Ablaichan Tschalimbajew aus Kasachstan kann kein Zugticket kaufen. Sobald seine Daten eingegeben werden, blockiert das System den Kauf. Der Grund: Er steht auf der Liste der Extremisten und Terroristen. Seine Strafe dafür hat er jedoch längst abgesessen. Das Online-Magazin Open Asia erzählt seine Geschichte, die wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion übersetzen.
Ablaichan hat fünf Jahre Gefängnis hinter sich. Verurteilt wurde er wegen „Terrorismuspropaganda, Anstiftung zum religiösen Unfrieden und verfassungswidriger Aufforderungen“. Zum Extremisten wurde er quasi per Zufall.
In den Jahren 2003 und 2004 begann er, zum Freitagsgebet in die Moschee zu gehen. Seine Bekannten dort erzählten ihm von guten, wissenden Brüdern, bei denen sie den Koran studieren sollen: „Daraufhin besuchte ich das Studienzentrum „Al-Barakat“. Dort lernte ich fünf mal am Tag zu beten. Bei uns in Kasachstan ist ja im Islam die Hanafitische, Maturidi-Schule verbreitet.“
Im al-Barakat-Zentrum galt al-Maturidi aber als ein Irrgläubiger. Die dortigen Prediger folgten der Lehre von Al-Wahhab und sahen den Wahren Islam im Salafismus. „Sie lehnen alle unsere Traditionen ab und fordern uns dazu auf, streng nach dem Koran zu leben. Sie sagen, ein einfacher Mensch soll den Koran nicht mit seinem Verstand begreifen. Auch wenn man ihn dadurch richtig interpretiert – für sie ist die Anwendung des Verstandes eine Sünde. Und wenn man den Koran falsch interpretiert, ist man ein Ungläubiger. Sie sagen, man soll den Kommentaren der salafistischen Gelehrten Glauben schenken.“
Damit die „Schüler“ auch gut studieren können, bekam jeder im Zentrum Al-Barakat ein Exemplar des „Tafsir Saadi. Die Deutung des Heiligen Koran“. Dort steht zum Beispiel, dass alle Imame Irrgläubige sind, dass die offiziellen Behörden des Teufels sind und dass „die Gottlosen, die den Unglauben verbreiten, schlimmer sind als Esel, Hunde und andere Bestien. Sie sind eine Erscheinung des Bösen und müssen vernichtet werden“.
Ein legales extremistisches Netzwerk
Ablaichan alamierten diese radikalen Ansichten nicht. Er habe an jedes Wort geglaubt, an die falsche Lehre sowie an den Dschihad. Schließlich war das Buch in Kasachstan verlegt, auf dem Umschlag stand die Angabe „geprüfte Literatur“ und es war frei erhältlich. Das Studienzentrum, in dem eine solche Ideologie verbreitet wurde, arbeitete vollkommen offen. Sogar Angehörige des DUMK (die staatliche „Geistige Verwaltung der Muslime Kasachstans“, Anm. d. Red.) gehörten zu den Besuchern.
Ablaichan organisierte in seinem Haus Runden mit Freunden und Verwandten, die am Salafismus interessiert waren und las ihnen aus dem „Tafsir Saadi“ vor. Diese Treffen erregten die Aufmerksamkeit des Komitees für staatliche Sicherheit (KNB).
Ablaichan wurde zusammen mit seinem Bruder und einem Freund, mit dem er Al-Barakat besuchte, verhaftet. Erst als er mit Spezialisten darüber sprach, erkannte er seinen Fehler, versichert er später. Er kooperierte mit der Ermittlung, erzählte den Behörden von seinen Lehrern, die die islamische Universität in Saudi Arabien absolviert hatten und vom Zentrum, das deren Ideologie nach Kasachstan brachte. Seine Strafe konnte er dadurch kaum mildern.
Vergangenes Jahr kam Ablaichan wieder frei. Ein weiteres Jahr stand er unter Bewährung. Zu denen, die ihm einst den „wahren Islam“ zeigen wollten, kehrte er nicht zurück. Ganz im Gegenteil, er ging kurz nach seiner Freilassung zur Polizei, um zu bewirken, dass die „Al-Barakater“ zur Rechenschaft gezogen werden. „Viele derer, die momentan wegen religiösem Extremismus im Gefängnis sitzen, sitzen wegen dieser Auslegungen. Manche von ihnen gehen sogar nach Syrien“, so Ablaichan.
