Bischkek ist eines der größten Zentren für das Webcam-Modelling Geschäft in Zentralasien. Doch hinter dem Versprechen eines guten Einkommens versteckt sich für viele Junge Frauen ein unregulierter Sektor voller Gewalt und Erpressung. Folgender Artikel erschien zunächst am 27. Juli bei Radio Azattyk, dem kirgisischen Dienst von Radio Free Europe/ Radio Liberty.
Die zwei Bischkeker Erstsemesterinnen Meerim und Adschara (Namen geändert) suchten nach einer Möglichkeit, sich etwas dazuzuverdienen. Dabei wurde Adschara auf eine Anzeige auf Instagram für attraktive junge Frauen aufmerksam: „Man sagte ihr, sie müsse nur im Internet mit jemanden chatten und ihre Unterwäsche zeigen. Sonst nichts. Dabei versprachen sie gutes Geld“, erinnert sich die 22-jährige Meerim. Daraufhin begannen die beiden Freundinnen in einem der Dutzenden Webcam-Studios in Bischkek zu arbeiten. Die Kunden bezahlten dafür, dass sie mit ihnen chatteten, sich vor den Kameras auszogen und andere sexuelle Handlungen vornahmen.
Am Anfang wurden sie gut bezahlt. „Im ersten Monat bekam ich etwa 1.000 Dollar, Adschara sogar viel mehr, etwa 3.000 Dollar. Im zweiten Monat bekamen wir auch gutes Geld. Aber dann haben sie unsere Zahlungen drastisch auf etwa 600 Dollar reduziert“, sagt Meerim. Die zwei Freundinnen gerieten in Probleme. Nach Angaben von Meerim begann die Managerin, sie zu erpressen. Nach einem Jahr beging Adschara Selbstmord. Das ist kein Einzelfall: Laut einer neuen Untersuchung des kirgisischen Dienstes von Radio Liberty/ Radio Free Europe über Webcam-Studios in Kirgistan hat sich das Land zu einem wichtigen regionalen Drehkreuz für diese milliardenschwere globale Industrie entwickelt.
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Die Untersuchung brachte zahlreiche Straftaten ans Licht, darunter Erpressung, Vergewaltigung und Doxing – die Veröffentlichung persönlicher Daten von jungen Frauen, die in Webcam-Studios ihren Lebensunterhalt verdienen. Nach Angaben der Weltbank lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung Kirgistans unterhalb der Armutsgrenze. Journalist:innen von Radio Azattyk sprachen mit einer Reihe von Personen, die in Webcam-Studios in Kirgistan gearbeitet haben oder noch arbeiten, einschließlich der Männer, die Models anheuern, Dreharbeiten organisieren und mit den Kunden kommunizieren. Sie haben sich alle nur unter der Bedingung der Anonymität bereit erklärt zu sprechen – aus Angst, dass Freunde oder Verwandte davon erfahren könnten.
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Die Opfer trauen sich oft nicht, zur Polizei zu gehen, weil die Polizei die Aktivitäten der Webcam-Studios nach mehreren Quellen deckt. „Mehrere meiner Ansprechpartnerinnen trauten sich einfach nicht, zur Polizei zu gehen, weil sie davon ausgingen, dass die Polizei diesen Mädchen in den meisten Fällen das Geld aus der Tasche ziehen würde“, sagt Alexandra Titowa, eine Journalistin der kirgisischen Nachrichten-Website Kloop, die ausführlich über die Webcam-Branche in dem Land geschrieben hat.
