kirgisische Forscherin und Kolumnistin für das Projekt Central Eurasian Scholars and Media Initiative, Gulrano Ataeva, ehemals Beraterin der OSZE in Osch, schildert ihre Sichtweise.

Luisa Podsadny 

Syrien Bürgerkrieg Kurden Zentralasien
Syrien Bürgerkrieg Kurden Zentralasien

Immer wieder weisen große Medien und zentralasiatische Regierungen auf die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS) und seine mögliche Ausbreitung in Zentralasien hin. Die kirgisische Forscherin und Kolumnistin für das Projekt Central Eurasian Scholars and Media Initiative, Gulrano Ataeva, ehemals Beraterin der OSZE in Osch, schildert ihre Sichtweise.

Ich komme aus Osch, einer der religiösesten Städte Kirgistans. Wenn ich Nachrichten über hunderte Männer und Frauen aus Zentralasien lese, die sich in Syrien dem Dschihad anschließen, frage ich mich, was diese Geschichten mit meiner eigenen Stadt zu tun haben.

Zentralasien wird in lokalen und westlichen Medien immer wieder als Nährboden für religiösen Extremismus dargestellt. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, wie diejenigen, die zu oft kollektiv verdächtigt werden, mit extremistischen Bewegungen wie dem IS zu sympathisieren, den Islam tatsächlich leben.

Es ist wahr, wenn man durch Osch geht, fällt auf, dass sich immer mehr junge Menschen nach islamischen Regeln kleiden und viele neue Moscheen gebaut werden. Es scheint aber, dass religiöse Überzeugungen und Praktiken vielmehr im Vertiefen als im Aufkommen begriffen sind, wie der Kommentar einer Frau im Hidschab zeigt: „Die Frage ist nicht mehr, ob man einen Hidschab trägt oder nicht, sondern wie man ihn richtig trägt.“ Doch während man vor mehreren Jahren ein religiöses Mädchen an ihrem fest sitzenden Kopftuch und ihrer langen Kleidung erkennen konnte, gibt es jetzt verschiedene stilvolle Arten, ein Kopftuch zu tragen und Kleidung, die mit der neuesten Mode mithält – der Islam wird nicht nur stärker, sondern auch diverser.

Islam und Selbstfindung

Natürlich geht es nicht nur um ordentliche Kleidung. Darüber hinaus gibt es zum Beispiel wöchentliche Treffen von Frauen, die unter der Anleitung von Atynchas, weiblichen islamischen Gelehrten, den Koran lesen. Sie sind ein weit verbreitetes Phänomen in vielen Ortschaften und zumeist wohnen ihnen ältere Frauen bei, die keine Verpflichtungen mehr im Haushalt und der Kinderbetreuung haben. Ich hatte die Möglichkeit, den Inhalt, die Form und die Ideologie dieser Treffen zu erleben. Eine Gruppe besteht normalerweise aus einer Atyncha, die den Koran liest, und acht bis zehn Frauen, die ihre Worte nacheinander wiederholen. Sie korrigiert die Aussprache und kommentiert die Intonation der Frauen auf Grundlage des Tadschwid, den Regeln zur richtigen Aussprache und Rezitation des Koran.

Sie diskutieren ebenso die Bedeutung der Aya (Verse), manchmal, indem sie sie Zeile für Zeile übersetzen. Das übergeordnete Ziel ist es, den ganzen Koran rezitieren zu können. Bevor sich die Teilnehmerinnen mit dem Koran befassen, wird von ihnen verlangt, die grundlegenden islamischen Regeln zu studieren, so die fünf Säulen des Islam. Sie lernen die fünfunddreißig Fard (Regeln), sechs Kalima (Worte) des Glaubens, wie die Waschung vollzogen wird und Namaz, das tägliche Gebet. Außerdem lernen sie die neunundneunzig Namen von Allah, verschiedene Dua (Bitt- oder Dankesgebete) für unterschiedliche Lebenssituationen, sie studieren die Salawat (Segenssprüche) für den Propheten Mohammad und diskutieren die Leben der Sahabah (Weggefährten, Jünger und Familie des Propheten).

