Heute feiert Tadschikistan den 25. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Seit der Trennung von der Sowjetunion befindet sich das zentralasiatische Land in einer politischen und ökonomischen Dauerkrise. Ein Bürgerkrieg und noch währende Konflikte zwischen den regionalen und ideologischen Linien prägten das vergangene Vierteljahrhundert. Wie veränderte sich Tadschikistan in den letzten 25 Jahren? Rückblick und Analyse.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion blieben 1991 auch Moskauer Subventionen aus. Tadschikistan schlitterte so gewissermaßen unfreiwillig in die Unabhängigkeit.
In der gleichen Zeit entwickelte sich rasch ein Konflikt um die politische und wirtschaftliche Macht zwischen den drei entscheidenden Kräften: Kommunisten, Demokraten und Islamisten.
Dabei war das Ringen um die Macht durch Gewalt geprägt. Bereits 1992 eröffneten Regierungskräfte das Feuer auf Demonstranten. Unmut breitete sich aus.
Letztlich gelang es der Opposition, den regierenden Kommunisten Nabijew aus dem Amt zu drängen. Emomali Rachmonow, heute Emomali Rachmon, folgte ihm im Amt. Mithilfe russischer Truppen gewann der neue Präsident sukzessive die Kontrolle über die tadschikischen Institutionen und Straßen.
Mehr als eine halbe Million Flüchtlinge und bis zu 100.000 Tote waren die traurige Bilanz des Bürgerkriegs. Bis die Konfliktparteien im Juli 1997 unter UNO-Vermittlung einen Friedensvertrag unterzeichneten. Der Partei der Islamischen Wiedergeburt unter Said Abdullah Nuri wurde die Mitarbeit in der Regierung zugesichert.
Sowjetisches Erbe
Die Geschichte des Landes ist eng mit den Entwicklungen in der Sowjetunion verbunden: Phänomene wie Kollektivierung, Umsiedlungsaktionen, politische Säuberungen, Sprach- und Schriftreformen prägen das Land und seine Bevölkerung bis heute.
Auf der anderen Seite gab es Maßnahmen wie die Alphabetisierung, den Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitswesens, von Industrie und Infrastruktur, die das Land zur Modernisierung führten. Davon zehrt Tadschikistan noch heute.
Kamol Abdullajew lehrt an der Ohio State University über Zentralasien, war Fellow der Yale University und arbeitet(e) in verschiedenen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen als Analyst und Berater. Der tadschikische Historiker kommentiert die Lage seiner Heimat wie folgt:
“Die Tadschiken haben sehr viel von der Diversifikation der Job-Möglichkeiten, persönlichen Freiheit und dem Recht zum Reisen, die mit der Unabhängigkeit kamen und in der UdSSR verboten waren, profitiert.“
Korruptes Bildungssystem
„Fast eine Million Tadschiken leben und arbeiten heute außerhalb Tadschikistans. Mobilität ist für viele die einzige Chance zum Überleben und zur Entfaltung ihrer Talente“, stellt Abdullajew fest.
Vor allem das mangelhafte Bildungssystem steht vielen Tadschiken im Weg: „Tadschikistans ohnehin schlechtes Gesundheits- und Pflegesystem und der Zugang zur Bildung sind noch schlimmer geworden”, sagt Abdullajew.
Und tatsächlich: Die niedrigen Löhne für Lehrkräfte führen zu Korruption. Schüler und Studenten „kaufen“ sich ihre Noten. Der Zugang von Mädchen zu Bildung hat sich insbesondere im ländlichen Raum in den letzten Jahren verschlechtert. Und im ganzen Land ist das Phänomen des Studienabbruchs weit verbreitet – denn selbst Studenten heiraten oft schon mit nur 20 Jahren.
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Wirtschaft und Migration
Aussiedlungen und Jugendmigration werden immer häufiger. Viele ethnische Russen zum Beispiel, die während der Sowjetzeit dienstlich nach Tadschikistan geschickt wurden, kehren mit ihren Familien zurück nach Russland.
“Kulturell und ethnisch ist Tadschikistan homogener geworden. Tadschikistan ist ein Land der Tadschiken – und für Tadschiken. Die Nation bewegt sich in Richtung eines mononationalen Staates, in dem nur eine Sprache und eine ethnische Gruppe dominiert. Fast 86% der gesamten Bevölkerung sehen Tadschikisch als ihre Nationalsprache und 100% aller staatlichen Büros nutzen Tadschikisch als offizielle Geschäftssprache”, fügt Abdullajew hinzu.
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»Laut der Weltbank leben 47% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.« Auch deshalb halten sich von den geschätzt 8 Millionen Tadschiken mehr als eine Million als Arbeitsmigranten im Ausland auf. Die meisten gehen nach Russland. Sie erwirtschaften mit ihren Überweisungen knapp die Hälfte des BIP (2014 ca. 3,8 Milliarden US-Dollar).