„Wir müssen Unerfahrene finden“
Nach Angaben aus Forschung und Wirtschaft erwirtschaftet die weltweite Webcam-Branche jährlich Milliarden von Dollar. Bischkek und die ehemalige Hauptstadt des benachbarten Kasachstan, Almaty, sind zu Drehscheiben für die Entwicklung von solchen Webcam-Studios in Zentralasien geworden. Karatschatsch Schakirowa, eine Journalistin des kirgisischen Projekts Radar.kg, das eng mit der Pressestelle des Innenministeriums zusammenarbeitet, schätzt, dass 4.000 bis 5.000 junge Frauen in den Webcam-Studios des Landes arbeiten. Einige arbeiten von zu Hause aus. Die Studios helfen dann mit der Logistik und manchmal mit Geld für die Miete. Andere kommen in die von den Studios gemieteten Räumlichkeiten. Bis zu 30 junge Frauen können gleichzeitig in einem Haus arbeiten.
Einige Studios stellen ihren Mitarbeiter:innen Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung, sagte Taalai (Name geändert), der ehemalige Leiter eines Webcam-Studios in Bischkek. „In dem Studio, in dem ich jetzt bin, arbeiten 30 Mädchen, aber nur fünf von ihnen machen gutes Geld. Die Hauptsache ist, dass die Models ein Gehalt bekommen. Hier haben wir ein Modell, das mit einem Gehalt von 235 US-Dollar einverstanden ist. Aber wir verdienen mindestens 2.000 Dollar pro Woche mit ihr“, sagt Taalai, der zurzeit als Kameramann in einem Webcam-Studio arbeitet. Andere Quellen bestätigen Taalais Aussage: Die Studios nehmen in der Regel 50-70 Prozent der Einnahmen. Taalai sagt, dass er bevorzugt Mädchen aus ländlichen Gebieten einstellt: „Man muss die Unerfahrenen finden, die nichts verstehen. Gib ihnen ein wenig Geld – etwa zweihundert Dollar – und sie arbeiten.“ Er arbeitet zunehmend mit Mädchen, die in Almaty oder in der Nähe von Moskau leben, denn „Bischkek ist zu klein – es ist schwierig geworden, Mädchen zu finden, die bereit sind, dort zu arbeiten.“ Für Meerim und Adschara erwies sich Kirgistan als zu klein, um ihre Arbeit in einem Webcam-Studio zu verstecken.
„Sie blufft nur“
Meerim und Adschara sind in Bischkek aufgewachsen. Irgendwann waren sie verschuldet und hatten Angst, ihren Eltern zu sagen, dass sie mit dem Kellnern nicht genug Geld verdienen konnten. Die Arbeit in einem Webcam-Studio schien einen Ausweg darzustellen. Meerim sagt, Adschara sei „leichtlebig, charismatisch und frech“ gewesen, und anfangs sei es ihr leicht gefallen. „Sie gewann Stammkunden. Und sie hat mehr Geld verdient als alle anderen, glaube ich. Wir wussten damals nicht, wie das System funktioniert. Es stellte sich heraus, dass wir viel mehr Geld verdienten, obwohl wir nur ein Gehalt bekamen“, erinnert sich Meerim. Im dritten Monat wurden die Gehälter der Mädchen gekürzt, und als Reaktion auf ihre Beschwerden drohte die Studioleitung damit, ihre intimen Videos und persönlichen Daten ins Netz zu stellen. Laut Meerim sagte die Managerin ihnen, sie habe die Telefonnummer von Adscharas Freund.
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„Adschara ist stur, sie antwortete, dass sie die Nummer nicht habe, dass sie nur geblufft hat. Ich weiß nicht, wie die Managerin das gemacht hat, aber es stellte sich heraus, dass sie alle Kontakte von Adscharas Telefon hatte. Sie muss die Daten irgendwie heruntergeladen haben. Und dann schickte sie Adscharas Freund einige Videos über WhatsApp. Sie hatten einen sehr heftigen Streit und ihre Beziehung stand kurz vor dem Ende. Adschara hatte angesichts dieser Situation großen Stress„, erzählt Meerim. Versuche, Damira (so hieß die Managerin laut Meerim) zu kontaktieren, blieben erfolglos.
