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Nur-Sultan ohne Nazarbaev: Gründe und Folgen der Krise in Kasachstan

Die Proteste in Kasachstan haben die Mängel des bestehenden Modells gezeigt. Dieses hat zur Häufung der Unzufriedenheit von Millionen Menschen geführt, die bei der Aufteilung der Ressourcen außen vor gelassen wurden. Aber das Modell ist so tief in der Struktur der Wirtschaft und des politischen Lebens verwurzelt, dass es für den Präsidenten kaum zu ändern ist, auch wenn er es gerne möchte. Folgende Analyse des Moskauer Carnegie Center übersetzen wir mit freundlicher Erlaubnis der Autoren.

Akorda
Die Präsidentenverwaltung Akorda in Nur-Sultan, Kasachstan

Die Proteste in Kasachstan haben die Mängel des bestehenden Modells gezeigt. Dieses hat zur Häufung der Unzufriedenheit von Millionen Menschen geführt, die bei der Aufteilung der Ressourcen außen vor gelassen wurden. Aber das Modell ist so tief in der Struktur der Wirtschaft und des politischen Lebens verwurzelt, dass es für den Präsidenten kaum zu ändern ist, auch wenn er es gerne möchte. Folgende Analyse des Moskauer Carnegie Center übersetzen wir mit freundlicher Erlaubnis der Autoren.

Im vergangenen Jahr noch galt Kasachstan als fortschrittliche Autokratie, ein Modell für andere Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Das kasachische Format des Machttransits stieß in Moskau auf reges Interesse. Doch in den ersten Tagen des Jahres 2022 änderte sich alles: Mit massiven Unruhen konfrontiert, den stärksten seit der Unabhängigkeit, war das herrschende Regime gezwungen, die Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), also Russland, um Hilfe zu ersuchen. Im Chaos der Ereignisse ist es schwierig, wichtige Details zu erkennen, aber das Wichtigste scheint klar: Die Ära von Nursultan Nazarbaev in Kasachstan ist vorbei.

Gas als Funke

Die Proteste begannen mit Forderungen, die weit von der Politik entfernt waren. In den ersten Tagen des Jahres 2022 gingen im Westen Kasachstans Menschen in Jańaózen (vor 10 Jahren, im Dezember 2011, unterdrückten die Behörden dort gewaltsam die Unruhen der Ölarbeiter) und anderen Städten des Gebiets Mańģystaý auf die Straße und forderten niedrigere Gaspreise. Seit dem Jahreswechsel haben sich die Gaspreise aufgrund von einer Liberalisierung der Preise durch die Regierung verdoppelt.

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Gas ist ein heikles Thema in Westkasachstan, wo mehr als 90 Prozent der Fahrzeuge mit Flüssiggas betrieben werden und 70 Prozent der Haushalte damit kochen. Dass das Land von einer Treibstoffkrise bedroht ist, war schon vor den Protesten klar; im Sommer 2021 erwähnte der Präsident Qasym-Jomart Toqaev das Problem bereits und wies die Regierungsstellen an, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Am 3. Januar breiteten sich die Proteste innerhalb eines Tages mit Hilfe der sozialen Netzwerke vom Westen auf den Rest des Landes aus. Auch das war vorhersehbar – so begannen die Anti-China-Proteste im Herbst 2019 in den Grenzgebieten zu China, breiteten sich aber schnell im ganzen Land aus, wobei sich zu den ursprünglichen Parolen auch bald politische Forderungen gesellten. Die Gasunruhen im traditionell turbulenten Gebiet Mańģystaý waren also nur der Auslöser für eine landesweite Explosion der Unzufriedenheit.

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Der Hauptgrund für diese Proteste ist, dass sich in den letzten zwei Jahren die finanzielle Lage eines großen Teils der kasachstanischen Gesellschaft verschlechtert hat. Ein Blick auf die offiziellen Inflationszahlen: 2020 betrug sie 7,5 Prozent und 2021 hat sie bereits 8,9 Prozent erreicht. Die Lebensmittelinflation ist sogar noch höher: 11,3 Prozent im Jahr 2020 und 10,9 Prozent in den ersten 11 Monaten des vergangenen Jahres. Auch das Volumen der von Privatpersonen aufgenommenen Kredite war im Jahr 2020 rekordverdächtig: Im Vergleich zum Vorpandemiejahr 2019 stieg der von der Bevölkerung aufgenommene Kreditbetrag im Jahr 2020 um 12,3 Prozent. Die Pandemie hat den Arbeitsmarkt getroffen. Allein im Jahr 2021 stieg die Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen um 12 Prozent, wie aus einem Eilbericht der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) hervorgeht.

