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„Qash“ – Horrortrip im Holodomor

Mit „Qash“ lieferte der bekannte Musikvideo-Regisseur Aısultan Seıt sein mit Spannung erwartetes Spielfilmdebüt. Der Film, der vor dem Hintergrund der Großen Hungersnot in den 30er Jahren spielt, rief angesichts heiß geführter Debatten über Dekolonialismus ein geteiltes Echo hervor.

Robin Roth 

"Qash" ist ein beeindruckender Horrortrip vor dem Hintergrund des großen Hungers in den 30er Jahren, Photo: Filmstill bereitgestellt vom FilmFestival Cottbus

Mit „Qash“ lieferte der bekannte Musikvideo-Regisseur Aısultan Seıt sein mit Spannung erwartetes Spielfilmdebüt. Der Film, der vor dem Hintergrund der Großen Hungersnot in den 30er Jahren spielt, rief angesichts heiß geführter Debatten über Dekolonialismus ein geteiltes Echo hervor.

Am 12. November ist das 33. FilmFestival Cottbus zu Ende gegangen. Mit „Close Up: Kazakhstan“ wurde dem zentralasiatischen Land in diesem Jahr eine eigene Sektion gewidmet, die einen Überblick über das kasachstanische Kino der letzten 40 Jahre bot. Neben echten Klassikern befand sich auch der heißdisuktierteste Debutfilm des letzten Jahres im Programm.

Aısultan Seıt ist derzeit einer der gefragtesten Musikvideo-Regisseure, der unter anderem mit Travis Scott und Noize MC zusammengearbeitet hat. In Kasachstan ist der 26-Jährige ein Star und entsprechend hoch waren die Erwartungen, als Seıt 2022 sein Spielfilm-Debut „Qash“ ankündigte. Als ob dies nicht genug wäre, behandelt der Film auch noch Kasachstans nationales Trauma. Kann das gut gehen?

Asharshylyq als Background

„Qash“ (kasachisch für „Lauf!“) – laut Programmheft des FilmFestival Cottbus ein „historischer Horrortrip in der kasachischen Steppe“ – spielt im Jahr 1931 vor dem Hintergrund der großen Hungersnot in der Sowjetunion. Im Westen ist diese hauptsächlich unter ihrem ukrainischen Namen „Holodomor“ geläufig. Weit weniger bekannt ist, dass Kasachstan von der auf Kasachisch „Asharshylyq“ genannten Katastrophe als erstes betroffen war.

Laut der Historikerin Sarah Cameron führte die erzwungene Sesshaftmachung und die Beschlagnahmung von Vieh zum Tod von mehr als einem Viertel der kasachischen Bevölkerung. Schätzungen gehen von 1,5 bis 2,1 Millionen Toten aus. Zu dieser Zahl kommen noch die 1 bis 2 Millionen Kasach:innen, die vor Hunger flohen.

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Inmitten dieser Hungersnot ist Isataı zum Totengräber seines Auyls geworden. In einer Truhe in seiner Jurte versteckt er seinen 8-jährigen Bruder Álim, um diesen zu schützen – allzu gut weiß er, dass gerade die Schwächsten leicht Opfer von Kannibalismus werden.

Als einer der wenigen, die den Weg in die nächstgelegene Stadt Sarqant kennen, wird Isataı von der Sowjetmacht seines Auyls auserkoren, um ein Bittgesuch für bessere Lebensmittelversorgung zu überbringen. Zwar sträubt er sich dagegen, allerdings lässt der ältere Magaı ihn wissen, dass er Álim in Sarqant in ein Waisenhaus geben kann, wo der Junge vor dem wahrscheinlichen Tod durch Hunger oder Mord sicher sei.

In Begleitung eines russischen Soldaten und mit Álim im Wagen versteckt, macht sich Isataı auf den Weg. Doch bereits in der ersten Nacht wird die Gruppe von Räubern überfallen. Der Soldat flieht, Isataı und Álim bringen sich mit Hilfe des aus dem nichts aufgetauchten, einäugigen Alten Tepe in Sicherheit, verlieren aber die Orientierung in der endlosen Steppe. Tepe, der vorgibt auch nach Sarqant zu reisen und den Weg zu kennen, führt die beiden an. Doch schon bald verliert Isataı das Vertrauen in Tepe und der Horrortrip beginnt.

Raum für Interpretationen

Mit großartigen Landschaftsaufnahmen, stylischen Bildkompositionen und einem perfekten Auge fürs Detail zeigt Aısultan Seıt, was er beim Clip-making gelernt hat und schafft für „Qash“ eine ganz eigene, bedrückende Ästhetik. Insbesondere der Grauschleier, der über dem gesamten Film liegt, trägt dazu bei, distanziert aber auf der anderen Seite auch vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse.

Bemerkenswert ist außerdem, dass der Film vorrangig über das Visuelle funktioniert. Dialoge sind – wie Seıt selbst im Interview mit Esquire.kz hervorhebt – auf ein Minimum reduziert. Doch auch das virtuelle Spiel mit den Geräuschen und der Stille der Steppe tragen zur Atmosphäre von „Qash“ bei.