Die westlichen Sanktionen gegen Russland treffen auch Tadschikistan schwer. Die wirtschaftliche Entwicklung ist gedämpft während die Lebenshaltungskosten steigen.
Das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie alle anderen sozialen Bereiche stagnieren und werden vor allem von internationalen Geberorganisationen am Leben erhalten.
Menschenrechte
Abdullajew betont: “Tadschikistan hat sich zunehmend autokratisch entwickelt. Trotz der Billionen, welche die USA, die Weltbank und andere westliche Institutionen und Regierungen investiert haben. Und die Armen werden noch ärmer als sie unter den Sowjets waren.“
Im Vergleich zur Zeit des Bürgerkriegs verbesserte sich die Menschenrechtslage zunächst deutlich. Tadschikistan ratifizierte alle wichtigen Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen. Die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe wurde kraft Gesetzes mit Rückwirkung zum 30. April 2004 ausgesetzt.
Für Frauen ist die Todesstrafe gänzlich abgeschafft. Insbesondere wurde 2009 ein sogenannter Ombudsmann – ‚Beauftragter der Regierung für die Wahrung der Menschenrechte‘ – per Dekret des Präsidenten eingesetzt. Seine Wirkmöglichkeiten sind jedoch begrenzt.
Defizite gibt es aber bei der Freiheit der Medien, bei Rechtsstaatlichkeit, Herstellung menschenwürdiger Bedingungen in Strafvollzugsanstalten sowie innerhalb der Streitkräfte.
Seit 2009 ist eine erneute Zunahme polizeilicher, geheimdienstlicher und militärischer Aktionen gegen Repräsentanten und Strukturen der Opposition und der Zivilgesellschaft zu beobachten.
Demokratiedefizite
Bei den letzten Präsidentschaftswahlen im November 2013 gewann Staatspräsident Rachmon nach offiziellen Angaben mit 86,6 Prozent der Stimmen. Seine neue Amtszeit endet 2020.
Echte Gegenkandidaten gab es nicht. Im März 2015 fanden Parlamentswahlen statt, bei denen die Demokratische Volkspartei von Präsident Rachmon etwa 80% der Mandate gewann. Die übrigen Sitze gingen an Parteien, die ihm weitgehend folgen.
Die einzige in Zentralasien zugelassene islamische Partei (Partei der Islamischen Wiedergeburt) verlor ihre bisherigen zwei Sitze und ist damit nicht mehr im Parlament vertreten. Sie wurde mit einem bewaffneten Aufstand Anfang September 2015 assoziiert, zu einer terroristischen Vereinigung erklärt und im September vom Obersten Gericht verboten.
Auch der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei Tadschikistan (SDPT) gelang es erneut nicht, in das Parlament einzuziehen.
Sowohl die Parlaments- als auch die Präsidentschaftswahlen wurden vom ODIHR (Office of Democratic and Human Rights der OSZE) beobachtet und deutlich kritisiert.
Abdullajew kritisiert: “Auf jeder Ebene der Demokratie, der staatlichen Steuerung und der Menschenrechte hat sich die Situation während der letzten 25 Jahre verschlechtert. Die Menschenrechte in Tadschikistan leiden letztlich durch den ‚Kampf gegen den Terrorismus’. Dieser Kampf wurde zynisch und rücksichtslos durch das Regime genutzt, um zivile Freiheiten außer Kraft zu setzen und den Widerstand in der politischen Opposition zu brechen – nicht nur der von islamischen Kämpfern.”
Vetternpolitik und Misstrauen gegen die Elite
Laut der Bundeszentrale für politische Bildung beruht das politische System Tadschikistans im Wesentlichen auf personengebundenen Loyalitäten, die je nach machtpolitischen und ökonomischen Erwägungen geknüpft und aufgekündigt werden.
Alle Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen sind mit Vertrauten und Familienangehörigen des Präsidenten besetzt. Formelle – d.h. institutionelle und von persönlichen Beziehungen unabhängige – Strukturen existieren nur auf dem Papier.
Die Erfahrung mit der Sowjetherrschaft, dem Bürgerkrieg und dem System Rachmon sowie die mangelnden wirtschaftlichen Perspektiven und die grassierende Korruption führen bei großen Teilen der Bevölkerung zu tiefem Misstrauen gegenüber den politischen Eliten und zu Apathie gegenüber politischen Prozessen.
“Organisierte und systematisierte Korruption regiert und ist das größte Hindernis für die Hoffnung einer zu realisierenden Reform”, sagt Abdullajew im Gespräch mit Novastan.org.
Der Präsident ist laut Verfassung Staats- und Regierungsoberhaupt. Er kontrolliert die Exekutive, Legislative und Judikative, ernennt und entlässt die Provinzgouverneure und ist oberster Armeechef. Im Parlament hält seine Partei, die Volksdemokratische Partei Tadschikistans, die für Verfassungsänderungen notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit.