Binnenmigrant:innen – hauptsächlich junge Männer (das Durchschnittsalter der kasachstanischen Bevölkerung liegt unter 32 Jahren) aus den Provinzen, die in den Großstädten arbeiten – geht es am schlechtesten. Viele von ihnen haben durch die harten Lockdowns einen erheblichen Teil ihres Einkommens verloren. Gleichzeitig sanken die Ölpreise in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die die Möglichkeiten der Regierung, die schwelende Unzufriedenheit mit Geld zu decken, weiter eingrenzte. Das wichtigste Ziel für Binnenmigrant:innen in Kasachstan ist neben der Hauptstadt Nur-Sultan die südliche Großstadt Almaty. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie zum Zentrum der Proteste geworden ist.

Außerdem wurde die Stadt schon früher mit Protesten in Verbindung gebracht: sie zählt viele liberal gesinnte Studierende und weit weniger a priori regimetreue Bürger:innen als in Nur-Sultan, einer Stadt von Beamt:innen, Sicherheitspersonal und Angestellten staatlicher Unternehmen. Zwischen 2018 und Juni 2021 fanden in Kasachstan mehr als 1.300 Protestaktionen statt, die meisten davon in Almaty. Neben den Protesten hat mit dem Zustrom von Neuankömmlingen in die Stadt auch die Kriminalität zugenommen – in zehn Jahren (2007-2017) hat sich die Zahl der in Almaty registrierten Straftaten vervierfacht. Wahrscheinlich erklärt die große Zahl verbitterter junger Männer, die wenig zu verlieren haben, die schnelle Radikalisierung der Proteste und den Übergang zur Gewalt.

Während sich Präsident Toqaev an die Demonstrierenden in Jańaózen wandte und versprach, ihre Probleme zu lösen, nahmen die Spannungen in Almaty zu. Es kam zu Scharmützeln zwischen den Sicherheitskräften und der Menge, und überall in der Stadt tauchten Plünderer auf – offenbar überwiegend arme und wütende junge Zugewanderte. Die weiteren Entwicklungen waren schwer zu verfolgen – die Behörden unterbrachen regelmäßig die Internet- und Mobilfunkverbindungen im ganzen Land, wie die Mobilfunkbetreiber schrieben, „aus Gründen der Terrorismusprävention“.

Unterdessen plünderten Menschenmengen in Almaty Waffengeschäfte und Supermärkte, knackten Geldautomaten, steckten Autos in Brand und beschlagnahmten gepanzerte Militärfahrzeuge. Ein Mob stürmte das Akimat (die Lokalverwaltung), die Staatsanwaltschaft, Fernsehstudios und andere Einrichtungen (von denen viele inzwischen geplündert, verwüstet und niedergebrannt wurden). Auch der Flughafen von Almaty wurde für einige Stunden besetzt. Radikale waren in der Minderheit – die meisten Demonstrierenden versuchten, Gewalt zu verhindern (nicht nur in Almaty, sondern auch in anderen Städten). Es waren jedoch die Radikalen, die das Gesicht des Protests wurden, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass sie Schusswaffen in den Händen hielten. In den sozialen Netzwerken gibt es zahlreiche Videos, auf denen Maschinenpistolen buchstäblich aus dem Kofferraum eines Autos an Demonstranten verteilt werden. So ist auch von Dutzenden Todesopfern die Rede. Präsident Toqaev behauptet, die Radikalen seien aus dem Ausland finanziert worden, macht aber keine konkreten Länder dafür verantwortlich.