Der Trailer zum Film

Darüber hinaus hinterlässt der Film Raum für Interpretationen, die ihm eine zusätzliche Tiefe verleihen. Dies betrifft vor allem die Figur des mystischen Tepe, der zwar vorgibt, den Weg zu kennen, letztendlich aber alle in die Irre führt. So stellte die Journalistin Galina Baıjanova im Gespräch mit Aısultan Seıt fest, dass Tepe sie an Kasachstans ersten Präsidenten Nursultan Nazarbaev erinnere – eine Parallele, die aber laut dem Regisseur nicht intendiert sei. Vielmehr weist er darauf hin, dass „Tepe eine Ableitung von Tepekoz ist, dem Namen des Zyklopen in der türkischen Mythologie. In dieser Geschichte haben wir also den alten Mythos des Zyklopen verschleiert, der zwei Brüdern eine Herde Widder wegnahm und sie zurückbrachte.“

Dabei ist Tepe nicht die einzige Figur, die bei einigen Kinobesucher:innen Erinnerungen an kasachische Mythen hervorrief. Während der Diskussionsveranstaltung „Kasachstan auf der Suche nach einer neuen Identität?“, die ebenfalls im Rahmen des FilmFestivals Cottbus in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien stattfand, stellte Aısultan Seıt klar, dass bei der Rolle der Alman keine Nähe zu Jeztyrnaq („Kupfernagel“), einer bekannten Figur der kasachischen Mythologie, intendiert sei. Auch die Darstellerin Tolģanaı Talgat erklärteim Rahmen der Podiumsdiskussion, dass es ihr allein darum gegangen sei, den Schmerz der trauernden Mutter zu verkörpern.

Ein (de)kolonialer Film?

Obwohl Aısultan Seıts Spielfilmdebut in Kasachstan sehnlich erwartet worden war, rief der Film auch einige Kritik hervor. Wie der Regisseur selbst bei der Podiumsveranstaltung in Cottbus darstellte, waren die Erwartungen an ihn besonders hoch. Einer der Kritikpunkte, die ihn besonders getroffen haben, sei gewesen, dass man „Qash“ als unpolitisch gesehen habe, weil der Film die Auslöser der Hungerkatastrophe nicht eindeutig benenne.

Andere Kritiker hingegen sehen den Film zwar als eindeutig politisch, aber mit – wie es Aıdos Taıbekuly auf New Reporter formuliert – „zweideutiger politischer Botschaft“. „Dem Drehbuch zufolge litten nicht nur lokale Kasachen unter Hunger in der Steppe, sondern auch Vertreter der Sowjetregierung, die eine Kollektivierung durchführte, in deren Folge eine schreckliche Hungersnot ausbrach. Selbst wenn es in der Sowjetregierung vereinzelt zu Hungersnöten kam, wie angemessen ist es dann, auf das Leid der Täter während des Massentodes ihrer Opfer hinzuweisen?“, so Taıbekuly.

Damit befindet sich „Qash“ inmitten der aktuellen Diskurse um Dekolonialisierung in Kasachstan, in denen das nationale Trauma des Asharshylyq eine zentrale Rolle einnimmt, da er wesentlich zur Sowjetisierung der kasachischen Gesellschaft beitrug. Auch die von russischen Schaupieler:innen dargestellten Rollen, wie der der russische Soldat, der Streichhölzer schenkt und so die Moderne ins Leben von Isataı und Álim einziehen lässt, oder die Erzieherin im Kinderheim von Saqant riefen Kritik hervor. Tatsächlich sind aber – wie der Regisseur hervorhebt – beide Figuren vielschichtiger und passen nur bedingt ins Topos „weißer Retter:innen“.

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Bei aller Kritik sollte man aber bedenken, dass „Qash“ an keiner Stelle intendiert, die Geschichte des Asharshylyq zu erzählen oder gar dokumentarisch zu sein. „Ursprünglich wollten wir einen Film über sich in der Steppe verirrende Meschen machen. Aber als ich darüber nachdachte, in welchem ​​Kontext ich dies tun sollte und in welchem ​​Zeitraum dies geschehen könnte, wurde mir klar, dass es wahrscheinlich die 30er Jahre sein würden. Inspiriert wurde ich von der Geschichte des Urgroßvaters meines Freundes, der während der Hungersnot dank seines älteren Bruders gerettet wurde, da dieser ihn durch die Wintersteppe trug und ihn dann in ein Waisenhaus brachte“ erklärte Seıt gegenüber Esquire.kz.

Demnach sollte man „Qash“ auch als das sehen, was er ist: kein Film über die Hungersnot, sondern eine Geschichte, die vor deren Hintergrund spielt. Denn ohne diese falschen Erwartungen bleibt ein durchweg spannendes und großartig inszeniertes Debut, das Lust auf mehr macht.

Robin Roth für Novastan

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