Ende 2015 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das Emomali Rahmon zum „Führer der Nation“ erhebt. Das sichert dem Präsidenten und seiner Familie Sonderrechte:
Lebenslange Immunität, unbegrenzte Wiederwahl und die Senkung des Alters für Präsidentschaftskandidaten von 35 auf 30 Jahre.
Die Reform wurde im Mai 2016 per Referendum in der Verfassung verankert. Zur Abstimmung stand ein Paket von insgesamt 41 Verfassungsänderungen, das angeblich von 94,5% der Stimmberechtigten zu 92% bejaht worden sein soll.
Die Medien
Die meisten Medien Tadschikistans sind nicht unabhängig. Der Druck gegen Journalisten ist groß. Und trotz Zusagen von der Regierung, dass sie ihre restriktive Politik gegen unabhängige Medien lockern wolle, kämpfen unabhängig ausgerichtete Projekte weiterhin mit erheblichen Behinderungen.
Im Oktober 2010 kam es bei einem Konflikt in der Region Garm zu Behinderungen der Presse und einer Sperrung von Websites unabhängiger Nachrichtenagenturen. Anfang 2012 sperrte die Regierung erneut Websites, auf denen regierungskritische Äußerungen publiziert wurden. Auch Facebook und Youtube wurden abgeschaltet.
Auch bei jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzungen in der autonomen Provinz Berg-Badachschan bediente sich die Regierung der Mittel von Nachrichten- und Kommunikationssperren.
In der aktuellen Rangliste von Reporter ohne Grenzen, welche die Lage der Pressefreiheit in 180 Ländern bewertet, rangiert Tadschikistan auf dem 150. Platz.
Internationale Politik
Seit der Unabhängigkeit etablierte Tadschikistan viele neue Partnerschaften auf internationaler Ebene. Die Russische Föderation und die Volksrepublik China sind die wichtigsten außenpolitischen Partner. 2001 schlossen Tadschikistan, Russland, Weißrussland, Kirgistan und Kasachstan einen Sicherheitspakt.
Mit Russland schloss Tadschikistan eine sicherheitspolitische Partnerschaft: ein Vertrag zur Stationierung von derzeit etwa 6.000 russischer Soldaten wurde im Oktober 2012 um weitere 39 Jahre verlängert.
Gleichzeitig zeigt sich Russland eher reserviert; etwa wenn es um die politische Unterstützung für die großen Wasserkraftprojekte Tadschikistans oder um die Sicherheit und den Status der zahlreichen tadschikischen „Gastarbeiter“ geht.
Tadschikistan seinerseits berührt seit 2009 vermehrt russische Empfindlichkeiten: Die Regierung forderte mehr Geld für die Stationierung des russischen Militärs, sie legte ein neues Sprachgesetz vor, das Russisch als Amtssprache außer Kraft setzt, sie schaltete den letzten russischen Fernsehsender RTR Planeta ab und Hetzartikel gegen die russische Führung erscheinen vermehrt in der tadschikischen Presse.
Doch bleibt der Einfluss Russlands nach wie vor überaus stark und sei es nur deshalb, weil es auf Tadschikistan verheerenden wirtschaftlichen Druck ausüben kann.
China ist in den letzten Jahren zu einem immer wichtigeren Wirtschaftspartner in Handel, Investitionen und auch Kreditgeber geworden. Auch auf politischer Ebene und in Fragen der Sicherheit hat sich die Zusammenarbeit in den letzten Jahren intensiviert. China, aber auch Indien, werden immer stärker als Partner mit geopolitischem Gewicht wahrgenommen.
Es bestehen auch gute Beziehungen zu den USA, der EU sowie ihren Mitgliedsstaaten, dem Iran und Katar. Letzterer ist ein wichtiger Investor.
Allerdings verschlechterten sich nach der Unabhängigkeit die usbekisch-tadschikischen Beziehungen. Usbekistan verminte ganze Grenzabschnitte und behinderte den Reise- und Güterverkehr. Auch Querelen um Strom- und Gaslieferungen sowie um die Nutzung der Wasserreserven in Rogun belasten das Verhältnis zum westlichen Nachbarn.
Nach den 25 Jahren der Unabhängigkeit von der Sowjetunion hat das Land also viel erlebt. Es ist schwierig einzuschätzen, ob sich die Lage verbessert oder verschlechtert hat.
Doch unabhängig davon füllten die Jubiläumsfeiern heute die Straßen des Landes. Stolz feierte man die eigenen Traditionen und die weiter als nur ein viertel Jahrhundert zurückreichende bunte tadschikische Kultur.
Alin Kor
Autorin und Redakteurin
Redaktion:
Gregor Bauer
Chefredakteur