Bereits am 6. Januar wurde eine Untersuchungskommission zu den aktuellen Ereignissen angekündigt, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie eine objektive Antwort auf die Frage geben kann, ob die Proteste völlig spontan waren oder ob sie intern oder extern organisiert wurden. In seiner Ansprache an die Nation am 7. Januar nahm der Präsident die Schlussfolgerungen der Untersuchung vorweg und gab die Schuld an den angeblich gut koordinierten Aktionen einer einheitlichen Kommandozentrale und ausländischen Kräften. Der Tonfall seiner Rede weist darauf hin, dass die Schlussfolgerungen der Kommission dem Regime oder vielmehr Toqaev selbst, dessen Rolle im  Machtsystem Kasachstans sich in dieser Woche radikal verändert hat, gelegen kommen werden.

Das geplatzte Tandem

Die Lage in Kasachstan kann sich immer noch in verschiedene Richtungen entwickeln, aber bisher sieht es so aus, als ob Präsident Toqaev am meisten von der aktuellen Krise profitiere. Bis vor wenigen Tagen war er nur ein Juniormitglied des Tandems, in dem der erste Präsident Nursultan Nazarbaev, 81, der unangefochtene Führer war. Der 68-jährige Toqaev steht seit 2019 an der Spitze der formalen Machtpyramide. Dies ist das Ergebnis der kasachischen „Nachfolge“-Operation, die Nazarbaev kurz nach dem Tod des Präsidenten im benachbarten Usbekistan, Islom Karimov, im Jahr 2016 eingeleitet hatte. Nachdem er aus erster Hand erfahren hatte, welche Folgen der plötzliche Tod des autoritären Führers für sein Erbe und seine Familie hatte (eine Tochter, Gulnora Karimova, die unter ihrem Vater verhaftet wurde, verbüßt eine immer längere Haftstrafe; eine andere Tochter, Lola, und ihr Ehemann haben sich aller wichtigen Vermögenswerte in Usbekistan entledigt und kehren nicht dorthin zurück), begann Nazarbaev, eine kontrollierte Machtübergabe vorzubereiten.

Der erste Schritt war die Ernennung von Kárim Másimov zum Leiter des Nationalen Sicherheitskomitees (KNB). Másimov war das vertrauenswürdigste und kompetenteste Mitglied des Präsidententeams und hatte zuvor viele Jahre lang die Regierung und die Präsidialverwaltung geleitet. Trotz des Vertrauens von Nazarbaev konnte Másimov selbst nicht für die Nachfolge in Betracht gezogen werden, da die öffentliche Meinung in Kasachstan davon überzeugt ist, dass er Uigure und nicht zu 100 Prozent Kasache ist. Dies machte ihn zu einem idealen Kandidaten für die Rolle des Aufsehers im Transit an der Spitze des KNB, dem mächtigsten Geheimdienst des Landes. Nach langem Zögern wählte Nazarbaev Toqaev, einen bereits älteren Karrierediplomaten, zu seinem Nachfolger. Toqaev, der ebenfalls sehr loyal und intelligent war, hatte viele Jahre nicht in Kasachstan verbracht und verfügte daher über kein eigenes Team an der Macht, das Nazarbaev gefährlich werden konnte.

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Nachdem er die Nation mit seinem Rücktritt als Präsident im Jahr 2019 überraschte, behielt Nazarbaev sowohl formelle als auch informelle Machtbefugnisse in seinen Händen. Das Gesetz über den Status des ersten Präsidenten garantierte ihm persönliche Sicherheit, und der Vorsitz im Sicherheitsrat verlieh ihm enorme Befugnisse – tatsächlich konnte Nazarbaev nicht nur den strategischen Kurs bestimmen, sondern auch gegen viele Entscheidungen seines Nachfolgers sein Veto einlegen. Ergänzt wurde diese Struktur durch Másimov an der Spitze des KNB und eine Reihe anderer von Nazarbaev nominierter Personen, die in Schlüsselpositionen der Macht verblieben. Das Tandem arbeitete ohne für außenstehende Beobachter erkennbare Krisen.