„Ich habe versucht, Adschara zu beruhigen, mit ihr zu reden. Aber gleichzeitig war ich auch selbst erschrocken. Was wäre, wenn meine Fotos oder Videos ebenfalls durchsickern würden? Was wäre, wenn Damira solche Materialien an meine Eltern oder Bekannten schicken könnte? Ich habe alle meine Instagram-, Facebook- und VKontakte-Seiten gelöscht. Ich habe sogar mein Telefon gewechselt und mir eine neue SIM-Karte geholt„, fährt Meerim fort. Danach hatte sie lange Zeit keinen Kontakt mehr zu ihrer Freundin. „Dann beschloss ich, sie anzurufen und ein Treffen zu vereinbaren – ich hätte sie fast nicht wiedererkannt. Sie war so verloren, müde… Und im Sommer, als wir am Issykkölsee waren, erzählten mir meine Eltern, dass Adschara sich erhängt hat“, sagt Meerim. „Stellt euch vor, sie war erst 19 Jahre alt!“
Unter Polizeischutz
Laut Meerim haben sie und Adschara sich nicht getraut, zur Polizei zu gehen, weil sie Angst hatten, enttarnt zu werden. Bis heute wissen ihre Freunde und Verwandten nicht, was damals mit ihnen geschah. Die kirgisische Polizei berichtet regelmäßig von Razzien in so genannten „Pornostudios“, die mit geringen Geldstrafen für die Mädchen und Kameraleute enden. Drei verschiedenen Quellen gaben an, dass die Eigentümer solcher Studios hochrangigen Schutz genießen. „Es ist wichtig, dass man auch von der Finanzpolizei gedeckt wird. Wenn die Finanzpolizei bei illegalen Geschäften Überweisungen auf das eigene Konto bemerkt (und es werden jede Woche 10-12 Tausend Dollar überwiesen), wird sie sofort mit der Überprüfung beginnen“, sagt Taalai.
Die Strafverfolgungsbehörden haben Ermittlungen zur Erpressung von Webcam-Modellen eingeleitet, aber in den meisten Fällen haben sich die Parteien außergerichtlich geeinigt. In mehreren Fällen hat das Gericht Geldstrafen oder Bewährungsstrafen verhängt. Die Behörden sagen nicht, ob prophylaktische Maßnahmen gegen solche Straftaten ergriffen werden. Auf die Frage nach möglichen Absprachen oder dem Schutz von Webcam-Studios durch die Strafverfolgungsbehörden gab die Pressestelle des Innenministeriums nur einen kurzen Kommentar ab.
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„Webcam-Studios sind hauptsächlich in Bischkek registriert. Das Innenministerium sucht in Zusammenarbeit mit anderen Behörden ständig nach neuen Studios. Die Behauptung, dass Polizeibeamte an der Arbeit der Studios beteiligt sind, wurde nicht bestätigt. Sollten solche Fälle festgestellt werden, würde ein interner Untersuchungsdienst eine Untersuchung durchführen. Das Ministerium wird die Öffentlichkeit über seine Erkenntnisse informieren“, so Adinai Dschantaj Kyzy, eine Sprecherin des kirgisischen Innenministeriums. Das Hauptproblem für Mädchen, die in Webcam-Studios arbeiten, besteht darin, dass es in Kirgistan keinen rechtlichen Rahmen für diese Tätigkeit gibt. Razzien der Polizei in Webcam-Studios enden in der Regel mit Bußgeldern wegen „Verbreitung von Pornografie“.