„Es gab auch einen Fall in Burundaj – Safarali und Bauyrschan ermordeten Polizisten, bevor sie selbst getötet wurden. Sie waren auch Schüler in „Al-Barakat“. Genau wie Akschan, der einen Mitarbeiter der staatlichen Sicherheistbehörde tötete.“
Dass ein Mitglied einer islamischen Organisation bereit ist, gegen ihre Verantwortlichen auszusagen, ist schon an sich ein einzigartiger Fall. Unter den Gefolgsleuten ist so etwas nicht üblich.
Eine engagierte Mutter
Ablaichan fand aber kaum Gehör. Seine Mutter, Kuljasch-Apaj, schloss sich seinem Einsatz an. Sie ist eine einfache Frau. Von ihren zehn Kindern saßen zwei im Gefängnis. Nun möchte sie gegen die Verantwortlichen vorgehen.
„Die Quelle des Bösen liegt in dieser Gemeinschaft. Sie veröffentlichen radikale Bücher, mieten große Lesesäle und predigen tausenden jungen Leuten, dass unser traditioneller Glaube ein Irrglaube ist. Mein Sohn trank zuhause Tee, las dieses Buch, und sie machten einen Extremisten aus ihm. Wo ist da die Gerechtigkeit? Ich kann nicht glauben, dass unsere allwissenden Behörden von diesen Wölfen im Schafspelz, die das Vertrauen unserer Jugend missbrauchen und eine Gefahr für unser Land darstellen, nichts wissen“, beklagt sich Kuljasch Tschalimbajewa.
Sie ging mit ihren Klagen zur Staatsanwaltschaft, zum Komitee für Staatliche Sicherheit KNB, schrieb dem Präsidenten des Landes einen offenen Brief. Sie zitierte eine linguistische Expertise, die im Buch Tafsir Saadi Anzeichen einer extremistischen Bewegung sah.
Tschalimbajewa richtete auch mehrere Briefe an das Komitee für religiöse Angelegenheiten, so dass das Buch und weitere zahlreiche Publikationen von Al-Barakat schließlich als unzulässig eingestuft wurden.
„Raub, Diebstahl, das kenne ich. Aber hiervon verstehe ich nichts“
Erst dann, im März 2017, wurde ein strafrechtliches Verfahren wegen „Anstiftung zum sozialen, ethnischen oder religiösen Unfrieden“ gegen Al-Barakat eröffnet. Zuständig war die übliche lokale Vertretung des Innenministeriums.
Dabei sagte der Ermittler, wie Tschalimbajewa sich erinnert: „Einen solchen Fall hatte ich noch nie. Raub, Diebstahl, das kenne ich. Aber hiervon verstehe ich nichts“. Sie forderte, dass der Fall an das KNB geleitet werde und erreichte nur, dass die Materialien kurz an eine höhere polizeiliche Instanz überreicht wurden, ehe sie zurück zur einfachen Polizei kamen.
Die Leiter der Koranschule Al-Barakat waren in der Zwischenzeit unauffindbar. Das Gebäude, in dem die Schule sich befindet ist gesperrt und keiner der Verantwortlichen wurde bisher gefasst.
Eine Freiheit mit Hindernissen
Dafür ist Ablaichan im Alltag weiterhin völlig eingeschränkt. Als er nach seiner Bewährung zum Bürgeramt ging, um einen Ausweis zu beantragen, wollte keiner die Gebühr dafür annehmen. Ablajchan verbrachte dort vier Stunden, bevor sich jemand fand, der an seiner Stelle das Geld einzahlen wollte. Dasselbe geschah in der Post oder in der Bank.
„Seitdem ich aus dem Gefängnis heraus bin, habe ich Probleme an den Nieren. Ich bestellte über das Internet Medikamente über das Zahlungssystem der Post. Als ich das Packet bezahlen wollte, nahmen sie mein Geld nicht an“, so Ablajchan. Eine Computermeldung verbot die Transaktion. „Nehmen sie von ihm auf keinen Fall Geld an! Das ist ein Befehl!“, sagte der Vorgesetzte anschließend der Kassiererin am Telefon.
„Beim dritten Mal ging ich in die Bank. Ich wollte einen kleinen Kredit beantragen, um ein günstiges Auto zu kaufen, damit ich Geld verdienen kann. Kaum hatte die Bankangestellte meine Daten eingegeben, bekam sie einen Anruf. Sie schrieb mir auf ein Stück Papier, dass ich auf der Liste der Terroristen bin.“ Dadurch wird Ablajchan nicht nur der Kredit verweigert. Er kann noch nicht einmal ein Konto eröffnet oder für den Strom zahlen.
Auch eine Arbeitsstelle bleibt ihm verweigert. Überall verlangen sie einen Auszug aus dem Strafregister (obwohl es Arbeitgebern seit kurzem verboten ist, das zu verlangen) und wollen daraufhin mit Ablajchan nichts mehr zu tun haben. Ab und zu kann er als Lkw-Fahrer aushelfen. Dazu kommt die Rente seiner Mutter – das muss reichen, um die Familie zu ernähren.