Allerdings haben Insider wachsende Spannungen zwischen dem Präsidentensitz Aqorda, wo sich Präsident Toqaev und seine Regierung niedergelassen haben, und der Nazarbaev-Bibliothek festgestellt, wo der Elbasy („Führer der Nation“, ein offizieller Titel des Ersten Präsidenten, Anm. d. Ü.) mit seinen engsten Mitarbeitern eingezogen ist. Die aktuellen Proteste haben die Gleichung grundlegend verändert. Innerhalb weniger Tage brach Präsident Toqaev die tragenden Säulen der Doppelregierung. Zunächst wurde die Regierung von Asqar Mamin, einem der Schwergewichte der Ära Nazarbaev, abgesetzt. Sein Rücktritt war in Kasachstan schon lange gefordert worden, doch Nazarbaev wehrte sich gegen den Abgang seines Schützlings.

Dann übernahm Toqaev selbst den Vorsitz im Sicherheitsrat und erklärte in einer Dringlichkeitsansprache an die Nation beiläufig: „Als Staatschef und von nun an als Vorsitzender des Sicherheitsrates beabsichtige ich, so hart wie möglich zu handeln“. Ebenfalls am 5. Januar wurde Másimov von seinem Posten entlassen, was dem Entwurf des Tandems den Todesstoß versetzte. Neuer KNB-Vorsitzender wurde Ermek Sagimbaev, der bis zum vergangenen Sommer den Sicherheitsdienst von Präsident Toqaev geleitet hatte. Nazarbaevs Neffe Samat Ábish, einflussreicher stellvertretender Leiter des KNB, wurde ebenfalls entlassen. Nach der Entlassung von Schlüsselfiguren bringt Toqaev auch weitere von Nazarbaev eingesetzte Kader um ihre Posten.

Qairat Kelimbetov, der Vorsitzende der Agentur für strategische Planung und Reformen, der in der Vergangenheit die Samruk-Kazyna-Stiftung, die Präsidialverwaltung und die Zentralbank leitete und sich in den letzten Jahren für die Verwirklichung von Nazarbaevs Traum vom Aufbau eines kasachischen Singapur einsetzte, wurde am 6. Januar entlassen. Des weiteren haben mehrere Privatjets Kasachstan in den vergangenen Tagen verlassen. Der ehemalige Präsident selbst hat sich bislang nicht in der Öffentlichkeit gezeigt; zuletzt wurde er am 28. Dezember in St. Petersburg bei einem Treffen mit Wladimir Putin gesehen, wo Nazarbaev als Ehrenvorsitzender der Euraischen Wirtschaftsunion (EAWU) zu Besuch war.

Die Tatsache, dass Toqaev am Ende der Hauptnutznießer der Krise sein könnte, bedeutet jedoch nicht, dass er sie selbst inszeniert hat. Vielmehr nutzte der Präsident die plötzliche Chance, die Macht in seinen Händen zu konsolidieren. Außerdem hat Toqaev die Elemente der Nazarbaev-Ära beseitigt, die sowohl das herrschende Regime als auch den Staat in den Abgrund ziehen könnten. Eine Bestätigung dafür, dass die gegenwärtige Krise für die Behörden überraschend kam, war Toqaevs Entscheidung, seine Verbündeten aus der OVKS, vor allem russische Sicherheitskräfte, heranzuziehen.

Neues Kasachstan

Die kasachstanischen Behörden waren nicht in der Lage, die Unruhen in den Großstädten aus eigener Kraft zu stoppen, und schoben die Schuld auf Terroristen und Radikale, die von „externen Kräften“ ausgebildet wurden. Dies ermöglichte es Toqaev, die OVKS um Hilfe zu bitten, und in der Nacht zum 6. Januar stimmte die Organisation zu. Innerhalb weniger Stunden trafen die ersten Flüge mit russischen, belarussischen, tadschikischen und armenischen Truppen in Kasachstan ein.

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Die Inanspruchnahme externer Hilfe zur Lösung eines im Wesentlichen internen Konflikts birgt große Risiken. Die nationalistischen Gefühle in der kasachischen Gesellschaft werden von Jahr zu Jahr stärker. Die Gegner des Präsidenten könnten die Einladung des russischen Militärs als einen Versuch Toqaevs darstellen, sein Regime auf die Waage der Besatzer zu stellen. Ähnliche Kommentare sind bereits in Kasachstan und in der kasachischen Diaspora in Russland zu hören. Man kann nur spekulieren, was genau Toqaev zu einem solch riskanten Schritt veranlasst hat. Nachdem die Präsidentenverwaltung die Bilder von demoralisierten Militär- und Polizeibeamten gesehen hat, zweifelte sie vielleicht daran, dass sie über genügend Loyalisten verfügt, um Ordnung wiederherzustellen – insbesondere während bei einem Kommandowechsel in den Sicherheitsdiensten.