Die Journalistin Alexandra Titowa ist der Meinung, dass dieses Geschäft legalisiert und besteuert werden sollte, da dies die Kontrolle und den Schutz der in Webcam-Studios arbeitenden Frauen ermöglichen würde. „Ich möchte an die jungen Frauen appellieren: Wenn euch jemand erpresst, geht zu Journalisten, geht zur Polizei. Habt keine Angst: Wenn ihr Unterstützung habt, könnt ihr euch verteidigen. Gebt niemals der Rhetorik des Erpressers nach“, sagte Titova. „Solange er Material zur Verfügung hat, wird er euch zwangsläufig manipulieren. Gefühlsmäßig ist das ein sehr harter Druck, den ihr nicht tolerieren und verschweigen solltet.“
Doxing in Telegram-Gruppen
In den letzten Jahren wurden kirgisische Webcam-Modelle häufig Opfer von verschlüsseltem Doxing im beliebten Messenger Telegram. Titowa hat zahlreiche Telegram-Gruppen entdeckt, in denen Männer versuchen, Webcam-Modelle zu identifizieren – oft mit dem Ziel, sie zu erpressen. Jede dieser Gruppen hat Tausende von Mitgliedern, die sich meist unter Pseudonymen verstecken. Die Aktivitäten solcher Gruppen werden in einem Film des kirgisischen Dokumentarfilmers Aziyat Dschekschejew beschrieben: „In einigen Fällen – und ich kann nicht für alle diese Fälle sprechen – sitzen dort eben die Leute, die dieses Geschäft kontrollieren. Das sind Leute, die Zugang zu allen Video- und Fotomaterialien haben, Leute, die selbst Studios organisiert haben und Informationen an Telegram-Gruppen weitergeben. Auf diese Weise schüchtern sie die Ungehorsamen ein“, sagt Dschekschejew.
Eine der Hauptfiguren in den Ermittlungen von Dschekschejew war der Unternehmer Daniel Adschijew, der wegen der Einrichtung eines Webcam-Studios festgenommen, der Erpressung beschuldigt und schließlich zu einer Geldstrafe von 350 US-Dollar wegen „Herstellung und Verkauf von pornografischem Material“ verurteilt wurde. Einem Gerichtsfall zufolge identifizierte jemand eine junge Frau über eine Telegram-Gruppe und erpresste sie dann um sexuelle Gefälligkeiten. Er erhielt eine Geldstrafe und muss zweieinhalb Jahre gemeinnützige Arbeit leisten. Weder er noch sein Anwalt erklärten sich zu einem Interview bereit. „Die Männer, die diesen Gruppen beigetreten sind, haben ein regelrechtes Geschäft damit aufgebaut, junge Frauen von diesen Seiten zu identifizieren“, so Titowa. Das kirgisische Innenministerium macht keine Angaben dazu, ob die Strafverfolgungsbehörden die Telegram-Gruppen überwachen. Es bleibt auch unklar, ob Maßnahmen zur Verhinderung solcher Straftaten ergriffen werden.
„Sie spielen mit dem Leben anderer Menschen“
Meerim sagt, sie habe seit mehr als zwei Jahren nicht mehr in einem Webcam-Studio gearbeitet. Sie ist jedoch der Meinung, dass Webcam-Modelling ein normaler Beruf ist und Mädchen aufgrund ihrer Arbeit nicht belästigt, gedemütigt und erpresst werden sollten.
Sie glaubt, dass sie und Adschara „aus Dummheit und weil wir verschuldet waren“ in dieses Geschäft eingestiegen sind. Aber es gibt viele „Mädchen da draußen, deren Eltern krank sind, die behinderte Kinder haben. […] Sie brauchen das Geld wirklich. Außerdem machen sie dort nichts Schlimmes, sie stehlen nicht“, sagt Meerim. Weder Freunde noch Verwandte von Meerim und Adschara wissen, dass sie als Webcam-Models gearbeitet haben. Auch heute noch folgt Meerim Gruppen auf Telegram: „Ich beobachte ständig all diese Gruppen und versuche auch dort meine Meinung zu äußern. Ich weiß nicht, wie man Menschen davon überzeugen kann, solche Fotos und Videos nicht zu veröffentlichen. Denn sie spielen doch mit dem Leben anderer Menschen!“
Ulan Asanalijew Radio Azattyk
Aus dem Russischen von Florian Coppenrath
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