Auch lange nach dem Ende der Bewährungsfrist kann Ablajchan kein Zugticket kaufen. Immer dieselbe Prozedur: das System gibt an der Kasse an, dort stehe ein „Terrorist“.
Unzureichende Gesetzeslage
Dschenis Turmagambetowa ist die Direktorin der Stiftung „Charta für Menschenrechte“. Sie sieht in diesen Problemen eine Diskriminierung. So geht auch nach der Entlassung aus dem Gefängnis die Strafe weiter: „Dieser Mann hat seine Strafe abgesessen. De facto ist er von seiner Schuld schon befreit. Dabei bekommt er so etwas wie eine zusätzliche Strafe, er kann kein Ticket kaufen, Briefe erhalten, sich frei im Land bewegen. Das ist eine Verletzung seiner Rechte, die selbst bei einer Bewährungsstrafe nicht so eintritt.“
Julija Denisenko leitet das Zentrum für religiöse Studien und gehört dem gesellschaftlichen Rat des kasachstanischen Ministeriums für Religion und Zivilgesellschaft an. Sie kennt Ablajchans Geschichte und sieht darin ein großes Problem in der Gesetzesgebung.
Die Strippenzieher entkommen der Strafe
„Natürlich sind religiöse Tätigkeiten, die zur Gewalt aufrufen und eine solche Ideologie verbreiten gesetzliche verboten. Aber in solchen Netzwerken landen Menschen bei weitem nicht wegen ihres Glaubens, sondern durch psychologische Manipulation“. Diese wird jedoch nirgendwo in der Gesetzeslage definiert. „Menschen, die einem solchen intellektuellen Schwindel unterliegen, kann man zu Taten zwingen, die sie nicht beabsichtigten. In diesem Fall wird er, der eigentlich Opfer ist, zum Täter. Die, die die Strippen ziehen, entkommen der Strafe. Wenn nun solche Aspekte gesetzlich festgehalten würden, wie es in anderen Ländern schon der Fall ist, könnte man die tatsächlichen Ideologen des Extremismus leichter fassen“, erklärt Denisenko.
Und es kommt noch ein weiterer Systemfehler hinzu: „Möchte man den Terroristen in den Gefängnissen helfen oder sie bestrafen? Wen möchten wir aus dem Gefängnis entlassen: einen Einsichtigen oder einen Wütenden? Man muss sich bewusst sein, dass diese Leute danach in unsere Gesellschaft zurückkehren“, fügt Denisenko hinzu.
Sozialisierung statt Vergeltung
Der Jurist und Justizoberst Eskali Salamatow, der im Juni 2017 in Bischkek am runden Tisch „Vorbeugung der Radikalisierung von Verurteilten“ teilnahm, formulierte es ganz ähnlich: „Das Ziel der Gefängnisstrafe muss die Sozialisierung sein und nicht die Vergeltung“.
In Kasachstan kann aber von Rehabilitation keine Rede sein. Stattdessen werden wegen Extremismus´ Verurteilte nach ihrer Befreiung weiter bestraft. Die aktuelle Lage von Ablaijchan Tschalimbajew ist ein Beispiel dafür. Experten warnen, dass das eine gefährliche Praxis sei. Sie könne dazu führen, dass die Betroffenen ohne Unterstützung der Gesellschaft oder des Staats zu radikalen Kreisen zurückkehren und zwar noch wütender als zuvor. Ihnen extremistische Ideen nahezulegen, wird damit nur noch einfacher.
„Wo ist die Gerechtigkeit!?“
Ablajchan mit seinem andauernden Kampf dagegen, ist da eher eine Ausnahme. „Ich wollte ein normales Leben beginnen, heiraten, eine Wohnung mieten. Ich kann doch nicht ewig bei meiner Mutter leben. Aber man hat mich vollkommen isoliert. Wie soll ich eigenständig leben, mich ernähren? Die, die uns diese Ideologie gebracht haben, die dieses Buch verbreitet haben, leben in Ruhe weiter, können sich frei bewegen und arbeiten. Einer dieser Lehrer arbeitet sogar in der Lokalverwaltung von Qysylorda als Religionswissenschaftler. Kanat Dschumadullajew, der Verlagsleiter von Al-Barakat, hat eine neue Firma, „Kazakh-Travel“, eröffnet… und ich bin auf der Liste der Extremisten. Wo ist da die Gerechtigkeit?!“
Aus dem Russischen von Florian Coppenrath
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