Vor diesem Hintergrund erschien es weniger riskant, die OVKS um Hilfe zu bitten, als die Kontrolle über Almaty und andere Großstädte zu verlieren. Die kasachstanischen Sicherheitskräfte scheinen die Proteste nun selbst in die Hand zu nehmen. In diesen Tagen hat sich die Menge der Demonstrierenden merklich gelichtet – aus Angst vor Gewalt sind die Menschen in ihre Häuser geflüchtet, und nur wirklich verzweifelte Schläger sind auf der Straße geblieben. Für die Sicherheitskräfte ist es technisch und psychologisch viel einfacher, gegen eine kleinere Anzahl bewaffneter Demonstranten vorzugehen als gegen eine Menge unbewaffneter Frauen und Jugendlicher. Bereits am Abend des 5. Januar hatten die Behörden wichtige Orte im ganzen Land zurückerobert und führten punktuelle „Säuberungsaktionen“ in Almaty und anderen wichtigen Protestzentren durch.

Wäre die Entscheidung, sich an die OVKS zu wenden, etwas später getroffen worden, wäre sie womöglich komplett entfallen. Wenn sich der Trend vom 6. Januar durchsetzt und die lokalen Sicherheitskräfte mit minimaler Hilfe ihrer OVKS-Kollegen die Kontrolle über das Land zurückgewinnen, besteht kaum Zweifel daran, dass russische und andere Militärangehörige schnell nach Hause zurückkehren werden, so wie es ihnen vor Beginn der Operation gesagt wurde. Immerhin erklärte Toqaev bereits am 7. Januar, dass die OVKS-Militärs die Hilfsfunktionen der Bewachung und Deckung übernehmen und gegen die „Banditen und Terroristen“ ausschließlich gemeinsam mit lokalen Kadern vorgehen würden. In diesem Szenario würden sowohl Präsident Toqaev als auch Moskau profitieren. Der kasachstanische Staatschef wird den Menschen, der Elite, den Nachbarn und der Welt zeigen, dass er pragmatische Beziehungen zum Kreml aufbauen kann, die es ihm ermöglichen, russische Vollstrecker nicht nur zu Hilfe zu holen, sondern sie später auch wieder zurückzuschicken.

Moskau würde mehrere Probleme auf einmal lösen. Erstens wird sie ein befreundetes Regime in Kasachstan aufrechterhalten, und dies ist eines der grundlegenden Interessen der russischen Außenpolitik, für das alle Mittel gut sind. Wenn Russland dafür nicht mit dem Leben eines einzigen russischen Soldaten bezahlen muss, umso besser. Zweitens wird sie die Glaubwürdigkeit der OVKS erhöhen, die durch die jüngsten Ereignisse in Kirgistan und in Berg-Karabach erschüttert wurde. Bis vor kurzem dachten viele, dass die Organisation und ihre kollektiven schnellen Eingreiftruppen nur auf dem Papier existieren, nun zeigen sie sich aber in Aktion. Der formell multilaterale Charakter der Operation scheint sogar vorteilhafter, als wenn das russische Militär allein handeln müsste. Drittens werden eine wirksame Unterstützung durch die Verbündeten und ein rascher Rückzug die Position Russlands in der neuen Generation der kasachischen Bürokratie stärken, auf die sich Präsident Toqaev zunehmend verlassen wird.

Viele der aktuellen Beamten unter 50 Jahren sind noch in einer postsowjetischen Kultur aufgewachsen, wurden aber bereits im Westen oder in Asien ausgebildet und betrachten daher Moskau nicht als einzigen vorrangigen Partner. Schließlich wird eine erfolgreiche Operation zeigen, dass nur Russland die Rolle des externen Sicherheitsgaranten in Zentralasien spielen kann – und weder Besuche amerikanischer Generäle in der Region noch chinesische Außenposten in den hintersten Winkeln Tadschikistans können an dieser Realität etwas ändern.

