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Stalins Erbe in Kasachstan

Vor 80 Jahren begannen die von Stalin veranlassten Deportationen ganzer Bevölkerungsgruppen nach Sibirien und Kasachstan, durch die tausende Menschen umkamen. Sie wurden aufgrund ihrer Ethnie der Kollaboration mit den Feinden der Sowjetunion, allen voran Deutschland, verdächtigt. In Kasachstan schätzt man heute die so entstandene ethnische Vielfalt der Bevölkerung – und spricht nur selten über ihre gewaltsame Ursache.

Luisa Podsadny 

Deportationen OpenMind
Titelbild der Lesung "Die Große Umsiedlung der Völker".

Vor 80 Jahren begannen die von Stalin veranlassten Deportationen ganzer Bevölkerungsgruppen nach Sibirien und Kasachstan, durch die tausende Menschen umkamen. Sie wurden aufgrund ihrer Ethnie der Kollaboration mit den Feinden der Sowjetunion, allen voran Deutschland, verdächtigt. In Kasachstan schätzt man heute die so entstandene ethnische Vielfalt der Bevölkerung – und spricht nur selten über ihre gewaltsame Ursache.

Es begann im Frühjahr 1936. Ungefähr 36.000 Polen wurden mit Gewalt aus den Grenzregionen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Weitere Deportationen polnischer Minderheiten in Belarus und der Ukraine folgten 1940 bis 1942. In den Jahren 1937 und 1938 wurden aus dem Fernen Osten der UdSSR knapp 200.000 der dort seit den 1860ern freiwillig lebenden Koreaner deportiert. Sie wurden vor allem nach Kasachstan und Usbekistan gebracht, zum Teil auch nach Tadschikistan.

Wie Polen und Koreanern erging es in der Folge vielen ethnischen Minderheiten in der Sowjetunion. Tataren, Tschetschenen, Inguschen, Karatschaier, Balkaren, Griechen, Georgier und andere Ethnien fielen der stalinschen Paranoia zum Opfer und wurden in Viehwaggons deportiert – davon ca. 1 Mio. Menschen nach Kasachstan. Viele starben auf dem Weg, viele aber auch durch die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort, die Kälte und den Hunger. Die genaue Zahl der Opfer ist heute schwer zu ermitteln.

Die größte deportierte Gruppe waren die in der Sowjetunion ansässigen Deutschen. Über 400.000 Einwohner der Wolgadeutschen Republik wurden nach Kasachstan deportiert und stellten nach Kasachen und Russen lange die drittgrößte Bevölkerungsgruppe Kasachstans. Nach dem Ende der Sowjetunion nutzten viele die Möglichkeit, nach Deutschland auszusiedeln und die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. 2009 lebten laut kasachischem Zensus nur noch ca. 180.000 Deutsche in Kasachstan.

Ein Tabu-Thema in der Sowjetunion

Zu Zeiten der Sowjetunion wurden weder die Tatsache, dass Kasachstan ein Vielvölkerstaat ist, noch die historischen Gründe dafür hinterfragt. „Niemand hat damals gefragt, welcher Ethnie man angehörte“, sagt Svetlana Kim, Jahrgang 1950. Ihre koreanischen Eltern wurden als 17- und 18-Jährige deportiert, Svetlana ist in der Stadt Üschtöbe im Süden Kasachstans geboren und aufgewachsen. Zu Hause sprachen ihre Eltern Koreanisch, Svetlana und ihre Geschwister lernten auf der Straße und in der Schule Russisch. „Wenn meine Mutter mich etwas auf Koreanisch fragte, antwortete ich auf Russisch“, erinnert sie sich. Später ging Svetlana zum Studieren nach Almaty – eine Möglichkeit, die ihren Eltern, potenziellen Kollaborateuren mit dem feindlichen Japan, noch verwehrt worden war.

Svetlana Kim Üschtöbe
Svetlana (Mitte vorn) als Fünfjährige, mit ihren Eltern und Geschwistern in Üschtöbe.

Im Zuge der Perestroika wurde dann die Thematisierung der Deportationen in Kunst und Literatur möglich. So veröffentlichte Anatoli Pristawkin erst 1987 seinen sechs Jahr zuvor geschriebenen Roman „Schlief ein goldenes Wölkchen“. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei russische Waisenkinder, die 1944 in den Kaukasus geschickt werden, um dort in den tschetschenischen Dörfern zu leben, deren Bewohner kurz zuvor im Rahmen der „Operation Linse“ deportiert worden waren.

Ethnische Vielfalt als gesellschaftlicher Reichtum

Mit dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Kasachstans 1990 wandelte sich dort das staatliche Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten. Minderheiten wurden in der Gesellschaft erstmalig als solche anerkannt. „In den 1990ern wurde es auf einmal wichtig, welcher Ethnie man angehört“, stellt Svetlana fest. 1995 wurde auf Initiative des Staatspräsidenten Nasarbajew die „Assembleja Narodow Kasachstana“, die Versammlung der Völker Kasachstans, gegründet. Als beratendes Organ sollte sie die Politik zur Gleichstellung und Integration aller Kasachstaner, also aller Staatsbürger unabhängig von ihrer Ethnie, gestalten. 2007 wurde sie in „Assembleja Naroda“ umbenannt, die Versammlung des Volks, was viele Beobachter als Betonung der staatlichen Einheit deuteten. Seit 2016 ist zudem der Gründungstag der Versammlung, der 1. März, ein staatlicher Feiertag – der „Tag der Dankbarkeit“.