Erst nachdem sie zwölf eher kurze Suren (Kapitel) auswendig gelernt haben, beginnen die Schüler schließlich, den Koran auswendig zu lernen. Der Unterricht ist offen für alle, die Teilnahme ist nicht verpflichtend und bleibt schwankend. Sehr wenige Frauen lernen tatsächlich das ganze Buch, viele verlassen den Unterricht oder schließen sich anderen Gruppen an, um das Erlernte zu rekapitulieren. Meiner Ansicht nach und mit Hinblick auf die Treffen, denen ich beiwohnte, dient dieser Unterricht der eigenen Entwicklung als guter Muslim und zielt auf persönliche Besserung.

Mehr Kämpfer aus Westeuropa als aus Zentralasien beim IS

In der akademischen Welt ist eine kritischere Debatte bezüglich der Bedrohung des IS und seinen Auswirkungen in Zentralasien entstanden. Forscher des Polish Institute of International Affairs halten die zentralasiatischen Länder für gefährdet durch die Aktivitäten radikaler religiöser Organisationen, betonen aber auch, dass das Interesse der Bürger am IS niedrig bleibt. Im Vergleich zum Mittleren Osten, Nordafrika und Europa sehen sie die Länder Zentralasiens noch immer relativ frei vom Einfluss des IS. Entsprechend weist auch eine Studie des International Centre for the Study of Radicalisation darauf hin, dass es beim IS mehr ausländischen Kämpfer aus Westeuropa als aus Zentralasien gibt.

Edward James Lemon von der Universität Exeter hat Artikel der New York Times, Vice News, CNN, Washington Post und anderen ausgewertet und kommt zu dem Schluss, dass „die große Mehrheit der Artikel lediglich den dahingestellten Mythos einer islamischen Radikalisierung in Zentralasien aufrechterhalten“. Auf ähnliche Weise nennen John Heathershaw und David W. Montgomery die Behauptung einer muslimischen Radikalisierung in Zentralasien einen Mythos, der von Sicherheitsanalysten und Kommentatoren genährt wird.

Natürlich liest die breite Öffentlichkeit kaum Fachartikel und ist daher schlecht über Berichte informiert, die der dominanten medialen und staatlichen Sichtweisen widersprechen. In Osch hat das Aufkommen dieses Gerüchts alarmierende Auswirkungen auf die Bewohner. Angst und Misstrauen breiten sich aus und machen gläubig wirkende Menschen zu (potenziellen) Terroristen. Frauen, die den Hidschab tragen, berichteten mir von Personen, die ihnen auf der Straße „Terrorist!“ zurufen.

Die islamistische Bedrohung als Vorwand für staatliche Repression

Die Regierungen Zentralasiens ihrerseits sind nicht abgeneigt, von der öffentlichen Verunsicherung zu profitieren. Die tadschikische Regierung, zum Beispiel, hat den Druck auf Muslime erhöht und „präventive“ Maßnahmen ergriffen (so ist es verboten, Neugeborenen arabische Vornamen zu geben, Männer dürfen keine Bärte tragen, Frauen keinen Hidschab etc.). Zivilgesellschaftliche Akteure beschuldigen Agenten des Kirgisischen Staatlichen Komitees für Nationale Sicherheit (GKNB) in Osch, die Bedrohung durch den Terrorismus als Vorwand zur Erpressung „verdächtiger Personen“ und zur Einschüchterung von Minderheiten zu nutzen.

Bis heute habe ich unter den Bewohnern von Osch keine Sympathien für den IS wahrgenommen. Doch Medienberichte, die ein verzerrtes Bild schaffen, und Regierungen, die die Angst vor dem Terrorismus für ihre eigenen Ziele ausnutzen und religiöse Gruppen angeprangert und marginalisieren, riskieren, das Gerücht zur Realität werden zu lassen.

Gulrano Ataeva, Kolumnistin der Central Eurasian Scholars and Media Initiative 

Aus dem Englischen von Luisa Podsadny

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