Was Kasachstan selbst betrifft, so ist das wichtigste Ergebnis der aktuellen Ereignisse – wie auch immer sie verlaufen – das Ende der langen Ära Nazarbaev. Das zwiespältige Erbe des Ersten Präsidenten, der das Land seit der Sowjetzeit geführt und das heutige Modell über mehr als 30 Jahre aufgebaut hat, wird noch von Historiker:innen untersucht. Kurzfristig sind zwei Elemente in diesem Erbe wichtig. Vor allem ermöglichte das von Nazarbaev errichtete System die Aufrechterhaltung einer insgesamt monolithischen Elite – mit unvermeidlichen Macht- und Geldkämpfen. In der Zeit von Nazarbaev gab es Konflikte, und zwar durchaus ernste: der ehemalige Schwiegersohn des Präsidenten, Rahat Áliev, geriet mit seinem Schwiegervater in Streit und starb in einer Wiener Gefängniszelle unter mysteriösen Umständen.

Doch ein Krieg aller gegen alle scheint jetzt weniger wahrscheinlich als ein eher reibungsloser Übergang von einem System mit Nazarbaev im Zentrum zu einem, das sich um Toqaev orientiert. Schließlich haben fast alle derzeitigen Beamten im Rang eines stellvertretenden Ministers und darüber ihren Weg an die Macht unter den Elbasy begonnen. Toqaevs Rede vom 7. Januar enthielt zwar einige Vorwürfe an die Sicherheitsdienste, die einen künftigen Angriff auf Másimov und Ábish ankündigen könnten – über ihr Schicksal nach ihrer Entlassung ist noch nichts bekannt. Der Präsident beschuldigte die Leiter des Sicherheitsblocks, ohne Namen zu nennen, Vorbereitungen für einen angeblich geplanten militanten Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung verpasst zu haben.

Moskau könnte sich jedoch einer Auflösung des inneren Nazarbaev-Kreises widersetzen, da dies einen schlechten Präzedenzfall für postsowjetische Autokratien darstellen würde. Toqaev wird auch über die Rolle von Präzedenzfällen nachdenken müssen – im Jahr 2029, wenn seine zweite Amtszeit enden würde, wird der Präsident bereits 75 Jahre alt sein. Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang könnte das herzliche persönliche Verhältnis von Putin zu Nazarbaev und zu Másimov sein (er war Ministerpräsident von Kasachstan zu einer Zeit, als Putin unter Dmitri Medwedew Ministerpräsident Russlands war und spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung der EAWU).

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Zweitens haben die Proteste gezeigt, dass das in Kasachstan etablierte Modell voller Mängel ist, die dazu führen, dass sich die Unzufriedenheit von Millionen von Menschen – denjenigen, die sich des Rohstoffkuchens beraubt sehen – aufstaut. Aber das Modell ist so tief in der Struktur der Wirtschaft und des politischen Lebens verwurzelt, dass es für den neuen Führer kaum zu ändern ist, selbst wenn er es plötzlich gerne tun würde. Zumal die neue kasachstanische Führung wohl kaum einen solchen Wunsch hegen wird: Eine starke Zentralgewalt gilt als tragende Säule des Landes. Deren Auflösung könnte zu einer Umwandlung in ein Analogon des benachbarten Kirgistans und zum Zusammenbruch des Landes führen.

Wie die Erfahrung im postsowjetischen Raum bisher zeigen, führen Proteste wie die in Kasachstan nicht zu Reformen, sondern zu einer Verhärtung der Regime – sowohl im riesigen Russland mit seinem imperialen Erbe als auch in Belarus, das nahe an Europa liegt. Toqaev hat bereits versprochen, nicht nur Terroristen, sondern auch die „Anstifter“ von Unruhen unter liberalen Aktivisten und den noch freien Medien vor Gericht zu stellen.

Aleksandr Gabujew und Temur Umarow Carnegie Center, Moscow

Aus dem Russischen von Florian Coppenrath

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