Dies drückt die wohlwollende staatliche Haltung zur ethnischen Vielfalt in Kasachstan aus: sie wird als ein Grund für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes – vor allem im Vergleich zu seinen zentralasiatischen Nachbarn – betrachtet. Viele ethnische Minderheiten verfügen über Kulturvereine, die Sprachkurse, traditionelle Feste und Reisen organisieren. In Almaty gibt es neben dem russischen und kasachischen auch ein deutsches, koreanisches und polnisches Theater.

Svetlana Kim mit ihrem Enkel in koreanischer Tracht.
Svetlana Kim und ihr Enkel in koreanischer Tracht.

Auch Svetlana Kim engagiert sich in der koreanischen Gemeinschaft in Kasachstan, singt im koreanischen Chor und lernt Koreanisch. 1994 war sie eine der ersten aus Kasachstan, die nach Südkorea reiste und war seitdem mehrmals dort. Sie habe, sagt sie, aber auch gemerkt, dass sie eine völlig andere Mentalität habe als die Südkoreaner. Auf die Frage, wie sie sich heute identifiziere, antwortet sie: „Am ehesten wohl als Russin. Russisch ist meine Muttersprache, ich denke auf Russisch.“

80-jähriges Gedenken an die Deportationen

Während das Zusammenleben der Ethnien in Kasachstan vom Staat als Grund zur Dankbarkeit betrachtet wird, ist die Ursache dieser Vielfältikeit, die Deportationen, nach wie vor ein Tabu-Thema. Im Schulunterricht werden die Deportationen schlichtweg nicht thematisiert. Informationen über die Deportationen sind zwar offen zugänglich, doch eine öffentliche Diskussion findet kaum statt.

Das 80-jährige Gedenken, 2016 an den Beginn der Deportationen 1936 aus Europa, 2017 an die Deportationen der Koreaner aus Fernost, nehmen nun zivilgesellschaftliche Organisationen zum Anlass, das Thema zur Sprache zu bringen. Dazu gehört das kulturwissenschaftliche Vortragszentrum OpenMind, das in Almaty die Vorlesungsreihe „Lebendige Erinnerung“ veranstaltet.

Die Reihe „Lebendige Erinnerung“ umfasst Lesungen zu Themen wie den Deportationen und Gulags in Kasachstan, aber auch politischer Repressionen und Erinnern in Kunst und Literatur. Zur Themenwahl sagt die Organisatorin der Lesungen und Gründerin von OpenMind, Alexandra Zai: „Es ist der Versuch, Ereignisse zu wählen, die besonders schmerzhaft und wichtig für Kasachstan waren, und sie nicht nur historisch zu behandeln, sondern zu betrachten, wie sie unser Leben bis heute beeinflussen.“

Damit sich die Geschichte nicht wiederholt“

Im Rahmen der Reihe fand am 17. November 2016 die Lesung „Die Große Umsiedlung der Völker“ statt. Ein Professor für Geschichte, eine Journalistin und ein Schriftsteller hielten Kurzvorträge, die das Thema von verschiedenen Seiten beleuchteten. Während Schulduzbek Abylchoschin, Professor an der Kasachisch-Britischen Universität, hauptsächlich mit Zahlen und Fakten aufwartete, präsentierte Zarina Achmatova, Chefredakteurin des Internetjournals Vlast.kz, Interviews mit Zeitzeugen.

Bei der Lesung "Die Große Umsiedlung der Völker" am 17. November in Almaty.
Bei der Lesung „Die Große Umsiedlung der Völker“ am 17. November in Almaty.

Die anschließende Diskussion drehte sich unter anderem um die Frage der Schuld an diesen Verbrechen. Wer kann für die Taten des Sowjet-Regimes verantwortlich gemacht werden – das heutige Russland? Stalin allein? Die Ansichten gehen auseinander. Schulduzbek Abylchoschin versteht die Deportationen als „Kriegshandlungen“, die nur im Kontext des Zweiten Weltkriegs verstanden werden können. Für ihn liegt die Schuld bei Stalin – als umso beunruhigender bewertete er daher die Tendenz einer „neuen Generation von Stalinisten“ im heutigen Russland, wo die stalinistischen Deportationen und Säuberungen ebenfalls kaum thematisiert werden.

Viele sind aber auch der Meinung, dass die Schuldfrage heute nicht mehr relevant sei, schließlich wurden alle Betroffenen nach dem Zerfall der Sowjetunion offiziell rehabilitiert. Auf den inneren Widerspruch dieser Rehabilitierung verwies Zarina Achmatova: die Deportierten wurden rehabilitiert, ohne dass jemals anerkannt wurde, dass ihnen Unrecht getan worden war.

Die Medien in der Verantwortung?

Offene Diskussionen wie diese finden selten und in recht geschlossenen Kreisen statt. Die Lesung „Die Große Umsiedlung der Völker“ zog nur ca. 20 Besucher an. Zum Schluss forderte Schulduzbek Abylchoschin daher die Medien auf, sich an der Diskussion zu beteiligen: „Es ist schon lange alles über die Deportationen aufgeschrieben worden. Jetzt sind tatsächlich die Medien dafür verantwortlich, dies der Öffentlichkeit zu vermitteln.“

Zum Teil haben die Medien diese Verantwortung schon übernommen: der Polnische Kurier Almaty und die Deutsche Allgemeine Zeitung etwa, die auf den jeweiligen Minderheitssprachen veröffentlichen. Aber auch das kasachische Internetjournal Vlast.kz, das Interviews mit Zeitzeugen führt und diese online im „Tagebuch der Erinnerungen“ sammelt. „Wir brauchen diese Interviews“, sagte dazu Chefredakteurin Zarina Achmatova, „damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“

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